Denken ohne Haltegriffezu Elfriede Gerstls Essays
Das Denken ist nicht eine Erscheinung, die man hat oder nicht. Nichts materialisiert sich vor einem, schön immateriell, im Strahlenkranz und verschwindet wieder, etwas stinkenden Abglanz von seiner Verklärung zurücklassend, weil man den Leuten etwas verklart hat oder halt nicht. Es liegt an einem. Es liegt an jedem. Denken ist eine Umgebung, in der man sich bewegt und aus der man sich den ganzen Krempel holt, aus dem man dann seine Sperrmüll-Einrichtung bastelt und hübsch anordnet. Man kann das alles dann jeden Tag, jeden Monat oder jedes Jahr oder jahrzehntelang gar nicht neu arrangieren, damit man sich selber neu oder wie neu erscheint. Oder jahrzehntelang eben nicht. Man begrüßt sich dann freudig (oder auch nicht), weil man, für die Nachwelt auch noch!, so einen ordentlichen Profit aus seiner Umgebung gezogen hat, daß man aus diesem unordentlichen Gestell hier ein Blumentischerl zusammengenagelt hat und aus diesem alten Stuhl ein Sitzgerät geschustert, das in Wirklichkeit (aus mangelnder Handfertigkeit?) eigentlich ein Katapult geworden ist und einen, kaum sitzt man drauf, sofort wieder rauskippt, auf den Müll, aus dem das Gerät ursprünglich kam. Diese Kippe hin und Kippe her, dieses ausgedrückte Wurfwerk, das einen hinein- und hinauswirft, ist nicht der Spielplatz, wo die Denker (ich spreche hier nicht von Denkerinnen, denn selbst wenn Frauen denken, ist das noch lange kein Grund, es aufzuschreiben oder ihnen zuzuhören. Solange man ihnen angehört, braucht man ihnen nicht zuzuhören. Vielleicht denken sie auch zu leise? Man hört sie jedenfalls kaum) ihre Anlagen durch Fußtritt anlassen und ihre Zitate herholen und, als Darsteller ihrer selbst und auch noch als ihre eigenen Stellvertreter, das heißt als Stellvertreter von Stellvertretern, auftreten lassen. Mein Darsteller heißt Foucault und ein andermal Wittgenstein, und ich lasse ihn auftreten, damit er abtreten und allein mich zurücklassen soll. Was er ursprünglich gesagt hat, der Darsteller, kann er hier lassen, wir passen schon drauf auf, denn es gehört jetzt uns. Ich gebe dem Denker meine ebenfalls mit Müll vollgeräumte Wohnung, und dort kann er dann mich darstellen. Ich kann aber auch ihn darstellen. Das wäre mir sogar noch lieber. Ich als er, das sähe noch besser aus als ich als ich. Was er gedacht hat, das gebe ich für meine Gedanken aus, die Kostüme habe ich schon geschneidert und eben: zusammengeschustert, und jetzt ist er ich und sagt, was ich immer schon sagen wollte. Elfriede Gerstl ist keine Denkerin von dieser Art, und die Weise, die sie singt, ist eine, die nur sie kennt, und wir können gierig sein, uns ihr Denken einzuverleiben, sie führt uns bei der Verfertigung ihrer Gedanken nämlich bei der Hand, noch ein Stück und noch ein Stück, nein, diese Abzweigung nehmen wir jetzt nicht, wir bleiben auf dem Hauptweg; sie braucht die Autoritäten nur, wenn es vernünftig ist, sie einzusetzen ins Eigene, das dann aber wirklich ein Eigenes ist. Sie denkt selber. Sie ist dabei völlig ungeschützt, den Schirm hat sie auch diesmal irgendwo stehen gelassen, die Meister des Denkens haben sich schon längst irgendwo untergestellt, und sie ist also schutzlos, auch wenn sie zitiert. Sie zitiert nicht statt zu denken, sie zitiert, weil sie das fremde Denken an dieser oder jener Stelle als Medizin braucht, nicht um sich und das eigene Denken zu heilen, nicht um sich dahinter zu verstecken, sondern weil es halt an dieser Stelle nötig ist, zur Reparatur des Eigenen sich erst mal in die Krankheit zu flüchten, in den Unterstand. Unterstehen Sie sich, darin wirklich eine Krankheit zu sehen! Es soll durch Zitate nicht etwas geheilt werden, das „einem fehlt", es soll etwas vergrößert werden, damit man es endlich sieht. Sein ist Kranksein. Man kann auch sagen: Jemand „feiert" krank! Das ist dann etwas Angenehmes. Krank zu sein bedarf es wenig. Der Kranke nimmt sich selbst aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus, vom Brett sozusagen, wo er als Spieler aufgestellt ist, und nimmt, als selbstermächtigter Kranker, als Kranker von eigenen Gnaden, eine vielleicht nicht wohlverdiente, aber immerhin verdiente Aus-Zeit. Elfriede Gerstls Essays sind eigenständig nicht in dem Sinn, daß sie schon alleine stehen und gehen können, indem sie den Leser, die Leserin in ein Aufmarschgebiet von Gedanken führen, die man sich hergeholt (oft weit hergeholt!) hat, um das Eigene zu unterstreichen, die eigenen Lücken zu füllen, damit dann andre dafür büßen, die immer nur Bahnhof verstehen, aber den Bahnsteig nicht finden, von wo sie endlich abfahren oder auf den sie abfahren sollen, weil es so toll gedacht worden ist, einfach super, das könnte ich selber nie! Gerstls Denken ist auch nicht das Auskehren, Staubsaugen und Feucht Aufwischen eines geschützten Schrebergartenhäuschens, in dem ein System gelehrt werden könnte, das man auch erst noch selber herstellen muß, genau aus diesem Sperrmüll, den man am Straßenrand aufgeklaubt und mitgenommen hat, nein, dieses Denken ist auch vieles andre nicht, was ich mir jetzt denken könnte, es ist nicht eine fertig gepreßte Weltanschauung, eine Bestätigung der eigenen Auffassung durch gekonntes Applizieren fremder Fassungen, in die dann die eigene Birne partout nicht hineinpassen will. Was Elfriede Gerstl tut und dann aufschreibt, ist einfach, nein, es ist nicht einfach, aber es scheint einfach: Denken. Es ist ein energisches bei der Hand Nehmen und Zeigen, nicht Führen. Noch weniger: anführen. Es ist originäres Denken, das es nicht einmal nötig hat, originell zu sein. Es ist kein Haltegriff, der einen rettet, wenn die Bahn zu schnell in die Kurve geht oder eine Notbremsung durchführt und dann wieder zu jäh anfährt. Ich würde nicht einmal sagen, daß Gerstls Denken ein Fragen wäre, wie oft vom Denken gesagt wird. Das wäre zu kokett, das würde mit der eigenen Ratlosigkeit und Unwissenheit und Wissenslosigkeit kokettieren, geradezu schäkern, es würde das Fragen ausstellen und auch den Stolz darauf, keine Antworten zu wissen. Elfriede Gerstl gibt ja Antworten! Viele! Sie fragt und antwortet. Vernünftig. Ich weiß kein andres Wort dafür. Sie nimmt nicht den Hammer dafür, mein persönlich bevorzugtes und leicht zu bedienendes Arbeitsgerät, bumm, draufhauen und Schluß, mal sehn, was übrigbleibt und wie das jetzt ausschaut, nachdem ich es, leider an der falschen Stelle, eingedepscht habe, und sie nimmt auch nicht die Axt (ich bin schon stolz drauf, wenn ich weiß, wo die stumpfe und wo die scharfe Seite ist!). Man könnte sagen, sie nimmt ein Skalpell und eine Ahle (ich verwende dieses Wort hier, weil es mein Lieblingswort ist, und endlich paßt es auch jemandem! Ich habe lange gesucht, aber wenn das fein filettierende und dabei schwerelose Denken der Elfriede Gerstl wieder verflixt und zugenäht werden muß, damit es ein Ganzes ergibt, dann braucht sie die Ahle, die durchsticht auch härteres Material, die durchsticht sogar Menschenfleisch und Leder, mit einer Nadel käme sie da nicht weit). An ihrem Denken ist nichts Archaisches, sie stellt nicht gleich eine ganze Nation, ein ganzes Volk, unter dem sie weiß Gott selber genug gelitten hat, als jüdisches Kind in einer ständig verdunkelten Wohnungskiste, bei der jederzeit der Boden herausfallen konnte, aber nicht durch einen Zaubertrick, bei dem man sich in einen andren Raum retten hätte können, und wärs nur vorübergehend, da war nur der Abgrund persönlich; Gerstl stellt nicht gleich ein ganzes Zeitalter an den Pranger und gibt ihm dadurch Macht zurück, denn indem man etwas anprangert setzt man es gleichzeitig auch wieder über sich, man setzt es wieder in seine alte Wirkung ein, auch wenn man es kritisiert, sie praktiziert auch kein Verzeihen für das Grauen der Vergangenheit, in der sie selbst fast vergangen wäre, denn sie weiß, daß alles immer wieder, ungerührt, unberührt über einen hinweggeht, ob man es jetzt auf ein Podest stellt, um es anschließend endgültig fallenzulassen, oder ob man es als Drohung hinstellt, daß alles sich wiederholen könnte, nein, sie schweigt aber auch nicht, sie redet und redet gleichzeitig nicht. Sie schreibt. Nicht zu reden heißt nicht schweigen. Und das Schweigen wäre erst recht (und schlecht) nicht ihr Thema. Aber sie redet doch! Und nicht einmal innerlich. Sie sagt es ja. Sie hätte sehr viel zu vergeben und noch mehr zu vergessen, aber sie bleibt von einer luziden, klaren Vernünftigkeit, ohne jedes Pathos, ich könnte da so viel von ihr lernen, könnte ich überhaupt etwas lernen. Die Nichtopfer toben herum und zerren an den Fesseln, die sie nicht haben, wütend darüber, daß sie sie nicht haben. Das ehemalige Opfer Elfriede Gerstl tobt nicht, zerrt nicht, zieht nicht, sie verzieht nicht einmal eine Miene. Sie denkt und sagt es dann. Sie sagt es NICHT nicht, und selbst das Nichtsagen wäre noch nicht schweigen, es wäre vielleicht nur der Verzicht auf ein Verlautbaren, und das Verlautbaren wäre Gerstl ein Greuel. Aber sie sagt es ja! Sie sagt mehr, indem sie immer weniger sagt, als sie sagen könnte. Das ist seltsam positiv, denn eigentlich müßte sie, da sie diese Existenz hatte, gar nichts mehr sagen. Sie sagt es aber, obwohl auch ihr Schweigen ein Sagen wäre. Sie nimmt es auf sich: Erstens, zweitens drittens, und Punkt eins unterteilen wir in a, b, und c, und für die andren Punkte finden wir auch noch Unterordnungen, um es noch präziser zu verdeutlichen. Wir müssen nur noch etwas nachdenken, dann müssen wir nicht schweigen, aber auch das Schweigen der Autorin, das, ungehört, unerhört ja immer mitspricht, ist das beredteste. Sie hat auf das Schweigen verzichtet, indem sie redet, und doch ist es da. Sie redet das Gegenteil von Gerede: Was mir passiert ist, meint sie, gehört nicht hierher, und es gehört daher auch nicht allen, es gehört nur mir. Diese Autorin begreift sehr wohl die Notwendigkeit zu begreifen, aber sie be-greift die Dinge und löst sich gleichzeitig davon, um etwas zu sagen. Nicht um sich umso fester an sie zu binden und möglicherweise in die Gefahr zu geraten, strampelnd dran festzukleben. Sie will gar nicht deutlich gesehen werden, die Denkerin Gerstl, sie denkt, indem sie hinter dem Gedachten ruhig auch verschwindet, wenn auch nicht ruhig, und das Gedachte wird dadurch, da es nicht verschwiegen wird, nur umso deutlicher. Sie verschwindet nicht, weil sie ruhig auch verschwinden könnte, man würde nicht merken, daß sie nicht mehr da ist, nein, sie verschwindet, um das von ihr Gedachte in Ruhe da sein zu lassen, nicht: hinter sich zu lassen. In einer gewissen resignativen Heiterkeit, nicht in diesem Wienerischen „Da kann man halt nix machen", sondern in einem universellen Da kann man Nichts machen, aber ich sage Ihnen trotzdem, was man machen müßte, nein, könnte. Wenn Sie es dann trotzdem nicht tun, kann man auch nichts machen. Aber ich habe es Ihnen immerhin gesagt, obwohl mich das nicht gerade beruhigt. Ich bin sehr beunruhigt. Elfriede Gerstl ist beunruhigt. Sie könnte schweigen und sich behaupten, aber sie spricht und riskiert, sich nicht behaupten zu können, weil sie nichts behauptet. Sie spricht ja! Sie spricht. Und während sie eben ruhig spricht, verschwindet das Archaische, das, was älter ist als alle und alles, und es verschwindet die Notwendigkeit, etwas zu begreifen, denn die Denkerin Gerstl packt selber fest an und räumt es her und räumt es weg. Klar. Da ist eine Blickrichtung, da schauen Sie jetzt einmal hin. Ich erkläre Ihnen nicht, was Sie dort sehen, sehen müssen Sie schon selber, ich zeige Ihnen, was ich sehe. Ich gebe keine Anweisungen. Ich führe herum, ich führe heraus, ich führe ein, ich führe aus. Das eigentliche Philosophieren ist bei ihr ein Gehen und Zeigen. Ein Geben? Wie hätten Sies denn gern? Also Elfriede Gerstl ist eine permanent Gehende und dabei Gebende, die sich nicht aus der Hand gibt, die aber gern die Hand gibt. Ja, Sie können sie ruhig nehmen! Sie können alles nehmen oder es lassen. Nicht mehr, nicht weniger. Sie kann auch schweigen, sie kann wählen, ob sie sprechen oder schweigen will, aber ihr ist bewußt, daß das Auch „Schweigenkönnen" im Heidegger´schen Sinn der Ursprung und Grund der Sprache ist und jede Rede das Schweigen bloß unterbricht. Dieses Unterbrechen wäre aber wiederum nicht negativ zu verstehen. Müßte jedenfalls nicht negativ verstanden werden. Elfriede Gerstl versteht das Verstehen positiver als das Schweigen, das sie aber auch beherrscht. „Darf´s wohl ein bisserl weniger Bevormundung sein", fragt Elfriede Gerstl in einem ihrer in Österreich bekanntesten Aufsätze „Narren und Funktionäre". Schon in einem einzigen Absatz finden sich dann so viele feine, differenzierte Wenn und Abers, daß ich hier zwar gradewegs von der Entfaltung des Wesens der Wahrheit durch die Geschichte des Menschen hindurchmarschieren und dabei ab und zu die Disteln am Wegrand köpfen könnte, aber unmöglich Gerstls fein abgestimmte, eigensinnige, scharfe Differenzierung und Definition des Wortes Solidarität erreichen, der Weg dorthin wäre mit zu vielen Zauntritten bestückt, ich würde ermatten (na, inzwischen hört man dieses Wort: Solidarität ohnedies nicht mehr, aber ich versichere Ihnen, es gibt das Wort noch, ich habe es persönlich erst vor kurzem getroffen und begeistert begrüßt, zuletzt in Elfriede Gerstls Aufsatz, zu allerletzt in der Praxis, es hat natürlich nicht zurückgegrüßt, hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, daß man es erkennen würde). Da ist viel die Rede von altväterlicher Redlichkeit (jaja, auch sie eine Krankheit! Es ist alles eine Krankheit, was recht ist, alles, was recht ist, eine Krankheit) von Leben und Tun, und schon damit ist Gerstl bewußt, sich „ein mühsames, möglicherweise saurierhaftes, nicht mehr zweckmäßiges und daher zum Aussterben verurteiltes Konstrukt aufgebürdet" zu haben. Und dann verlangt sie etwas, das ich auch schon lange nicht mehr getroffen habe und das bitte wieder mal vorbeischauen soll, die „Konsequenz in der ästhetischen und politischen Entwicklung, Solidarität etwa mit bedrängten Kollegen, aber nicht Unterwerfung unter einen Fraktionszwang". Ja, man soll sogar Pfründe und Förderer notfalls zurückweisen, wenn die Verleiher und Gönner „der eigenen Überzeugung ein Brechmittel sein müßten". Wer theoretisch etwas fordert, dem sollte moralisches Handeln in der Hinsicht abverlangt werden dürfen, wenigstens dem, der es theoretisch fordert. So einfach, so schwierig ist das. Erstens, zweitens, drittens, plus Unterordnungen. So könnte es gemacht werden. Warum wird es nicht so gemacht? Und dann sagt Elfriede Gerstl, und sie sagt es in ihren unnachahmlichen Krankheitsmetaphern, die ihr aus dem Bewußtsein immer wieder neu zuwachsen, als hätte man diese Triebe nicht immer wieder gestutzt, aber gestutzte Triebe wachsen ja besonders gut wieder nach, sie sagt also, daß Krankheit die eigentliche Gesundheit ist, weil alle Gesunden so krank sind, ohne daß dadurch die Kranken gesund würden, tja, leider heilt das Schreiben nämlich nichts, es erleichtert einen höchstens für eine kurze Weile, die strengstens von Kurzweil getrennt werden muß, sie sagt es also mit der Krankheit als solcher entnommenen Sprachbildern, weil die Erfahrung, nicht zu den Lebenden gehören zu dürfen, so unausdenkbar ist, daß man sie nur erträgt, wenn man als Kranke die einzig Gesunde ist inmitten all der strotzenden Gier nach Gesundheit, die uns umgibt, und so ist also Gerstls Ehrgeiz „pathologisch" gering. Es bereitet ihr Unbehagen, zu jagen oder gejagt zu werden (beides schon probiert: ein guter Vergleich!), also Jagende zu sein wie zu erjagendes Wild bereiten ihr die größten Probleme, sie will keins von beiden sein: „Ich reagiere wie ein Allergiker, der sich wundert, daß so wenige seine Krankheit kennen, verstehen, mit ihm teilen oder sie ihm auch nur glauben." Da haben wir die Krankheit. Nur wir haben diese Krankheit. Und so findet sie sich als Beobachterin wieder, und sie findet sich niemals, da sie sich auch niemandem verpflichtet hat, und dem sogenannten „Betrieb" schon gar nicht, in der Gewinnzone wieder. In etwas wie einer Gewinnzone habe ich Elfriede Gerstl noch nie gesehen, schon ihre kleine Pension erscheint ihr nach einem völlig ungesicherten Leben sicher als Gewinn, und das genügt ihr schon. Mehr nimmt sie gar nicht. Dafür darf sie diejenigen benennen, die genommen haben. Es waren immer dieselben in der bleiernen österreichischen Nachkriegszeit, die sie gar nicht mehr hätte erleben sollen. Man kann weitläufig reden, aber darum herumreden kann man nicht. Diese gelernte Kranke kennt die Medizin, aber sie nimmt sie nicht. Es kann nur schlimmer werden. Alles kann immer nur schlimmer werden, aber auch besser. Es wird besser, wenn man denkt. Konsequenzen drohen keine. Es hat schon alles gedroht, und sie hätte jederzeit tot sein können. Sie hat furchtbare Entbehrungen erlitten, aber sie wünscht den Kindern nichts an den Hals, das sie selbst erlitten hat. Und sie weiß auch um die „wahnsinnige Beharrlichkeit (die Beharrlichkeit eines ganz besonderen Wahnsinns)" wider eine übermächtige feindliche Umwelt, zu den Überzeugungen, die man erst mal überhaupt haben muß, zu stehen, sagt Elfriede Gerstl in Bezug auf die Wiener Gruppe in den 50ern, in genau dieser grauenhaften eher blechernen (all das Blech, das von den Orden, die man nicht mehr gebraucht hat, übriggeblieben war! All das Blech, das man dann geredet hat!) als bleiernen sogenannten Nachkriegszeit, die aber keine Nachkriegszeit war, sondern eine Verlängerung der Kriegszeit mit unlauteren Mitteln (und der Krieg war da schon nicht wählerisch gewesen, aber man hatte wenigstens die Hoffnung, daß er enden würde), denn die Mittel wurden damals von denselben verteilt, die auch den Krieg verteilt hatten, und für diejenigen, die den Krieg verurteilten, hatten sie nichts übrig, die Verteiler in ihren gut gesicherten Verteilerkästen. Der Krieg hatte sie ja hochgespült, und die andren sollten verschwinden, ja, Gerstl auch. Wieso ist sie noch da? Sie soll verschwinden, wenn sie schon nicht tot ist. Verschwinden Sie! Arbeiten können Sie im Kaffeehaus, solange Sie niemanden stören. Eine Wohnung, die brauchen Sie nicht! Ilse Aichinger hat dazu ergänzt: Schlafen können Sie auch in der Hängematte. Das hat ihr ein braver Wiener Beamter gesagt. Sowas hat man sich damals anhören müssen. Und was verlangt sie, die Denkerin Gerstl? Sie verlangt kühle Rationalität! Die Theorie aus der Arztpraxis der bewährten Kanoniker, der Herren der Theorie, sollte wenigstens von denen verstanden werden, die sie postulieren. Die vertragen eine Menge. Aber was ist da jetzt verschwunden, was hat sich da verdrückt vor denen, die am allermeisten verdrücken können? Das Engagement, das altmodische Engagement hat sich verdrückt, der leidenschaftliche Bezug zu den Gegenständen und ihrem Medium (alles gefälscht an dem Medium! Das Pneuma: gefälscht! Das Vernebelnde: Gefälscht! Wird aber trotzdem immer wieder gern genommen, dieser Nebelwerfer, er ist das neueste Modell, im Fachhandel bereits erhältlich), vielleicht ist es ja die Aufgabe eines Mediums, sich still und heimlich zu verdrücken, damit man nicht zu genau nachschauen kann, ob es nicht vielleicht doch real ist. Damit man nicht zu genau nachschauen kann, ob diese Sprache vorhin nicht doch etwas gesagt hat. Egal. Ob sie nun was gesagt hat oder nicht, Elfriede Gerstl sagt es jedenfalls schon wieder. Das wird sie nicht zu bereuen haben. Das hat sie nicht zu bereuen. Sie hat nur soviel zu sagen, wie sie, nach einer unerhörten Anfrage, auch beantworten kann. Und sie teilt nur soviel mit, wie wir Kraftmeier mit unseren im Wettkampf mit den Meisterdenkern aufgepumpten Denkmuskeln als Antwort auch verkraften können. Sie überfordert uns nicht. Sie fordert alles von uns, das wird doch wohl noch gestattet sein! Gestatten, sagt sie, das ist ortsüblich, und zieht den Hut, aber nicht vor uns. Sie zeigt auch gern ihre Sammlung her. Und sie hatte viel Zeit zum Sammeln. Aber erst mal muß man sich selber schön brav einsammeln, um ihr zuhören zu können.
Laudatio anläßlich der Verleihung des Ben-Witter-Preises an Elfriede Gerstl, vorgetragen von Marlen Diekhoff zur Startseite von www.elfriedejelinek.com |