Ein leichtfüßiger Mensch (Alles, was man sagen kann, könne man auch beiläufig
sagen, das war Elfriede Gerstls Motto, also: leicht. Leicht gesagt!) stirbt
mit schweren Füßen. Jemand, der immer nur wegfliegen wollte von einem
Ast am Baum, wird auf einmal am Boden festgehalten wie mit einem Bleibandabschluß,
mit Beinen, in denen das Wasser so schwer ruht, daß es sie hinunterzieht.
Der leichteste Mensch wird plötzlich der schwerste. „traum vom luft in
der luft sein“ steht in einem dieser Gedichte. Eine Frau, die in der Luft
gehen konnte, Zentimeter über dem Boden, die sich in die Luft erhoben
hat, wird plötzlich, aber auf ganz andre Weise, weil sie nicht mehr anders
kann, wieder ganz leicht, löst sich in Bewegung auf. Bleibt dennoch da.
Schon ein Engel? Oder nur im Status eines Engels, denn vor dem Engelsein
wird noch zurückgeschreckt. Eine Frau, die in der Luft gehen konnte,
ist immer auch durch die Straßen gelaufen. In der Wiener Innenstadt kannten
sie die meisten vom Sehen. Aber da haben die Füße noch den Boden gefunden,
um sich von dort abzustoßen. Jetzt erhebt sich die Frau nicht mehr. Sie
kommt woanders vor. Wir haben es noch erwarten können, also hätte es nicht
einzutreten brauchen. Wer für den Tod nicht anhalten kann, für den hält
er an, so etwa sagt es Emily Dickinson in einem ihrer Gedichte („Because
I could not stop for Death, He kindly stopped for me“). Er hält gnädig,
freundlich an, nicht einfach an, er hält um einen an, als ginge es zu
einer Hochzeit oder Verlobung.
Elfriede Gerstl war eine Skeptikerin, die den Worten mehr vertraut hat
als sonst etwas. Ich kann das nicht verstehen, denn ich vertraue auch
Worten nicht, aber Elfriedes Worte waren Möglichkeiten, in dem Sinn, daß
sie auch andre hätte nehmen können, aber niemals andre genommen hätte,
nachdem sie die richtigen gefunden hatte. Das ist das Wesen der Gedichte,
die „nur von wenigen so ernstgenommen (werden) / wie ihre erwachsenen
verwandten / die breitspurigen romane“. Ich trau mich gar nicht, hier
und da, derzeit halt grade hier, etwas hinzuschreiben, denn in dem Augenblick,
da es hier steht, ist es schon zuviel, zu stark, zu brutal, zu deutlich,
ausgesprochen heftig vielleicht, so ausgesprochen dürfte es auch wieder
nicht sein. Sie, Elfriede, hätte es so nicht gewollt, wie ich es hier
schreibe, aber sie hätte es freundlich akzeptiert, wenn man es anders
nicht gekonnt hätte. Ich weiß aber nicht, ob ich auch anders könnte. Nur
in den Verbänden der Sätze schleppen sich die Worte dahin, das Blut tropft
überall heraus, es kommt drauf an, wie man sie wendet und ob man etwas
aufreißt dabei. Die Worte können ein Hebel werden, wenn man (das ist wie
mit einem Stab, sagt Wittgenstein) diesen Stab im Gebrauch dazu macht.
Wozu? Welcher Wille hat diese zarte Person dazu gebracht, sich zu einem
Werkzeug, zu einem Hebel zu machen, der Worte aus dem Nichts herausstemmen
konnte? Ein Moment kann gleich stark sein wie irgendwas, sagt die Dichterin,
aber im Moment ist die Müdigkeit stärker, sie ist Herrin über die Glieder.
Die Müdigkeit sagt im Bewußtsein ihrer Herrschaft: ich. Wenn ich will
lass ich sie gehen oder zwinge sie nieder. So jemand wie die Müdigkeit
darf mit Recht ICH sagen. Wie schreibt man ein Gedicht? Indem man der
Müdigkeit, der Trägheit der Worte den eigenen Willen aufzwingt? In der
Partnerschaft der körperlichen Schwäche, von der die meisten dieser Gedichte
handeln? Schwäche, Krankheit, Anstrengung, unter die Dusche zu gehen,
zu kochen, die Zeitung hereinzuholen, sie vielleicht aufs Klo mitzunehmen
(ich muß das zitieren, denn diese Gedichte haben eine solche Konkretion,
genau das muß die Hebelwirkung der Sprache sein; diese Gedichte stemmen
nichts, aber alles kommt heraus, wenn und wo die Dichterin es will). Es
geschehe mein Wille, sagt sie, aber da ist kein Wille mehr, und es geschieht
trotzdem, was geschieht da, damit es oder etwas andres geschieht? Es ist
gleichgültig, von welcher Art ein Wissen beschaffen ist, solange die Dichterin
in irgendeinem Sinn davon reden kann, ein Wissen, das sie dann in die
Zeit hängt, in der Zeit ausbreitet wie ein nasses Leintuch, das sich sofort
im Wind zu bewegen beginnt, zuerst träge, solang es noch naß ist, dann
leichter, im Trocknen. Einen Moment schaut es so aus, als könnte was runterfallen.
Aber die Leine ist gut verortet, sie ist gespannt und reißt nicht, ja,
die Pfosten halten. Bei Elfriede Gerstl sind sie aus Luft, aber man weiß,
sie müssen da sein, denn da hängt etwas an ihnen, das in irgendeinem Sinne
von sich reden macht. Es wird gezeigt, wie es gemacht wird, damit es spricht.
Und genau so wie es gemacht wird, muß es auch gemacht werden. So muß es
gemacht worden sein. So macht man das. Man tut einen Handgriff (Wittgenstein,
schon wieder – er scheint mir aber besonders gut zur Dichtung Gerstls
zu passen – vergleicht die Worte mit den Handgriffen, die man zum Beispiel
an einem Stellwerk tut, um etwas in Bewegung zu setzen, also die Weichen
etc.), und da geschieht etwas Maschinelles, das Gedicht ist gedacht, bevor
man einen Handgriff macht, und doch ist es hergestellt worden, weil eins
ins andre greift. Diese Gedichte sind sehr konkret, es geschieht etwas,
es wird etwas beobachtet, etwas wird niedergeschrieben, nichts wird behauptet,
aber alles behauptet sich auf einem unsichtbaren Seil, das der Wäscheleine
in gewisser Weise entspricht. Alle Handgriffe werden ergriffen, alle,
die grad da sind, und das sind die Wörter der Sprache, die ergriffen werden
müssen, damit etwas entsteht, ob am Boden oder in der Luft. Und auch wenn
es in der Luft geschieht, ist bei Elfriede Gerstl, dieser zierlichen,
schwerelosen Frau, etwas sehr Irdisches, eben Maschinelles am Werk. Diese
Gedichte sind Griffe nach etwas, Handgriffe, die aber jeweils zu etwas
ganz anderem führen, als man (aber nicht sie! Denn die Dichterin hat sie
voraus-gedacht) gedacht hätte. Einer der Griffe gehört zu einer Kurbel,
die aber dauernd verstellt werden kann (keine Sicherheit, nirgends!),
ein andrer wieder zu einem Schalter, und auch der kann entweder umgelegt
oder aufgestellt werden. Dort wird nach einem andren Schalter gegriffen,
der die verschiedensten Stellungen einnehmen kann, ein andrer wiederum
kann nur auf- und abbewegt werden (auch ein Wittgenstein’sches Beispiel),
aber alle diese Handgriffe können ergriffen und mit der Hand angefaßt,
auch angehalten werden, und das Ergebnis ist bei Gerstl immer das Gegenteil
von ergreifend. Vielleicht ist es das, worum es bei ihr geht, das Gegenteil
von Ergriffenheit (auch wenn vieles eben angegriffen wird, nein: angefaßt)
und vielleicht fällt mir deshalb Wittgenstein immer wieder zu Elfriede
Gerstl ein: Sie greift alles an, und was sie da angreift, sind Haltegriffe,
Kurbeln, Schalter für dieses fragile Gebilde Gedicht (von dessen Fragilität
sie immer eine Ahnung hatte, denn ihre Existenz war lange, fast immer,
eine sehr gefährdete, bedrohte, im wahrsten Sinn des Wortes. Und dann
die Krankheit, die schon viele Jahre in ihr gewütet haben muß, von der
sie gesprochen hat, zu vielen, eine Mechanik in ihrem Körper, die aber
noch keinen Handgriff und keinen Namen hatte, an denen man sie hätte ergreifen
können. Und dieser Griff hätte ja doch nur ins Nichts geführt), das ihr
entsteht, nein: das sie macht, herstellt und manchmal sogar gesteht („manchmal
ist der schmerz / mit von der partie / wir brauchen ihn nicht“). Diese
Gedichte sind – so sehe ich es – aus Griffen hervorgegangen, aus Griffen,
aber nicht in das Gestänge der Sprache, Elfriede wäre zu realistisch und
zu nüchtern gewesen, um je in irgendein Gestänge zu greifen, wenn es grade
in Bewegung ist, da könnte man sich ja wehtun!, nein, diese fragilen Gestänge
haben mit Gedichten wie diesen etwas in Bewegung gesetzt, das all die
Handgriffe, Kurbeln, Hilfsmittel nur verschleiert hat (obwohl die Dichterin
genau gezeigt hat: sie sind da, so wird das gemacht! Bevor wir zur Operation
schreiten, decken wir die Instrumente kurz auf, damit Sie sehen, wir haben
welche), und nur noch die Bewegung, wie aus dem Nichts, hat am Ende gezählt.
„horch ich halt ins gerät“, schreibt sie, „hoffentlich ruft niemand an
/ gleich steh ich auf / und geh unter die dusche“. Fertig ist die Welt,
die vielleicht nur eine Duschkabine ist, auch wenn man sie, egal welche
von beiden, Welt oder Dusche, in all ihren Dimensionen noch gar nicht
abschätzen kann. Wie sie gemacht worden ist, die Welt, sieht man nicht,
aber man weiß, sie ist gemacht worden wie dieses Gedicht und das andre
dort drüben auch. Die Anwendung eines Wortes geht nicht in einem Moment
vor sich, so wenig, wie die eines Hebels, aber der Moment kommt, er kommt,
er kommt, er ist da, und die zarte, aber entschlossene Hand, die die Maschinerie
in Bewegung gesetzt hat, sinkt hinab. Es macht so müde, daß die Worte
hintereinandergehen müssen, daß der Schalter immer nur eine einzige Stellung
zur selben Zeit einnehmen kann, auch wenn er viele andre Möglichkeiten
der Feststellung hätte; so werden die Wörter der Sprache eingestellt,
und die Wörter entsprechen den Griffen nach etwas, das die Sprache dann
hergibt. Als würde man einen Spender betätigen oder einen Kaugummiautomaten.
Es muß alles gemacht werden, das ist Arbeit, und Gerstls Gedichte zeigen
zwar nicht, wie sie gemacht worden sind, aber man weiß, daß es einen Herstellungsprozeß
gegeben hat, weil sie ihn zeigen, die Gedichte diesen Prozeß, ihn zeigen
als etwas, das es gegeben haben muß, sonst wäre nichts vorhanden, und
die Wörter der Sprache entsprechen den jeweiligen Handgriffen. Ich habe
solche Angst, daß es jetzt eine Hand weniger gibt, die sie auswählt, die
Wörter. Und irgendwo hinstellt. Danke vielmals für alles, sagt Gert Jonke
nach dem Tod seines Kindes, das als Säugling gestorben ist. Danke an ein
Wesen, das noch kaum Bewußtsein von sich hatte. Danke von mir an ein Wesen,
das alles Bewußtsein der Welt hatte, weil es Worte aneinandergereiht hat,
als eine Arbeit wie jede Arbeit.