Elfriede
Gerstl

Jetzt
soll ich also über das Leichte sprechen, und zwar über das,
was Elfriede Gerstl schreibt, aber das ist das schwerste. Ich soll sagen,
wie ich sie sehe, und da nützt nichts Gutgemeintes, und auch daß,
was sie schreibt, gut ist, genügt nicht, obwohl es mir persönlich
schon genügen würde. Es muß diesem Geschriebenen hier
eine neue Dimension zuwachsen, aber, noch schwieriger: dieses manchmal
sehr fragmentarisch Leichte hat bereits alle Dimensionen. Es geht einfach
nicht kürzer. Es geht nur länger, also schlechter. Man kann
im besten Sinn des Wortes nicht fassen, was da geschrieben wird: gib
a ruah und häng di auf stör nicht meinen lebenslauf, das
sagt sie, und ich werde mich hüten, mich diesem Leben in seinem Lauf
entgegenzustellen, das rennt mich ja glatt über den Haufen. Leicht
wie es ist, es könnte mich buchstäblich überrennen, es
ist jedenfalls viel schneller als ich. So ist das Leben der Stadtbewohner.
Da waren aber noch andere Stadtbewohner, in derselben Stadt.
So
schwer wie es ist, das Leben, in dem man Abenteuer erwartet, um sie zu
beschreiben, und das äußerste Abenteuer beinahe schon gehabt
hätte, das des Todes, für das dieses Leben, wie viele, einmal
vorgesehen war, und gewiß nicht in dem Sinn, daß der Tod natürlich
für jedes Leben vorgesehen ist. So. Lang hab ich nicht gebraucht,
schon hab ich das Schwere herbeigeredet, und wie schicke ich es jetzt
wieder weg? Elfriede wäre die letzte, die es hier haben wollte. Noch
dazu, wo es immer auch schon, daneben, dahinter, dort vorn, drüben,
bei der Kreuzung, ja: da gewesen ist, hier bei uns, wo es doch so gemütlich
ist.
Wie
soll man über einen Menschen sprechen, der von den Nazis dafür
vorgesehen war, nicht mehr dazusein? Ich kann es mir ja selbst nicht vorstellen,
daß Elfriede einmal nicht in meinem erwachsenen Leben dagewesen
ist. Aber darüber kann man nicht sprechen. Darüber spricht sie
selbst kaum jemals, zumindest hat sie lange Jahre nicht davon gesprochen.
Später hat sies manchmal getan, sitzend auf ihrem Haufen von wunderbar
spitzigen Sätzen (wie abgenagte Hühnerknochen in einen Plastiksackerl,
würde sie sagen), einer Sammlung an Wissenswürdigkeiten, die
sie gebündelt hat, bereit, sie jederzeit wo andershin zu transportieren,
denn die Verwendbarkeit des Wissenswerten hängt vom Zufall ab, es
kann nichts so einfach abgeschlossen werden. Nur von den sogenannten Amtspersonen
der fünfziger Jahre, die ein zweites Mal versucht haben, sie auszuradieren,
wie sie da nachgeschaut hatten in ihren Akten, nein, wieder keine Wohnung
für Sie, Frau Gerstl, kein Ersatz für eine verschwundene, gestohlene
Wohnung, für garnichts (später gibts dann wenigstens Zahnersatz,
aber auch den gibts nicht umsonst, umsonst ist nur der Tod), Sie waren
schließlich noch ein Kind, was haben Sie denn schon verlieren haben
können außer diesem kleinen Stück Leben, wo eh schon was
angestückelt worden ist, glauben Sie, das sieht man nicht, glauben
Sie, das kann man jetzt noch irgendwem verkaufen? Glauben Sie, Sie haben
hier überhaupt etwas verloren? Das Leben ist für Sie doch etwas
gewesen, das erst noch kommen sollte, was verliert ein Kind denn schon,
das nicht da sein darf, und wenn es fortkommt heißt das nicht, daß
man sich um sein Fortkommen sorgt, sondern daß es weg sein soll,
nicht hierher gehört, nicht einmal in dieses Kaffeehaus, aus, fertig.
Was ich noch sagen wollte: Auch Ihre Pension, Frau Gerstl, wird man Ihnen,
wo Sie doch diesen Preis bekommen haben, für ein Jahr streichen müssen,
denn ein Geld haben Sie ja jetzt, da brauchen Sie von uns nicht noch ein
zweites dazu. Macht doch nichts. Geld ist sowieso schnell weg. Und das
ist ja vielleicht auch der beste Ratschlag des Todes, den er uns allen
gibt: möglichst wenig da sein und auch nicht dort sein, wo er heute
um so und soviel Uhr mit seinem Lastwagen hinfahren wird. Lieber weg sein!
Doch kaum eine kann den Rat so beherzigen wie die Elfriede, weil sie für
den Tod einmal bestimmt war. Für mehr als alles, was uns erwartet,
kann man bestimmt werden, nur sollte einem halt kein noch so kleines Stück
Leben dazwischkommen. Bloß die einschneidende Erfahrung: Nichts
Bestimmtes weiß man nicht. Es ist alles unsicher. Schon als Kind
sterben, bevor man müßiggehen oder arbeiten kann, je nachdem,
wie man sich entscheidet.
Vielleicht
macht Elfriede Gerstl deshalb jede Art von Dauer (wie oft habe ich von
ihr den Satz gehört: ich komme auf einen Sprung vorbei!) solche,
nein, ich sage nicht Angst, was sollte jemand, der im verdunkelten Versteck,
in dem nicht einmal die Wasserspülung des Klos verdächtige Geräusche
von sich geben durfte, wie sollte jemand, der das hinter sich bringen
mußte, noch vor etwas Angst haben? Ich sage jetzt ein selbsterfundenes
Wort: Niederlassungsscheu. Lieber soll es ein niedergelassener Arzt sein,
den man aufsucht, als daß man selbst sich niederläßt.
Am allerwenigsten sollen sich bitte Krankheiten in Elfriede niederlassen,
weil die ja immer schon so eklig nach Tod riechen, aber sie kommen leider
trotzdem. Daher sollte man sie lieb einladen, Platz zu nehmen, dann lassen
sie sich vielleicht nur auf einen kleinen Sprung nieder und gehen von
selber, hoffentlich. Und in ein andres Lokal als die Elfriede. Es genügt
schon, daß sie einem zuhause dauernd vor die Füßen rennen.
Die
verblüffende Wirklichkeitshaltigkeit von Elfriede Gerstls Texten,
dieses so besonders Irdische, allein in dem Gedicht: vom essengehen
oder was werde ich heute wieder alles stehenlassen. Man geht also
essen, man steht nicht, stehen soll ja das Essen, es soll bleiben, es
soll nicht bleiben, aber stehenbleiben, nein, das soll es auch nicht.
Essen: Setzen! Nicht genügend! Aber Elfriede ist tolerant, sie läßt
es halt einfach stehen. Dieses Essen wird nicht in ihr sterben, es darf
sitzenbleiben, weil es stehengelassen wurde, es wird nun wo anders sterben,
nein, um Gottes willen nicht noch einmal aufgewärmt werden!
der
kleine braune stinkt nach geschirrfetzen
das wasserglas nach spülmittel
die brotscheibe ist feuchtkalt froschig - schlecht aufgetaut
in der suppe schwimmen braune kartoffelbrocken
die nach spiritus schmecken...
und
so weiter, aber nicht im Gehen und nicht im Guten. Gehen muß da
schon der Gast. Und dieser kleine zierliche Gast hier, der läßt
das Essen ungerührt im Mistkübel sterben, obwohl ers dringend
nötig hätte, das Essen, nicht das Sterben. Es ist gewiß
ungehörig, in Todesmetaphern Essen und das Sterben von Menschen zusammenzubringen,
aber indem Elfriede Gerstls Dichtungen, die eine einzige Katastrophe sind,
in dem Sinn, daß sich in ihnen die Katastrophen sehr leise, leicht
und so schnell ereignen, daß man sie als Katastrophen kaum wahrnehmen
kann oder erst hinterher; es sind so viele, und sie alle brauchen Platz,
man kommt mit dem Schreiben gar nicht nach, und schon wieder bringen wir
hier ein paar unter, fünf Zeilen pro Katastrophe, wir können
es aber auch noch kürzer, noch schneller sagen, wenn nötig;
indem diese Dichtungen also Katastrophen SIND, nicht beschreiben, ist
die Dichterin davor geschützt, "verstanden" zu werden, sie ist selber
ganz ungeschützt, aber das Unverstandenbleiben bewahrt sie zum Glück
vor den Zudringlichkeiten der Leute, die Dinge sind nämlich schon
zudringlich genug (bei kleinen krisen leise zu sprechen: strophe 3
- bin ich aus sprache oder nicht auf füssen gehendes gedicht ich
weiss nicht wer da spricht.) Ja, wer? Niemand, aber doch wer, der
da ist, ohne sich zu behaupten und ohne überhaupt irgend etwas zu
behaupten. Nur so geht es wahrscheinlich. Nach alldem glaubt das Ich an
gar nichts mehr, und da soll es noch an den Tod glauben? Da soll lieber
Essen sterben gehn! Ich kenn ja den Tod. Ist langweilig. Wie alles was
zu lang dauert. Das Nicht Sein ist fad, denn ich hab es erlebt, sein wie
nicht sein. Nicht Sein oder Nichtsein. Nicht groß geschrieben. Ich
meine sein, aber sein, als wäre man nicht, weil man sich nicht bemerkbar
machen darf, sonst ist man gleich einkassiert und nicht einmal wert, daß
andere einen wieder ausgeben oder einem etwas für sich herausgeben.
Elfriede will nichts zurück. So, jetzt geben wir aber ordentlich
einen aus! Von dem was war, spricht die Autorin so gut wie nie. Aber das
was war, das ist in allem, wovon sie spricht. Na, so amüsant wie
sie davon spricht, kann es auch wieder nicht gewesen sein, denke ich mir,
sonst hätte ich es selbst erleben mögen, und da kommen sie schon
wieder, neu oder wie neu, die lieben, frisch erlebten Schläge des
wütenden Geschicks, der komischen Ungeschicklichkeiten:
so
viele freunde sind schon tot oder am sand
in meiner hand liegt es mir trost zu wählen
vorsichtig schluck ich was ich mich grad trau
bin ich halt eine feige sau...
Ich
bin ja schon tot, ätsch! Wer zu spät kommt, den bestraft mein
Gedicht. Der Tod will sich in Ruhe hinsetzen, und an meiner Statt findet
er diesen Zettel vor, auf dem dieses Gedicht steht! Es ersetzt mich doch
recht gut, oder? Was soll sein. Niemand wird je weniger tot sein als ich,
denn ich bin tot schon einmal gewesen.
Man
kann auch das überstehen, indem man eben wo anders ist, wenn es ans
Sterben geht. Indem man schneller ist. Nur wenn das Gulasch nach muffigem
fertigpulver riecht, also das muß wirklich nicht sein. Aber
bitte. Was sein muß, muß sein. Der Tod muß sein, also
muß er nicht sein. Und wenn es sein muß, verschieben wir ihn
halt. Wie soll eine, der die zahnbehandlung droht nachdem sie achtzehnmal
verschoben worden, na, zweimal geht sich schon noch aus, oder darfs
ein bisserl mehr sein, wie soll eine, die achtzehnmal den zahnarztbesuch
verschiebt, an einen Sinn oder ein Ziel glauben, an die ewige Nichtwiederkehr
des gleichen, denn zum Zahnarzt geht sie nicht, obwohl sie ihm dauernd
verspricht, daß sie morgen ganz bestimmt kommen wird? Die ewige
Wiederkehr des Gleichen, das würde man schon gar nicht aushalten.
Aber daß etwas Gleiches, das man schon kennt, nie wiederkehrt, weil
man es eben, genial!, immer wieder verschieben kann, so wie Elfriede Gerstls
Mutter ihren und ihrer Tochter Tod buchstäblich, im wahrsten Sinn
des Wortes - verschoben hatte, als die reinrassigen Deutschen aus Ottakring,
Simmering, Favoriten usw. sie holen gekommen waren und vor einigen erfundenen
bürokratischen Argumenten, zum Glück keinen schlagenden, wieder
kehrtmachen mußten: das ist der Sinn im Sinnlosen. Vielleicht Dichtung.
Daß man nicht sterben kann, weil man zum Sterben vorgesehen war.
Der
Tod ist sicher schrecklich, was früher niemanden gestört hat,
man ist halt einfach gestorben und fertig. Der Tod ist nicht schrecklich,
sagt Elfriede, ich habe ihn schon oft gesehen, aber schauen Sie sich dieses
stinkschnitzel und den patzigen reis an! Riechen Sie mal!
Das ist doch grauenhaft.
wie
leben sprechen diese kranken nah dem tode sie reden gescheit und deppert
so wie immer auch ohne religion wär ja besinnung möglich ein
nachdenk umdenk friedenschliessen doch nix von alledem kann ich
erkennen wer arschloch war bleibts bis zum letzten pfaucher wer leiwand
war der ist es bis zum ende.
Also
wenn ich mir das so anschau, da bin ich lieber lebendig und gesund. Allerdings
strengt es doch sehr an, ein Individuum zu sein und auch noch leiwand,
das ist ein ganz ein schöner Druck, der da auf einem lastet, die
Elfriede ist da recht streng, und das soll dann ohne Ziel sein? Nein,
da setzen wir uns doch lieber Grenzen, sagt Elfriede. Und den Tod kennen
wir schon, warum also nicht gleich den als Grenze nehmen? Weiter als bis
zu ihm können wir nicht sehen, nicht einmal vom Wienerwald aus, wohin
Elfriede sich niemals freiwillig bewegen würde, denn die Natur ist
sowieso das Gefährlichste, schauen Sie sich bloß diese Entenmutter
an, was die wieder mit ihren Jungen mitmacht!, egal, bis zum Ende dauerts
sowieso, was auch immer. Da bin lieber ich selber, auch wenn ich mitunter
meinen körper nicht im griff habe und er mir auskommt.
Also
seinen Körper sollte man nach dem Tod schon mitnehmen dürfen,
wieso hätte man sich denn zu Lebzeiten so angestrengt mit den schönen
alten Seidenkleidern aus den vierziger und den Anoraks aus den fünfziger
Jahren, die meisten von denen hab inzwischen allerdings ich. Es geht einfach
nicht, daß man alles hergeben muß, aber es bleibt einem vielleicht
nichts anderes übrig. Da lassen wir lieber das Essen stehn. Wir lassen
es nicht stehen, denn nicht einmal zum Hunger wollen wir in einem fort
gutwillig ja sagen. Der Hunger wird so lange um dich sein, so lang
du lebst, sagt Robert Walser in Gestalt eines Chinesen. Und Elfriede
sagt, in ihrer eigenen zarten Gestalt, ja, aber die Butterfisolen
sind holzig und fadenreich! Und sie behält das letzte Wort.
Fisolen können töten. Von wem sie das wohl haben mögen?
Wenn
die Elfriede, auf der Flucht vor Krankheit, Essen, Dunkelheit, Armut und
einem zu kalten oder zu warmen Wein heute irgendwo da ist, ist sie gleichzeitig
weg oder wird gleich wieder weg sein. Als würde sie sich scheuen,
sich irgendwo niederzulassen, weil sie ja weiß, daß man den
Tod dulden muß, genau dort, wo er grade ist. Aber wenn man gleichzeitig
überall und nirgends ist, dann findet er einen nicht. Doch dann droht
wieder diese entsetzliche Langweile und man gibt dem Tod kleine Hinweise,
wo er einen finden kann, wenn er sich nur etwas anstrengt, damit es etwas
spannender wird. Nein, die Frau Gerstl ist vor fünf Minuten gegangen,
aber ich glaube, sie sucht Sie. Und findet man ihn nicht, den Tod, findet
man vielleicht an seiner Stelle ein Wort, in dem er steckt, und steckt
er dort nicht, kann man das Wort vielleicht trotzdem noch für was
andres brauchen, um sich die Zeit zu verkürzen, etwa Worte wie anatol,
einträglich, eternit, ontologie, und die muß man dann nur
noch irgendwie zusammenstecken, und dann wieder fehlt einem rein gar nichts,
und vielleicht ist man dann am allermeisten tot.
"Muß
ich den Tod dulden, weil ich duldete, daß ich mich im Leben ergötzte?"
fragt die Chinesin in einem Dramolett von Robert Walser, einem Dichter,
dem Elfriede Gerstl in ihrem Werk ähnelt, wie ich finde, in dieser
unheimlich präzisen Fragmenthaftigkeit. Die Fragmente sind vielleicht
deshalb manchmal so klein, damit sie in einen Koffer hineingehen, oder
damit sie sich überallhin zwängen können, falls man keine
Zeit mehr hat sie mitzunehmen, sich kleinmachen und in einen Riß,
eine Spalte zwängen, nicht aus Bescheidenheit, sondern weil man sie
von dort dann nicht mehr so leicht entfernen kann. Sie sind in etwas Größerem
aufgegangen, ohne darin verschwunden zu sein. Sie sollten ursprünglich
ja gar nicht da sein und sind deshalb ganz besonders da. Wie soll jemand
wie Elfriede Gerstl etwas wie die eigene Fortdauer über den Tod hinaus
retten wollen? Wie kann etwas für immer und ewig sein, wenn man doch
nur auf einen Sprung vorbeigekommen ist? Wo man doch weiß, daß
nichts einen irgendwo festhält. Gibt es dann vielleicht etwas, das
einen von außen zusammenhalten kann? Sind das etwa die Kleider,
die man trägt? So eine dünne Schicht soll das können? Uns
von außen zu einem kleinen Häufchen zusammenrechen? Und dann
einfach liegenlassen?
Elfriede
Gerstl hat eine eigene Sprache dieser Mode entwickelt, indem sie von der
sogenannten repräsentierten Kleidung der Modezeitschriften weggegangen
ist und in die Vergangenheit hinein, obwohl sie diese Vergangenheit eigentlich
fürchten müßte, so wie die mit ihr umgesprungen ist, und
die Vergangenheit schleift ja in einer langen Schleppe jede Menge Leben,
das endgültig vorbei ist, hinter sich her. Alte Kleider gesammelt,
aber nicht oder nicht nur aus Geldmangel, sich neue zu kaufen: Elfriede
geht einfach weiter. Sie weiß, daß Gegenwärtiges im Vergangenen
seine Wurzeln hat, und ich, wir beide, uns gern den Spaß machen,
die Wurzeln gegenwärtiger Trends in den vergangenen aufzusuchen und
sie daraus herzuleiten. Oder sie einfach sein zu lassen wie sie sind und
zu bewundern, was für Mühe sich jemand mit diesem Muster, mit
diesen Hohlsäumen in der Bluse gemacht hat oder wie schrill diese
langgezogenen Kragenecken aus den Siebzigern doch sind. Als könnte
man die Geschichte zwingen, sich, nicht als böse Farce, sondern als
Komödie zu wiederholen. Die berühmte Benjamin'sche "Witterung
für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt"
- nur daß wir uns jetzt unsre Anoraks, alten Burberrys oder Jackerln
anziehen und mit ihnen in das Einst gehen, das nicht verlorengegangen
ist. Damit wir uns das Jetzt draus basteln können, das dann wieder
wie neu ausschaut, jedenfalls ist es nicht von gestern:
finde
in mutters vorzimmerschrank verlorengeglaubte kleidungsstücke
gelbe clogs glockenhosen apart-bluse grünes prinzesskleid
von hanni in berlin geschneidertem kostüm
jacke gefunden - rock im geklauten koffer
kleiststrassen-wg gleich steigen stuckdeckenbilder ins
gedächtnisauge...
Unsere
Mode-Leidenschaft ist, wenn sie uns in Elfriedes kleinem Modelager in
der "Kette" (Kenner wissen, was das heißt! Die anderen sollten es
noch rechtzeitig rauskriegen, wenn sie wissen, was gut für sie ist...)
wieder einmal überkommt, nicht jedes Mal der "Tigersprung ins Vergangene",
sondern es finden hier statt die eher possierlichen Sprünge zweier
durcheinander schnatternder Tigerinnen, ein Gebrüll werden Sie hir
nicht hören: heraus! Heraus aus dem Vergangenen! Indem wir nämlich
dieses Vergangene einmal nicht ins Gegenwärtige transponieren, sondern
es in seiner Vergangenenhaftigkeit annehmen, jedes Stück, zumindest
für dieses Mal, einzig und nicht wiederholbar (auch wenn wir die
Ähnlichkeiten und Entwicklungslinien sehr wohl registrieren), bedeutet
das für uns, vor allem für Elfriede, glaube ich, auch eine Art
von Geschichts-Aufhebung. Die Mode ist zwar diese Arena, in der die herrschende
Klasse kommandiert. Aber indem wir sie in diesen Unikaten, von denen jedes
seine eigene Geschichte erzählt, uns aneignen, uns auf den Körper
wachsen lassen, ziehen wir den Herrschenden zwei ihrer schärfsten
Reißzähne, in einer gemütlicheren, aber trotzdem nicht
ganz ungefährlichen Form von Subversion. Denn für kurze Augenblicke
wenigstens können wir uns damit auch der ewigen Jagd entziehen, die
die Herrschenden auf alle machen (sie wissen alles besser, sie kennen
sich aus, es gehört ihnen ja, und sie wollen es natürlich auch
noch verkaufen, wenn auch: kleiner, mickriger, schäbiger, aus schlechteren
Stoffen), auf alle, die sich unter dem "freien Himmel der Geschichte"
vor den scheinbar ewigen Bildern, die sie von sich als der Norm verbreiten
wollen, von den Modeheften bis in die Vollglanz- Wochenzeitschriften,
davonzuschleichen versuchen, um wenigstens ihr eigenes Teil, getupft,
gestreift, genoppt oder aus frühantikem Lycra, Schmeichelseide
art deco-drucke oft dreifärbig beige braun orange, aus der Zeit,
in der diese Dinge, schreiend und strampelnd, gefangen waren, zu retten.
Nein, Benjamins Tigersprung ins Vergangene ist das nicht mehr (oder es
ist mehr als das). Ob man in diesem Fundus was findet oder nicht, das
hat keine Folge und kein System, es ist ein Produkt des Zufalls, der der
Spaziergängerin begegnet oder auch nicht (es ist ja meist nur vom
männlichen Flaneur die Rede, als hätten die Frauen kein Recht
auf Müßiggang, obwohl man ihnen ja immer wieder, vor allem
in konservativen Ländern wie unserem, nachsagt, sie täten den
lieben langen Tag nichts Gescheiteres als zu tratschen und "sich herzurichten".
Wir richten uns für die Hinrichtung her, würde die Autorin Ria
Endres jetzt sagen), es ist die Freude der Sammlerinnen, die sich gegen
nichts abschließen. Sie können damit die Geschichte nicht rückwärts
ablaufen lassen, das wäre ja auch wirklich entsetzlich, aber sie
können sich ihr, in genau diesen paar Momenten, scheinbar entziehen,
zumindest für kurze Zeit. Der Tag ist schön, wir haben viel
anzuziehen, müssen wir den Tod dulden? Elfriede hätte, glaube
ich, gute Lust es zu wagen. Sie ist mit ihm, der lange ihr Gegner war,
inzwischen etwas wie befreundet, er kommt manchmal, wenns si hinstraat,
wenns ihr oasch geht, wenn er wieder einmal ein trottel ist, der Körper,
wenn darmkrampf, magenbrand, nackenschmerz, knochenbruch oder schuhekaufen
drohen, dann kommt er kurz vorbei, aber da ist sie schon wieder in
dieser tollen vierziger- Jahre-Jacke und dem seidenen Schal und dem Art
Deco-Clip an der Brusttasche unterwegs, der Tod ist völlig geblendet
und rennt einfach los, weil ihm einfällt, daß er sich auch
mal wieder neue Klamotten leisten könnte. Vielleicht hier, die Plakate,
nach denen könnte er sich richten, fesch, jung und smart, wie er
inzwischen wieder geworden ist; die sind, knallgelb, in diesem Wahl-Herbst
schon überall auf den Straßen herumgehangen. Es gibt kein Krokotascherl,
auch keins von Elfriede, das groß genug wäre, daß man
damit solche Plakate verdecken könnte. Diese Tascherln hat man früher
vor den auf die Brust genähten gelben Stern gehalten, sagt mir Elfriede.
Ein untauglicher Versuch. Wittgenstein sagt einmal sinngemäß,
daß einer, der ans Jüngste Gericht glaubt, einem Zweifler vermutlich
antworten werde, daß er dafür Beweise habe. Dabei glaubt er
nur. Fragt man ihn, warum er an so einen Blödsinn glaubt, wird er
es damit beweisen, daß er sein ganzes Leben regelt. Elfriede beweist
nichts, indem sie ihr Leben eben nicht: regelt. Sie weiß, daß
auch die Dichtung nichts durch Regelungen beweisen kann. Man macht sie
einfach und aus. Ich danke ihr für ihr Werk und für das, was
sie damit und rund um sich schafft: eine Umgebung, die für alles
offen ist, auch das Fremdeste, Fernste, Seltsamste, würde ich sagen.
Super Gedichte. Sehr scharfe Essays, Vorsicht, schneiden Sie sich nicht!
Hier sehe ich einen Hut, Saks, New York, Fifth Avenue, steht auf dem Innenband.
Ja, hier finden Sie eine internationale Umgebung, das Gegenteil von dem,
was manche vielleicht gern wieder einführen möchte, nämlich
die "Verlederhosung Österreichs", wie Bruno Walter das '38 genannt
hat. Also: Elfriede Gerstl ist das Gegenteil von dem, was hier immer schon
gewesen ist und immer sehr geschätzt wurde. Da man nicht wissen konnte,
wozu man fähig war, sollte wenigstens dieser Mantel aus Wollstoff
fünfzig Jahre halten. Sie können ihn heute schon wieder sehr
gut tragen! Viele Menschen halten nicht so lang. Nein, nicht das Bleibende
wollen wir, und die Mode will es auch nicht. Wir wollen das Flüchtigste!
Zum Beispiel die Mode, einmal die, dann wieder die andre. Wir suchen es
uns aus. Wir sind so frei.
Laudatio gehalten am 28.11.99 anläßlich der Verleihung
des Erich-Fried-Preises an Elfriede Gerstl.
Elfriede
Gerstl © 1999 Elfriede Jelinek

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