Lotte ist die Schwester Claire Felsenburgs, die mit meinem Cousin Walter Felsenburg verheiratet war. Sie ist jene Schwester,
die Auschwitz und Ravensbrück überlebt hat.
Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz durch die 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Oberbefehl von Generaloberst Pawel Alexejewitsch Kurotschkin befreit.
Nach einer kleinen Einleitung
spricht sie hier selbst.
Lotte S. wird als fünftes und jüngstes Kind von Jetti und Maurici 1920
in Wien geboren. Die Eltern flüchteten zu Beginn des ersten Weltkrieges
aus der Ukraine, die damals Teil des Habsburgerreiches war, nach Wien.
Die zwei ältesten Geschwister kamen noch in der Ukraine zur Welt, die
drei jüngeren schon in Wien.
Wie die meisten Zuwanderer aus Osteuropa verschlug es sie in den 20. Wiener
Gemeindebezirk, in die Brigittenau. Sie lebten in äußerst ärmlichen Verhältnissen,
wurden delogiert, da der Vater arbeitslos war und sie die Miete nicht
bezahlen konnten. Sie bekamen zeitweise ein Notstandsquartier in der Roßauerkaserne
zugewiesen. Es ist die Mutter, die die Familie durch Näharbeiten notdürftig
erhält und zusammenhält. Schließlich bekommen sie eine Zweizimmerwohnung
im 9.Bezirk, wo Lotte auch die Volks- und Hauptschule besucht. Noch dazu
wird sie, ein sehr armes Kind, von ihrer Volkschullehrerin sehr schlecht
behandelt. Erst eine andere Lehrerin versteht es, auf sie einzugehen und
hilft ihr, eine gute Schülerin zu werden. Die Glöcklsche Schulreform hat
auch neue Lehrer in die Schulen gebracht. Dem Vater gelingt es nicht,
Fuß zu fassen, er ist fast immer arbeitslos und seine Frustration wirkt
sich auf das Familienleben entsprechend aus, Als Lotte 15 Jahre alt ist,
läßt sich die Mutter scheiden.
Die Familie war immer sozialdemokratisch orientiert und so kam Lotte durch
ihren Bruder Eli, der ein Jahr älter ist als sie, zu den Roten Falken.
Nach dem Verbot der sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen
und dem Bürgerkrieg im Februar 1934 bleiben die beiden Geschwister weiter
aktiv in der illegalen sozialistischen und später kommunistischen Jugendorganisation.
Lotte wird von den Ideen des Sozialismus und vom Gedanken der Solidarität
geprägt. Auf der einen Seite das Beispiel ihrer Mutter, die schwer arbeiten
muß, um ihre fünf Kinder zu erhalten , aber trotzdem immer wieder bereit
ist, noch Ärmere bei sich aufzunehmen und zu verköstigen und ihnen in
ihrer Not beizustehen, und die Erfahrungen in der Jugendgruppe auf der
anderen Seite, die gemein- samen Diskussionen und Vorträge, die praktizierte
Solidarität bei Ausflügen und Jugendlagern bestimmen ihre Haltung und
ihren weiteren Werdegang. Immer wieder erzählt sie, wie in ihrer Gruppe,
wo es viele arme Kinder gab, aber auch Kinder aus wohlhabenden Familien,
bei Ausflügen " Proviantur" gemacht wurde. Das bedeutete, daß
alle Kinder ihr mitgebrachtes Essen zusammenlegten, die Schnitzel der
einen und das karge Brot der anderen, und alles ganz genau auf alle aufgeteilt
wurde. Sie war voller Begeisterung für den Sozialismus und voller Bewunderung
für die junge Sowjet-Union.
Durch die herrschende Arbeitslosigkeit konnte sie keinen Beruf erlernen
und war froh, eine Arbeit als Hilfsarbeiterin in einer Schuhfabrik zu
bekommen. Diese Erfahrung bewirkte, daß sie in späteren Jahren sehr darauf
bedacht war, daß ihre beiden Töchter ja lernen konnten und ihre Studien
erfolgreich abschlossen. Nach der Besetzung Österreichs durch Nazideutschland
mußte sie Wien bald verlassen und flüchtete mit einer Freundin nach Belgien,
wohin ihre beiden Brüder bereits geflüchtet waren und ihr bei ihrer Flucht
behilflich sein konnten. Ihr Vater wurde in Buchenwald ermordet, während
es der Mutter gelang, zu den drei Geschwistern, auch auf illegalem Wege
nach Belgien zu kommen. Die Wohnung und das Wenige, das die Mutter in
Wien noch hatte, wurden ihr von den Nazis auch noch weggenommen.
Das Zusammenleben der Familie war jedoch nur von kurzer Dauer. Nach der
Besetzung Belgiens durch Nazideutschland wird die Familie zerrissen, die
beiden Brüder flüchten vor den Deutschen in das noch unbesetzte Frankreich,
die Mutter und Lotte versuchen, nach Dünkirchen zu gelangen. Sie mußten
jedoch bald in das von den Deutschen besetzte Brüssel zurückkehren. Dort
leben sie getrennt, da Lotte in einer österreichischen Widerstandsgruppe
aktiv ist und ihre Mutter nicht gefährden will.
Ihr weiteres Schicksal schildert Lotte selbst. Ihre Mutter wird, wie fast
alle Juden, in Belgien ins Sammellager gebracht und von dort in Viehwaggons
gepfercht nach Auschwitz transportiert. Die Mutter wird direkt von der
Rampe weg in der Gaskammer von der SS umgebracht.
Die beiden Brüder konnten sich in die Schweiz und nach Südfrankreich retten,
ebenso wie eine der beiden Schwestern. Die andere Schwester gelangte nach
England und lebte dort bis nach Kriegsende mit ihrem Mann. Lotte flüchtet
schließlich mit einer Freundin bei der Evakuierung von Ravensbrück und
wird, nachdem sie in einem Wald versteckt waren, von der Sowjet-Armee
befreit und kam zuerst nach Brüssel zurück und schließlich im Juli 1945
nach Wien.
Hier war sie allein , ohne Familie. Was mit ihren Geschwistern geschehen
war, wußte sie nur zum Teil, aber daß der Vater in Buchenwald umgebracht
worden war und die Mutter in Auschwitz vergast, wußte sie sehr wohl...
Allein geblieben, war sie auf die Hilfe von KZ-Kameraden und von Freunden
aus der belgischen Emigration angewiesen, bei denen sie vorläufig wohnte
bis sie eine kleine Einzimmerwohnung zugewiesen bekam. Sofort nimmt sie
eine Freundin, die sie im KZ kennengelernt hatte und die selbst völlig
allein war und keinerlei Unterkunft hatte, bei sich auf. Lotte beginnt
sehr rasch zu arbeiten, als Sekretärin in der Redaktion der „Volkstimme“,
schafft sich wieder einen Freundeskreis und lernt Ende 1946 ihren späteren
Mann kennen.
Lotte leidet sehr, sowohl unter den Erinnerungen als auch an den physischen
Folgen der qualvollen Gestapoverhöre und den schrecklichen Bedingungen
der KZ-Haft. Erst mit der Schwangerschaft und der Geburt der ersten Tochter
hören die Alpträume auf.
Die Sorge um die Familie und die Alltagsprobleme tragen dazu bei, daß
sich das Leben normalisiert, aber die Vergangenheit ist immer präsent
und verpflichtet zu gesellschaftlicher Aktivität in den verschiedenen
KZ-Organisationen und, als Zeitzeugin, zur Teilnahme bei Diskussionen
in Schulen und anderen Anlässen. Im Folgenden lassen wir Lotte selbst
zu Wort kommen in ihren Berichten zu Auschwitz, Ravensbrück und ihre Befreiung
durch die Rote Armee und schließlich ihre Erlebnisse beim Hamburger Kriegsverbrecherprozess.
LOTTE:
Die vier Heldinnen von der "Union"
Am
6. Jänner 1945 hieß es nach dem Abendappell und vor dem Einrücken
in die Fabrik zur Nachtschicht: " Alle Antreten! " Wir
mußten mit ansehen wie Alla Gärtner und Regina Saphirstein von den
SS-Leuten erhängt wurden.
Nach der Rückkehr der Tagschicht mußte auch diese zum Appell antreten
und zusehen, wie Rosa Robota und Esther Weissblum ebenfalls am Galgen
von den SS Leuten ermordet wurden. Wenige Tage vor der Flucht der
SS-Wachmannschaften vor den heranrückenden sowjetischen Soldaten
und der Auflösung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau rächte
sich die SS an den vier Heldinnen, die durch ihren Mut und Geschicklichkeit
den Aufstand des Sonderkommandos ermöglicht hatten.
Monate hindurch hatten die Mädchen Sprengstoff aus der Pulverkammer
der Fabrik "Weichsel-Metall-Union", einer der vielen Fabriken,
die von der deutschen Kriegsindustrie rund um das Konzentrationslager
Auschwitz errichtet worden waren, in kleinsten Mengen und unter
Mithilfe vieler dort beschäftigter Frauen und Mädchen herausgeschmuggelt.
Der Sprengstoff ging durch viele Hände, oft ohne daß die Beteiligten
wußten, was in den winzigen Päckchen enthalten war. Sie beförderten
die Päckchen versteckt in den Knoten der Kopftücher und auf andere
Weise. Der Sprengstoff gelangte in die Kleiderkammer, wo Rosa Robota
arbeitete. Von dort wurden die winzigen kleinen Mengen Sprengpulver
zu den Männern des Sonderkommandos weitergereicht, die daraus Sprengkörper
herstellten.
Das Netz dieser jüdischen Widerstandsgruppe spannte sich von der
Munitionsfabrik bis zum Sonderkommando, das bei den Krematorien
arbeitete. Mit ihrem Aufstand, der auch ihnen das Leben kosten würde,
wollten die Männer die Krematorien zerstören, um das weitere Masse
morden zu unterbinden.
Ich selbst arbeitete in der "Union" in der Kontrollabteilung.
Es war ein langer und qualvoller Weg, der mich von Wien über die
Flucht nach Belgien, kurz nach der Besetzung Österreichs durch die
Deutschen, bis hierher nach Auschwitz brachte. Aus Wien mußte ich
so rasch wie möglich weg, da ich bereits als 15-Jährige, bei einer
illegalen Zusammenkunft im Jahre 1935 verhaftet wurde und als Rädelsführerin
zu drei Wochen Polizeiarrest verurteilt worden war.
Diese drei Wochen mußte ich im Polizeigefängnis Elisabethpromenade,
bekannt als " Liesl " absitzen. Dorthin wurde ich von
der Zelle des Polizeikommissariats Boltzmanngasse gebracht. Meine
Kameraden in Wien rieten mir, aus dem von den Deutschen besetzten
Österreich so rasch wie möglich zu verschwinden, da ich als Jüdin
und polizeibekannte Antifaschistin doppelt gefährdet war. In den
vergangenen Jahren hatte mich die Polizei jeweils zum 12. Februar
geholt, um mich für einen Tag und eine Nacht in Gewahrsam zu nehmen.
Meine Jugendfreunde Fritzi Mutzika und Fredi Rabovski, sie wurden
beide von den Deutschen während des Krieges im Jahre 1944 wegen
Hochverrats geköpft, verkauften damals ihre wenigen Habseligkeiten,
damit ich eine Bahnfahrkarte nach Köln kaufen konnte, da ich selbst
völlig ohne Mittel war. Von Aachen mußte ich illegal über die Grenze
nach Belgien.
In Brüssel fand ich rasch Kontakt zu den österreichischen politischen
Flüchtlingen. Bald hatten wir eine antifaschistische Jugendgruppe
und wir versuchten unter anderem österreichische Kultur interessierten
Belgiern näherzubringen. Bei unseren Zusammenkünften hörten wir
Vorträge von Alfred Klahr, Albert Hirsch, Moritz Margules, Josef
Sieder und von anderen. Zu unserer Jugendgruppe gehörte auch Kurt
Hacker, dem ich in Auschwitz wieder begegnete.
Auch Alfred Klahr traf ich in Auschwitz wieder. Juci Fürst, die
ich noch aus Wien kannte, gehörte ebenfalls zu unserer Jugendgruppe.
Sie kam auch nach Auschwitz und mit ihr flüchtete ich schließlich
kurz vor der Befreiung bei der Evakuierung von Ravensbrück zu den
heranrückenden sowjetishen Truppen.
Erst nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjet-Union im
Jahre 1941 begann unsere Gruppe in Brüssel mit Aktivitäten gegen
den Krieg, in Form von Aufklärungsarbeit mit deutschen Soldaten.
Im Juni 1943 wurde ich von der Deutschen Militärpolizei verhaftet,
nachdem ich einem Wehrmachtsangehörigen eine von uns verfaßte Antikriegszeitung
übergeben hatte. Mit diesem Soldaten, er stammte aus Kärnten, hatte
ich mich schon vorher getroffen und über die Unmenschlichkeit des
Krieges diskutiert. Ich ahnte nicht, daß er mich verraten würde.
Die Verhöre mit den üblichen Gestapomethoden dauerten Monate, da
ich meine Kameraden nicht preisgab und auch meinen richtigen Namen
nicht sagte. Durch das Geständnis einer später verhafteten Freundin
wurde meine richtige Identität jedoch bekannt und aus Wien bestätigt.
Während der Verhöre war ich in einer Einzelzelle im Cachot in Malines,
einem Sammellager für die Deportierung der jüdischen Bevölkerung
aus Belgien. In der Neben- zelle befand sich ein Wiener namens Toni
Habel, der von der deutschen Armee desertiert war und sich als Jude
ausgab. Er war bereits an der Ostfront gewesen und wollte nicht
an den Greueltaten der Deutschen Wehrmacht beteiligt sein. Meine
Freundinnen Hertha Ligeti und Marianne Bradt waren auch im Cachot
und kamen mit mir nach Auschwitz. Vor dem Abtransport aus Malines
erklärte der deutsche Lagerkommandant Boden den angetretenen Häftlingen,
wir kämen in ein Arbeitslager in das nur wenige Stunden entfernte
Holland.
Tatsächlich landeten wir nach drei Tagen und Nächten in verschlossenen
Viehwaggons, ohne jegliche hygienische Einrichtung, ohne Nahrung
und Wasser in Auschwitz. So wurden auch wir wieder belogen und getäuscht.
Die Szenen bei der Ankunft wurden schon oft beschrieben. Die ersten
zwei Selektionen, die ich in Birkenau erlebte waren Entscheidungen
über Leben und Tod. Hätte der SSler mit dem Finger zufällig in die
andere Richtung gezeigt, wäre ich in der Gaskammer gelandet, so
wie Millionen andere, die ermordet wurden .Es ist nur Zufall, daß
ich noch lebe. Nach dem Willen der Nazis dürfte ich als Jüdin nicht
mehr am Leben sein. Bei der dritten Selektion wurde ich für die
Arbeit in der Fabrik eingeteilt.
In Auschwitz, in einem überdachten Raum arbeiten zu können, erhöhte
ganz bedeutend die Überlebenschancen. (Damals, im Winter hatte es
dort bis zu 40 Grad unter Null.) Meine Tätigkeit in der Kontrollabteilung
der "Union" bestand darin, das Gewinde von kegelförmigen
Metallteilen, offenbar Granatköpfen, zu überprüfen.
An einem langen Tisch waren wir ca. 25 Mädchen und Frauen, die die
gleiche Arbeit zu verrichten hatten, Wir verständigten uns sehr
rasch, trotz der Sprachschwiergkeiten, die Arbeit zu sabotieren,
indem wir gute Gewinde zum Ausschuß warfen und schlechte Gewinde
zu den Guten. Viele der Mädchen waren aus den verschiedenen Ghettos
in Polen nach Auschwitz gebracht worden. Andere, wie Alla Gärtner
oder Mala Zimmetbaum, waren aus Belgien oder anderen von den Deutschen
besetzten Ländern nach Auschwitz deportiert worden. Manche von ihnen
hatten den Aufstand im Warschauer Ghetto miterlebt.
Zu dieser Zeit bestand im Lager bereits eine illegale internationale
Widerstandsorganisation und ein Häftling in unserer Fabrik, ein
Spanienkämpfer aus Antwerpen namens Robert, stellte die Verbindung
zur Widerstandsorganisation im Männerlager her. Kurz darauf kam
Alfred Klahr, ich weiß nicht wie lange er schon Häftling in Auschwitz
war, in die Fabrik und informierte mich über die Situation in der
Freiheit.
Es sollte ein Aufstand, gemeinsam mit den außerhalb des Lagers operierenden
polnischen Partisanen, vorbereitet werden, um aus dem Lager flüchten
zu können.. Er legte uns Nahe, wenn möglich, Isolierzangen zu beschaffen,
um die elektrisch geladene Umzäunung durchschneiden zu können. Ebenso
sollten wir Benzinflaschen zur Herstellung von Molotov-Cocktails
organisieren. Durch einen Häftling, der als Installateur vom Männerlager
in das Frauenlager Birkenau kam, trafen wir Kurt Hacker, der von
den Deutschen ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden war. Hertha
Ligeti und ich freuten uns einen weiteren Vertrauten zu finden,
doch er hatte eine sehr traurige Nachricht für mich. Mein guter
Freund, Benedikt Senzer, war nicht mehr am Leben.
Er war bei einer der ersten Flugzettelaktionen in Brüssel, bei einer
deutschen Kaserne in Molebeck, angeschossen worden und wurde verhaftet.
Kurt erzählte, er war gemeinsam mit ihm im Fort Breendonck, einem
mittelalterlichen schrecklichen Gefängnis, wo die Häftlinge von
den Deutschen grausamst gefoltert wurden. Von dort brachte man Benni
in die Kohlengruben nach Monowitz, einem Außenlager von Auschwitz.
Wenige Tage später wurde er in der Gaskammer ermordet.
Wir baten Kurt Hacker uns eine Isolierzange zu beschaffen, was ihm
auch gelang. Eine Stubowa (Stubenälteste) in unserem Block, Fanni
Dutet war auch eine Vertraute unserer Gruppe. Sie konnte nicht nur
die Zange, sondern auch eine Benzinflasche, die wir organisierten,
versteckt aufbewahren. Für uns waren diese Gegenstände die Hoffnung
auf den Aufstand. Dieser fand leider nicht statt. Zu Betty Wenz,
einem Mädchen aus Wien im arischen Block, bekamen wir Kontakt durch
Marie Claude Vaillant Couturier, einer französischen Kameradin.
Betty war in der Schreibstube beschäftigt und hatte daher größere
Bewegungsfreiheit im Lager. Durch Betty lernten wir Herta Rotowa
kennen, eine Lagerläuferin, die mit Mala Zimmetbaum zusammengearbeitet
hat.
Betty und Herta haben uns sehr geholfen, beim Zusammenhalt unserer
Gruppe, indem sie uns wichtige Informationen zukommen ließen und
verschiedene Gegenstände verschafften. Durch ihre Funktion hatten
sie Zugang zu den verschiedensten Lagerfunktionären und vielen Blocks
und Kommanden. Diese Möglichkeiten waren sie bereit für die Gruppe
einzusetzen und achteten nicht auf persönlich Sicherheit oder Vorteil.
Herta, zum Beispiel, nutzte ihre Kontakte, um mich vom Unionskommando
in ein anderes zu versetzen, in die Wollstube.
Die Mädchen an unserem Tisch hatten mich gewarnt, man munkelte bereits,
daß ich einer Widerstandsgruppe angehöre. Betty wiederum hat uns
bei der Evakuierung, wir waren schon angetreten zum Ab- marsch,
der zum Todesmarsch für so viele wurde, einen Sack Würfelzucker
gebracht, den wir mit den umstehenden Häftlingen teilten. Sie konnte
dies im allerletzten Moment organisieren, denn sie hatte Kontakt
zu Frauen, die in der Küche beschäftigt waren.
Dies war nicht nur ein Akt der Solidarität, sondern mit ihrer selbstlosen
Handlung hat sie einigen von uns vielleicht das Leben gerettet.
Der Aufstand und die Sprengung eines Krematoriums in Birkenau durch
die Häftlinge des Sonderkommandos, war durch die Handlungen der
vier Mädchen, gemeinsam mit anderen, ermöglicht worden. Die vier
Heldinnen, die ihr Leben eingesetzt hatten, um andere vor dem Tod
zu bewahren, mußten sterben. Während wir zum Appell antreten und
der Ermordung der vier Mädchen zusehen mußten, versuchte Hanna Weissblum,
die 15-jährige Schwester von Esther, in ihrer Verzweiflung zum Galgen
zu stürzen, um mit ihrer Schwester zu sterben. Mit Mühe gelang es
den Kameradinnen ihres Blocks, das Mädchen davon abzuhalten. Esther
hatte in einer aus dem Bunker herausgeschmuggelten Nachricht ihre
Freundinnen gebeten, sich ihrer jungen Schwester anzunehmen. Es
ist dies eine meiner aufregendsten Erinnerungen.
Wenige Tage später wurden die Häftlinge zusammen getrieben und aus
dem Lager gejagt, da die Sowjetarmee näher kam. Man wollte keine
lebenden Zeugen zurücklassen, die das von den Deutschen angerichtete
Grauen berichten könnten. Nur wenigen Häftlingen gelang es sich
zu verstecken. Die meisten Häftlinge, die vor Erschöpfung auf diesem
Marsch nicht mehr gehen konnten, wurden auf der Stelle erschossen.
Eine blutige Spur von Erschossenen markierte den Weg des Todesmarsches
in jenem Jänner 1945 im tiefsten Winter.
Die Überlebenden wurden in offene Kohlenwaggons verladen und ins
Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Berlin und in andere Konzentrationslager
transportiert.
Die letzten Stunden in Auschwitz sind mir in gespenstischer Erinnerung.
In ihren kopflosen Bemühungen das Ausmaß ihrer Untaten zu verschleiern,
versuchte die SS ihre Aufzeichnungen, Listen von Häftlingen, Dokumente
etc. zu vernichten Berge von Papier lagen zwischen den Blocks auf
den Wegen. Man watete förmlich durch Papier. Wir waren voller Freude,
daß das Ende unserer Qualen gekommen war. Wir ahnten nicht, was
uns alles auf dem Todesmarsch und bis zu unserer endgültigen Befreiung
noch erwarten würde.
Im Laufe der Jahre vergißt man natürlich viele Einzelheiten und
Daten, aber einige Ereignisse aus dieser unvorstellbar unmenschlichen
und schrecklichen Zeit in Auschwitz kann und will ich nicht vergessen.
Die Hinrichtung von Mala Zimmetbaum im Frauenlager Birkenau, die
mit ihrem Freund Edek Galinski einen Fluchtversuch unternommen hatte.
Wir mußten Appell stehend der Hinrichtung zusehen.Das sollte als
Abschreckung für weitere Fluchtversuche dienen. Bei der Verlesung
ihres Urteils konnte Mala mit einer Rasierklinge, die sie im Haar
hatte - obwohl Jüdin konnte sie als hoher Funktionshäftling langes
Haar tragen - sich die Pulsader durchschneiden und dem neben ihr
unter dem Galgen stehenden SS-ler ins Gesicht schlagen. Ohne sie
zu erhängen wurde sie schnell zum Krematorium weggebracht. Mala
war im ganzen Lager bekannt und beliebt. Sie war als erste Lagerläuferin
eingesetzt., beherrschte mehrere Sprachen und hatte vielen Häftlingen
und Widerstandsgruppen geholfen. Ihre öffentliche Hinrichtung sollte
der Demütigung und Demoralisierung der Häftlinge dienen. Durch ihr
mutiges Auftreten wurde dies jedoch zu einer Demütigung der SS und
stärkte viele Häftlinge in ihrem Überlebenswillen.
Wann immer im Lager ein Fluchtversuch unternommen wurde, mußten
wir zum Appell antreten und meist stundenlang stehen. Wir murmelten
immer wieder ; "Glückliche Reise ! Glückliche Reise !"
Das Zigeunerlager habe ich immer vor meinen Augen. Es war ein eigener
Bereich im Lager Birkenau. Dort waren Männer, Frauen, Kinder gemeinsam
und es herrschte ein lebhaftes und buntes Treiben, das ich von meinem
Block aus immer wieder beobachtete. Die SS ließ die Familien dort
beisammen. Eines Abends , Anfang August 1944 , hieß es "Lagersperre".
Wir mußten in unsere Blocks. Türen und Fenster mußten geschlossen
bleiben.
Am nächsten Morgen, als wir zur Arbeit ausrückten, war im Zigeunerlager
gähnende Leere. Alle Menschen waren verschwunden. Es herrschte Totenstille.
In dieser einen Nacht wurden sämtliche Männer, Frauen und Kinder
des Zigeunerlagers von der SS in den Gaskammern umgebracht und im
Krematorium verbrannt. Einen Tag noch ein buntes, lebhaftes Treiben
und am nächsten Morgen war alles ausradiert. Diese Totenstille.
Das kann ich nicht vergessen. Ebenso kann und will ich die Ermordung
von den hunderttausenden ungarischen Juden nicht vergessen. Wochen
hindurch kamen die Züge mit Männer, Frauen und Kindern und wurden
direkt von der Rampe weg in Gas getrieben. Die Kamine der Krematorien
rauchten ununterbrochen.
Und kurz vor dem Todesmarsch die Hinrichtung der vier Heldinnen,
die trotz aller Martern bei ihren Verhören niemanden verraten haben
und aufrecht und mutig, voller Verachtung für ihre Peiniger und
Mörder zum Galgen gingen. Ihre Moral, ihre Menschlichkeit und Solidarität
und ihr Tod sind mir ständig im Gedächtnis und bleiben Vorbild und
Verpflichtung, Um die Zeugnisse ihrer Untaten vor der Welt zu verschleiern
und um keine lebenden Zeugen zurückzulassen, versuchte die SS beim
Herannahen der Sowjet-Armee das gesamte KZ- Lager Auschwitz-Birkenau
zu räumen und die noch lebenden tausende Häftlinge nach dem Westen
zu verschleppen.
So wurden auch wir am 18.Jänner 1945, im tiefsten Winter, ohne geeignete
notwendige Kleidung, zum Großteil ohne Schuhwerk und ohne Verpflegung
aus den Baracken getrieben und mußten mehrere Tage in langen Kolonnen
marschieren, begleitet und bewacht von SS- Männern mit Bluthunden.
Zurückbleibende wurden von der SS an Ort und Stelle erschossen,
sobald sie vor Erschöpfung sich am Rande des Weges hinsetzten. Und
ständig war unser Weg vom Donner der Gewehrschüsse begleitet.
Zum Übernachten wurden wir in riesige Heuschober und Ställe getrieben,
von wo wir am darauffolgenden Morgen weiter mußten. Bevor wir weiter
marschierten, durchkämmte die SS mit großen Heugabeln das Heu, um
zu verhindern, daß sich einige der Frauen im Heu versteckt hielten.
Unsere Verpflegung bestand aus den wenigen Würfel Zucker, die unsere
Kameradin Betty Wenz (spätere Hirsch) aus der Lagerküche mitnehmen
konnte und die sie mit uns anderen Häftlingen teilte. Den Durst
konnten wir nur mit Schnee stillen.
Wie lange dieser Fußmarsch dauerte weiß ich nicht mehr, vielleicht
3 Tage. Anschließend mußten wir auf offene Kohlenwaggons, in denen
wir dicht aneinander gedrängt am Boden hockten, oder auf Brettern
an den Seiten saßen und bald waren wir völlig eingeschneit. Viele
Frauen hatten schwere Erfrierungen an den Füßen, aber unsere Freundin,
Anna Amster, eine gelernte Krankenschwester, die am spanischen Bürgerkrieg
teilgenommen hatte, drängte sich von einer Frau zur anderen, kniete
nieder um ihnen die Füße zu massieren, um so ein Abfrieren der Füße
zu verhindern. Und das obwohl sie selbst fror und hungerte. Die
Fahrt im Kohlenwagen dauerte auch mindestens 2 Tage glaube ich oder
länger, bis wir nach Ravensbrück kamen. Als unser Zug einmal auf
einem Rangierbahnhof anhielt, sahen wir auf dem Parallelgleis einen
ganzen Zug mit deutschen Soldaten stehen. Unser Durst war enorm
und wir baten die Soldaten laut um Wasser. Auf die Fragen der Soldaten
wer wir seien und von wo wir kämen, gaben wir über unser Schicksal
Auskunft. Nur ein einziger Soldat, ein etwas älterer, der Sprache
nach ein Wiener wie ich, war so barmherzig, holte aus seinem Waggon
eine mit Wasser gefüllte Feldflasche und reichte sie mir. Sie ging
sofort von Mund zu Mund bis sie leer war. Wir fuhren auch durch
Berlin und es gelang mir auf ein Stückchen Papier ein paar Worte
über unseren Leidensweg zu schreiben und es wegflattern zu lassen.
Ob es wohl jemand gefunden hat und was mag er sich dabei gedacht
haben? Immer wieder habe ich versucht, wo ich auch war, Kontakte
zu schaffen und Menschen auf uns aufmerksam zu machen.
In Ravensbrück angekommen, mußten wir, total erschöpft, ausgehungert
und fast erfroren einen Tag und eine Nacht an der Lagermauer stehen.
Wir hatten großen Durst und trotz der Erschöpfung das Bedürfnis
uns zu reinigen. Wir zogen uns aus, rieben uns mit Schnee ab und
versuchten unseren Durst mit dem Schnee zu stillen, den wir mit
den Händen zusammenkratzten.
Am nächsten Tag kamen wir in ein Zelt. Unser Zelt hatte die Ausmaße
eines Zirkuszeltes. Von der SS wurden wir hineingetrieben, mir schien
es waren mehr als tausend Frauen. Wir hatten so wenig Platz, daß
wir eng aneinander gedrängt, mit angezogenen Beinen am Boden saßen.
Es gab keine sanitären Einrichtungen. Die Frauen, die noch die Kraft
hatten, mußten sich über die Körper der anderen den Weg zum Ausgang
erkämpfen um ihre Notdurft zu verrichten. Außerhalb des Zeltes war
ein Graben ausgehoben, der als sogenannte "Latrine" diente.
Die Zustände im Zelt waren unerträglich. Alle Frauen waren nach
den Tagen des Marsches und der Bahnfahrt völlig entkräftet und mit
den Nerven am Ende. Sie alle waren so angespannt, daß schon der
geringste Anlaß die Frauen außer Rand und Band brachte. Die Luft
war unerträglich, da viele Frauen ja nicht mehr die Kraft hatten,
sich den Weg nach Außen, über die Körper der anderen hinweg, zu
erkämpfen.
Zu all dem kam noch, daß so viele Frauen verlaust waren, da man
sich ja schon vorher nicht waschen konnte und auch nicht während
dieses qualvollen Marsches, auch nicht in den Kohlenwagen. Viele,
die keine Läuse hatten, wurden von ihren Nachbarinnen angesteckt.
Viele Frauen hatten gefrorene Füße und offene Wunden und jammerten
und stöhnten. Bei Tag und Nacht wurde geschrien, gestritten und
gestöhnt, man hockte so eng beieinander, daß man keine Ruhe finden
konnte, schon gar nicht schlafen. In dieser Situation, am zweiten
Tag im Zelt, wurde Suppe in Kesseln zum Zelteingang gestellt.
Alle stürzten sich schreiend, raufend ineinander verkeilt vorwärts,
dem Eingang und dem Essen entgegen. Aber nur wenige, vor allem jene,
die nahe dem Eingang waren und da auch nur die Stärksten, kamen
bis zum Kessel. In der wüsten Rauferei um die Suppe wurde der Kessel
von einem SS-Mann mit dem Fuß umgestoßen und die ganze Suppe ergoß
sich auf den Boden. Für die SS-Leute war dies ein belustigendes
Schauspiel, für die armen verhungerten Frauen jedoch war dies eine
neuerliche Qual und grausame Erniedrigung. Sie hätten die Frauen
ja nur, wie bei vielen anderen Gelegenheiten, anstellen lassen können
und jede wäre zu etwas warmer Suppe gekommen Dieses Schauspiel hat
die SS bewußt inszeniert, um die Frauen gegeneinander zu hetzen,
sie zu entwürdigen und ihnen den letzten Rest von Menschlichkeit
zu rauben.
Später am selben Tag bekam unsere kleine österreichische Gruppe
zum ersten Mal seit dem Abmarsch von Auschwitz etwas warmes zum
Essen.
Eine Zeltplane wurde von außen aufgehoben und jemand fragte, ob
Österreicherinnen im Zelt seien. Als wir uns zur Plache durchgedrängt
hatten, bekamen wir von österreichischen Häftlingen einen Wecken
Brot und eine warme Suppe, die sie für uns organisiert hatten. Die
Solidarität der österreichischen Frauen war ganz groß.
Anni Hand, eine Kampfgefährtin, die ich noch aus Belgien von unserer
österreichischen Widerstandsgruppe kannte, holte mich und die paar
anderen Frauen aus Österreich aus dem Zelt heraus. Sie übergab uns
an Anni Schefzig und Mizzi Grassinger, die uns zu echten Duschen
brachten. Für uns war dies eine richtige Labsal, nach all dem, was
wir vorher erlebt hatten, Die illegale Lagerorganisation beschaffte
uns statt der jüdischen Winkel, sogenannte arische, politische rote
Winkel, durch die wir geschützter waren. Da es einige Funktionshäftlinge
gab, die in der Lagerverwaltung arbeiteten, konnten sie einen Tausch
der roten Winkel vornehmen. Diese roten Winkel und die dazugehörigen
Häftlingsnummern stammten von bereits verstorbenen Häftlingen.
Und dann hatte ich ein Erlebnis, daß ich auch nie vergessen werde.
Auf der Lagerstraße kommt mir die Friedl Sedlacek entgegen. Wir
kannten uns aus der Jugend, wohnten im selben Bezirk in Wien und
waren in derselben, damals bereits illegalen Jugendgruppe tätig.
Wir erkannten einander sofort und sie nahm mich gleich zu sich auf
den Block und teilte mit mir ihre Schlafgelegenheit. Dieser Akt
der Solidarität und Freundschaft war gar nicht so selbstverständlich,
er war sehr mutig, denn ihre solidarische Handlung hätte sie in
ernste Schwierigkeiten mit der SS- Lagerleitung bringen können.
Bei ihr fühlte ich mich geborgen und geschützt.
Und in der ersten Nacht bei ihr höre ich plötzlich ein schreckliches
Metallrasseln und Klirren. Nach all meinen Erlebnissen und Erfahrungen
haben mich diese Geräusche ganz fürchterlich erschreckt. Friedl
versuchte mich zu beruhigen, aber ich überredete sie doch aus dem
Fenster zu steigen und nachzusehen von wo diese für mich so schrecklichen
Geräusche kämen. Sie kommt lachend zurück und sagt: Für die SS werden
Bierkisten ausgeladen.
Wenige Tage später wurde ich mit zwei Freundinnen, die mit mir aus
Auschwitz gekommen waren, in die Uckermark, in das Vernichtungslager
verschickt. Dort war ich bis kurz vor Ende des Krieges.
Daß der Krieg für Nazi-Deutschland verloren war und bald zu Ende
sein würde, wußten wir. Was wir aber nicht wußten : Werden wir das
Ende überleben, um Zeugnis abgeben zu können was alles geschehen
war und haben Verwandte und Freunde das Grauen überlebt und werden
wir sie je wieder finden? In den letzte Apriltagen 1945 herrschte
im Konzentrationslager Ravensbrück großes Durcheinander, Mit den
wenigen Überlebenden aus der Uckermark, eines der vielen Nebenlager
von Ravensbrück, das zu dieser Zeit ein Vernichtungslager war und
wo über 4000 Frauen, Belgierinnen, Französinnen, alte deutsche Sozialdemokratinnen,
die zum Teil fast zwölf Jahre inhaftiert waren, und viele andere,
ermordet wurden, kam ich ins Hauptlager nach Ravensbrück zurück.
Zu diesem Zeitpukt wurde dort der Transport von ca 3500 Frauen mit
Autobussen nach Schweden zusammengestellt. Es waren hauptsächlich
Französinnen und Polinnen die auf diese Weise, noch kurz vor der
deutschen Kapitulation, in die Freiheit gelangten. Der schwedische
Diplomat, Graf Bernadotte, konnte diese Konzession den Deutschen
abringen. Meine Freundin Juci Fürst und ich sollten auch nach Schweden
mitgehen. Wir sahen aber, daß der Krieg zu Ende ging und wollten
so rasch wie möglich nach Hause.
Die Rot-Kreuz Busse fuhren ab und uns wurde befohlen zum Abmarsch
anzustellen. So blieb ich mit Juci zusammen und wir bekamen gemeinsam,
so wie die anderen Häftlinge, ein amerikanisches CARE- Paket, wohl
für den Weg. Woher die Pakete ins Lager gekommen waren weiß ich
nicht, vermutlich haben sie die schwedischen Rot-Kreuz Busse gebracht.
Wir wußten nicht wohin der Häftlingszug gehen sollte, aber nach
unserer Erfahrung in den Lagern und auf dem Todesmarsch von Auschwitz
waren Juci und ich fest entschlossen in kein weiteres Nazilager
zu gehen. Angesichts der Nähe der russischen Front, man hörte ständig
Geschützdonner und Flugzeuglärm, beschlossen wir, bei der ersten
sich bietenden Gelegenheit, zu flüchten. Die Kolonnen mit den Häftlingen
mußten unter Bewachung von SS-Leuten mit Gewehren und Hunden aus
dem Lager marschieren, mit für uns unbekanntem Ziel. Nach mehreren
Stunden, ich weiß nicht wie viele, es war inzwischen dunkel geworden,
kamen wir an einem Wald vorbei. Juci und ich versuchten unauffällig
langsamer zu werden, so daß wir schließlich am Ende des Zuges waren
und die Bewacher mit ihren Gewehren und Hunden vor uns. In so einem
Augenblick packten Juci und ich uns bei den Händen und rannten so
schnell es unsere Kräfte erlaubten in den Wald. Wir hatten Glück
und erreichten seinen Schutz bevor unser Verschwinden entdeckt wurde.
Das Herz pochte mir bis in den Hals.
Vor Aufregung und der Anstrengung waren wir beide so erschöpft,
daß wir uns am Waldesrand in der Dunkelheit hinlegen mußten und
sofort einschliefen. Als wir in der Morgendämmerung vom Lärm aufgeweckt
wurden, gewahrten wir auf der Straße am Waldesrand einen unendlichen
Treck von Menschen mit Bündeln und Taschen, zum Teil mit Pferdefuhrwerken
und Karren, so wie man es jetzt häufig in den Nachrichten aus den
verschiedenen Kriesengebieten sieht. Es waren zumeist Deutsche,
die vor der herannahenden russischen Front in Richtung Westen flüchteten,
aber auch polnische und andere Zwangsarbeiter, Männer und Frauen,
die in den Westen wollten. Juci und ich rafften uns auf und begannen
in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Für uns bedeuteten die
sowjetischen Truppen die Freiheit. An unsrer Kleidung war nicht
unmittelbar zu erkennen, daß wir KZ-Häftlinge waren und die Flüchtenden
deuteten uns immer wieder, daß wir in der falschen Richtung gingen.
Für uns aber war es die Richtige. Der Geschützdonner kam immer näher
und sowjetische Tiefflieger flogen über uns hinweg. Man konnte den
Stern deutlich erkennen. Uns lachte das Herz, aber die Menschen
auf der Landstraße warnten uns immer wieder, wir sollten nicht auf
die Front zu in Richtung Russen gehen. Sie fürchteten die Rache
der russischen Soldaten nach all dem was Deutsche in Rußland verbrochen
hatten. Es wurde bald dunkel und so gingen wir wieder von der Straße
in den nahen Wald, um für die Nacht einen Unterschlupf zu finden.
Im Wald sahen wir schon Menschen in gestreifter Häftlingskleidung,
die sich so wie wir vom Flüchtlingsstrom abgesetzt hatten und sich
im Wald versteckten.
Juci und ich suchten uns eine Vertiefung, die wir mit Zweigen abdeckten
und bauten uns so für die zweite Nacht außerhalb des KZ-Lagers eine
Art Unterstand. Wir konnten uns mit Hilfe der Dinge im Care-Paket
einen Tee kochen und auch etwas essen. Dann deckten wir unseren
primitiven Unterstand mit Zweigen ab und schliefen ein. Ein Rascheln
weckte uns im Morgengrauen. Juci und ich waren starr vor Schreck
und lauerten auf das, was jetzt kommen würde. Da wurde von außen
die Abdeckung beiseite geschoben und ich erblickte eine russische
Armeemütze mit einem roten Stern. Juci und ich vielen uns in die
Arme: Wir sind frei !
Rotarmisten durchkämmten den Wald nach versprengten deutschen Soldaten,
die Front war während der Nacht über uns hinweg gerollt. Wir eilten
auf die Straße und winkten den sowjetischen Tanks zu, die in Richtung
Westen zur nahen Front fuhren, Viele Soldaten saßen auf den Fahrzeugen
und hielten rote Fahnen hoch und die Tanks trugen Aufschriften.
So konnten wir entziffern, daß wir am 1. Mai befreit worden waren.
Sowjet-Soldaten standen auf der Staße, wir versuchten einige Worte
zu wechseln und gaben uns als KZ-Häftlinge zu erkennen. Sie wollten
uns mit Brot und Wodka bewirten, aber wir wußten nach dem jahrelangen
Hungern wäre so eine Kost für uns verhängnisvoll gewesen.
Plötzlich bemerkte ich, daß meine Freundin Juci verschwunden war.
Erschrocken blickte ich mich um und entdeckte sie im Straßengraben
mit einem jungen Rotarmisten sitzend.. Ich schaute näher hin und
sah, daß beide bitterlich weinten. Der Soldat aus Leningrad konnte
einige Brocken Deutsch und hatte ihr das Schicksal seiner Familie
erzählt, die von den Deutschen umgebracht worden waren. Und Juci
hatte ihm über ihre Familie und von unseren schrecklichen Erlebnissen
in den Nazi-Lagern erzählt. So war unsere Befreiung Freude und Erinnern
an das entsetzliche Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus
über die Menschen gebracht hatte.
Nach einer längeren Odyssee, die uns noch einmal auch nach Brüssel
führte, kam ich schließlich nach Wien. Mein erster Weg führte mich
in die Liechtensteinstraße zu dem Haus wo ich vor dem Krieg mit
meiner Mutter und mit meinen Geschwistern gelebt hatte.
Da steht ganz unerwartet die Mutter meiner besten Schulfreundin
vor mir: "Was ! Du bist zurückgekommen ? Du lebst ?" waren
ihre überraschten Worte. "Und wo ist die Mama ?" - Die
ist ermordet worden.! Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres
Wort. Weder der Freude, noch der Trauer.
Der Hamburger Kriegsverbrecherprozess.
Trotz meines schlechten physischen und auch psychischen Zustandes,
ich fürchtete jeden Arzt oder Beamten und war allen gegenüber schrecklich
mißtrauisch, entschloß ich mich Anfang 1947 als Zeugin zum Ravensbrücker
Kriegsverbrecherprozess nach Hamburg zu fahren.
Ich wurde von der Angeklagten Vera Salwequart als Entlastungzeugin
genannt. Vera Salwequart war ein Funktionshäftling im Krankenrevier
des sogenannten Jugendlagers Uckermark, die gemeinsam mit den zwei
SS-Leuten Rapp und Köhler dort kranke KZ-Häftlinge vergiftete, die
dann unter schrecklichen Qualen starben.
Die kranken KZ-Häftlinge wollten sich von den beiden SS-Männern
keine Injektionen mehr geben lassen, da sie Böses vermuteten und
keine der Kranken das Revier lebend verließ. Von Salwequart jedoch
bekamen sie Brot mit Honig, in den ein weißes Pulver, nämlich Strychnin,
gemischt war. Sie ahnten nicht, daß dieser freundliche Funktionshäftling
mit den SS-Leuten unter einer Decke steckte und so starben die Frauen,
unter ihnen viele alte deutsche Sozialdemokratinnen, die zum Teil
schon seit 12 Jahren im Lager waren, unter großen Qualen. Meine
zwei Freundinnen, Juci Fürst und Anna Amster, im Hauptlager, hatten
beide keine Schuhe und ich sprach Vera Salwequart um Schuhe für
die Beiden an. Sie gab mir tatsächlich welche von den toten Frauen,
die sie umgebracht hatte und ich konnte so meinen Freundinnen das
Leben retten, denn ohne Schuhe um diese Jahreszeit wäre dies der
sichere Tod für sie gewesen. Als man nun nach Kriegsende gegen Vera
Salwequart Anklage wegen Mordes erhob, gab sie als Beweis für ihre
Unschuld an, sie wäre zu den Häftlingen freundlich gewesen und hätte
mir Schuhe geschenkt.
Von dem deutschen Verteidiger der Salwequart sollten mir drei Fragen
gestellt werden, die ich nur mit Ja oder Nein beantworten durfte.
Es gelang mir jedoch so zu antworten, daß der Verteidiger auf die
dritte Frage verzichtete. Der britische Ankläger rief mich nochmals
in den Zeugenstand und ich hatte die Möglichkeit genau zu schildern,
was ich gesehen hatte und von wem die Schuhen stammten, die Vera
Salwequart mir für meine Freundinnen schenkte. Nach meiner Aussage
umringten mich die vielen ausländischen Beobachter, die den Prozess
verfolgten und gratulierten mir zu meiner Haltung.
Es war nur schade, daß ich den Brief, den der deutsche Verteidiger
von Salwequart mir nach Wien geschickt hatte und in dem er mir vorschrieb,
wie ich auf seine Fragen antworten sollte, noch nicht hatte. Ich
fand ihn erst nach meiner Rückkehr vom Prozess in Wien vor. Es wäre
ein unerhörter Eklat gewesen, wenn ich diesen Brief dort vorzeigen
hätte können. Den deutschen Anwälten der Mörder war jedes Mittel
recht, um sie ihrer Strafe zu entziehen.
Lotte Brainin (2007)
Nachbemerkung:
Der Prozeß endete damit, daß auch durch die Aussage von Lotte Brainin
Frau Salwequart ihre gerechte Strafe bekam. Sie wurde hingerichtet.
Ausschnitt
aus der Dokumentation
"Lotte
Brainin, Leben mit Eigenwillen und Mut",
erschienen in der Edition VISIBLE, erhältlich
unterb.dewald@silverserver.at
Mit
freundlicher Genehmigung von Bernadette Dewald
HUGO:
8. Mai 1945
Am 8. Mai 1945 hatte ich das Glück, mit mehreren hunderttausend Menschen am Trafalgarsquare in London, den Sieg der Alliierten Mächte über das verbrecherische Nazideutschland, mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, zu feiern. Dem größten Verbrechen der Weltgeschichte, dem industriellen Massenmord von Millionen Menschen in den Nazi-Konzentrationslagern, konnte ein Ende bereitet werden.
Zur selben Zeit wurde meine spätere Frau, die gemeinsam mit ihrer Freundin beim Abmarsch vom Nazikonzentrationslager Ravensbrück in den nahe gelegenen Wald flüchten konnte und sich dort in einem notdürftigen Unterstand verborgen hatte, von Soldaten der Sowjetarmee befreit. So konnte auch sie die Befreiung und den Sieg über Nazideutschland erleben.
Einige Führer des verbrecherischen Naziregimes hatten sich bereits selbst umgebracht, während andere versuchten, durch Untertauchen, ihrer Strafe zu entgehen.
Noch zur selben Zeit hatte ein Nazi-Scharfrichter in Norddeutschland mehrere Soldaten wegen Dienstverweigerung noch hinrichten lassen und ähnliche Fälle aus Österreich sind ja auch bekannt. Die Besitzer der deutschen Rüstungskonzerne versuchten, ihr durch Raub und Zwangsarbeit angehäuftes Vermögen, ins Trockene zu bringen. Stiftungen in mehreren Ländern, im Besitze der Erben sind das Ergebnis.
Die deutsche Firma TOPF, Hersteller der Verbrennungsöfen in den Krematorien der Nazikonzentrationslager, konnte nach dem Krieg, das von ihnen entwickelte Verbrennungssystem, in Deutschland zum Patent anmelden.
Trotz der vernichtenden militärischen und moralischen Niederlage des verbrechischen Naziregimes, gibt es noch immer Unverbesserliche, die es nicht lassen können. Diesen Kräften muß man kompromißlos und mit aller Konsequenz entgegentreten.
"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch". (Bert Brecht)
8.Mai 2012
Lotte und Hugo Brainin, umgeben von ihrer Familie (2004)