Lotte Brainin

geb. 12.11.1920
gest. 16.12.2020

 

ONLINE Einladung 100. Geburtstag von Lotte Brainin / ONLINE Invitation 100th birthday of Lotte Brainin

Lotte ist die Schwester Claire Felsenburgs, die mit meinem Cousin Walter Felsenburg verheiratet war. Sie ist jene Schwester, die Auschwitz und Ravensbrück überlebt hat.

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz durch die 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Oberbefehl von Generaloberst Pawel Alexejewitsch Kurotschkin befreit.

Nach einer kleinen Einleitung spricht sie hier selbst.

Lotte S. wird als fünftes und jüngstes Kind von Jetti und Maurici 1920 in Wien geboren. Die Eltern flüchteten zu Beginn des ersten Weltkrieges aus der Ukraine, die damals Teil des Habsburgerreiches war, nach Wien. Die zwei ältesten Geschwister kamen noch in der Ukraine zur Welt, die drei jüngeren schon in Wien.

Wie die meisten Zuwanderer aus Osteuropa verschlug es sie in den 20. Wiener Gemeindebezirk, in die Brigittenau. Sie lebten in äußerst ärmlichen Verhältnissen, wurden delogiert, da der Vater arbeitslos war und sie die Miete nicht bezahlen konnten. Sie bekamen zeitweise ein Notstandsquartier in der Roßauerkaserne zugewiesen. Es ist die Mutter, die die Familie durch Näharbeiten notdürftig erhält und zusammenhält. Schließlich bekommen sie eine Zweizimmerwohnung im 9.Bezirk, wo Lotte auch die Volks- und Hauptschule besucht. Noch dazu wird sie, ein sehr armes Kind, von ihrer Volkschullehrerin sehr schlecht behandelt. Erst eine andere Lehrerin versteht es, auf sie einzugehen und hilft ihr, eine gute Schülerin zu werden. Die Glöcklsche Schulreform hat auch neue Lehrer in die Schulen gebracht. Dem Vater gelingt es nicht, Fuß zu fassen, er ist fast immer arbeitslos und seine Frustration wirkt sich auf das Familienleben entsprechend aus, Als Lotte 15 Jahre alt ist, läßt sich die Mutter scheiden.

Die Familie war immer sozialdemokratisch orientiert und so kam Lotte durch ihren Bruder Eli, der ein Jahr älter ist als sie, zu den Roten Falken. Nach dem Verbot der sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen und dem Bürgerkrieg im Februar 1934 bleiben die beiden Geschwister weiter aktiv in der illegalen sozialistischen und später kommunistischen Jugendorganisation.

Lotte wird von den Ideen des Sozialismus und vom Gedanken der Solidarität geprägt. Auf der einen Seite das Beispiel ihrer Mutter, die schwer arbeiten muß, um ihre fünf Kinder zu erhalten , aber trotzdem immer wieder bereit ist, noch Ärmere bei sich aufzunehmen und zu verköstigen und ihnen in ihrer Not beizustehen, und die Erfahrungen in der Jugendgruppe auf der anderen Seite, die gemein- samen Diskussionen und Vorträge, die praktizierte Solidarität bei Ausflügen und Jugendlagern bestimmen ihre Haltung und ihren weiteren Werdegang. Immer wieder erzählt sie, wie in ihrer Gruppe, wo es viele arme Kinder gab, aber auch Kinder aus wohlhabenden Familien, bei Ausflügen " Proviantur" gemacht wurde. Das bedeutete, daß alle Kinder ihr mitgebrachtes Essen zusammenlegten, die Schnitzel der einen und das karge Brot der anderen, und alles ganz genau auf alle aufgeteilt wurde. Sie war voller Begeisterung für den Sozialismus und voller Bewunderung für die junge Sowjet-Union.

Durch die herrschende Arbeitslosigkeit konnte sie keinen Beruf erlernen und war froh, eine Arbeit als Hilfsarbeiterin in einer Schuhfabrik zu bekommen. Diese Erfahrung bewirkte, daß sie in späteren Jahren sehr darauf bedacht war, daß ihre beiden Töchter ja lernen konnten und ihre Studien erfolgreich abschlossen. Nach der Besetzung Österreichs durch Nazideutschland mußte sie Wien bald verlassen und flüchtete mit einer Freundin nach Belgien, wohin ihre beiden Brüder bereits geflüchtet waren und ihr bei ihrer Flucht behilflich sein konnten. Ihr Vater wurde in Buchenwald ermordet, während es der Mutter gelang, zu den drei Geschwistern, auch auf illegalem Wege nach Belgien zu kommen. Die Wohnung und das Wenige, das die Mutter in Wien noch hatte, wurden ihr von den Nazis auch noch weggenommen.

Das Zusammenleben der Familie war jedoch nur von kurzer Dauer. Nach der Besetzung Belgiens durch Nazideutschland wird die Familie zerrissen, die beiden Brüder flüchten vor den Deutschen in das noch unbesetzte Frankreich, die Mutter und Lotte versuchen, nach Dünkirchen zu gelangen. Sie mußten jedoch bald in das von den Deutschen besetzte Brüssel zurückkehren. Dort leben sie getrennt, da Lotte in einer österreichischen Widerstandsgruppe aktiv ist und ihre Mutter nicht gefährden will.

Ihr weiteres Schicksal schildert Lotte selbst. Ihre Mutter wird, wie fast alle Juden, in Belgien ins Sammellager gebracht und von dort in Viehwaggons gepfercht nach Auschwitz transportiert. Die Mutter wird direkt von der Rampe weg in der Gaskammer von der SS umgebracht.

Die beiden Brüder konnten sich in die Schweiz und nach Südfrankreich retten, ebenso wie eine der beiden Schwestern. Die andere Schwester gelangte nach England und lebte dort bis nach Kriegsende mit ihrem Mann. Lotte flüchtet schließlich mit einer Freundin bei der Evakuierung von Ravensbrück und wird, nachdem sie in einem Wald versteckt waren, von der Sowjet-Armee befreit und kam zuerst nach Brüssel zurück und schließlich im Juli 1945 nach Wien.

Hier war sie allein , ohne Familie. Was mit ihren Geschwistern geschehen war, wußte sie nur zum Teil, aber daß der Vater in Buchenwald umgebracht worden war und die Mutter in Auschwitz vergast, wußte sie sehr wohl... Allein geblieben, war sie auf die Hilfe von KZ-Kameraden und von Freunden aus der belgischen Emigration angewiesen, bei denen sie vorläufig wohnte bis sie eine kleine Einzimmerwohnung zugewiesen bekam. Sofort nimmt sie eine Freundin, die sie im KZ kennengelernt hatte und die selbst völlig allein war und keinerlei Unterkunft hatte, bei sich auf. Lotte beginnt sehr rasch zu arbeiten, als Sekretärin in der Redaktion der „Volkstimme“, schafft sich wieder einen Freundeskreis und lernt Ende 1946 ihren späteren Mann kennen.

Lotte leidet sehr, sowohl unter den Erinnerungen als auch an den physischen Folgen der qualvollen Gestapoverhöre und den schrecklichen Bedingungen der KZ-Haft. Erst mit der Schwangerschaft und der Geburt der ersten Tochter hören die Alpträume auf.

Die Sorge um die Familie und die Alltagsprobleme tragen dazu bei, daß sich das Leben normalisiert, aber die Vergangenheit ist immer präsent und verpflichtet zu gesellschaftlicher Aktivität in den verschiedenen KZ-Organisationen und, als Zeitzeugin, zur Teilnahme bei Diskussionen in Schulen und anderen Anlässen. Im Folgenden lassen wir Lotte selbst zu Wort kommen in ihren Berichten zu Auschwitz, Ravensbrück und ihre Befreiung durch die Rote Armee und schließlich ihre Erlebnisse beim Hamburger Kriegsverbrecherprozess.

LOTTE:

Die vier Heldinnen von der "Union"

Am 6. Jänner 1945 hieß es nach dem Abendappell und vor dem Einrücken in die Fabrik zur Nachtschicht: " Alle Antreten! " Wir mußten mit ansehen wie Alla Gärtner und Regina Saphirstein von den SS-Leuten erhängt wurden.

Nach der Rückkehr der Tagschicht mußte auch diese zum Appell antreten und zusehen, wie Rosa Robota und Esther Weissblum ebenfalls am Galgen von den SS Leuten ermordet wurden. Wenige Tage vor der Flucht der SS-Wachmannschaften vor den heranrückenden sowjetischen Soldaten und der Auflösung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau rächte sich die SS an den vier Heldinnen, die durch ihren Mut und Geschicklichkeit den Aufstand des Sonderkommandos ermöglicht hatten.

Monate hindurch hatten die Mädchen Sprengstoff aus der Pulverkammer der Fabrik "Weichsel-Metall-Union", einer der vielen Fabriken, die von der deutschen Kriegsindustrie rund um das Konzentrationslager Auschwitz errichtet worden waren, in kleinsten Mengen und unter Mithilfe vieler dort beschäftigter Frauen und Mädchen herausgeschmuggelt. Der Sprengstoff ging durch viele Hände, oft ohne daß die Beteiligten wußten, was in den winzigen Päckchen enthalten war. Sie beförderten die Päckchen versteckt in den Knoten der Kopftücher und auf andere Weise. Der Sprengstoff gelangte in die Kleiderkammer, wo Rosa Robota arbeitete. Von dort wurden die winzigen kleinen Mengen Sprengpulver zu den Männern des Sonderkommandos weitergereicht, die daraus Sprengkörper herstellten.

Das Netz dieser jüdischen Widerstandsgruppe spannte sich von der Munitionsfabrik bis zum Sonderkommando, das bei den Krematorien arbeitete. Mit ihrem Aufstand, der auch ihnen das Leben kosten würde, wollten die Männer die Krematorien zerstören, um das weitere Masse morden zu unterbinden.

Ich selbst arbeitete in der "Union" in der Kontrollabteilung. Es war ein langer und qualvoller Weg, der mich von Wien über die Flucht nach Belgien, kurz nach der Besetzung Österreichs durch die Deutschen, bis hierher nach Auschwitz brachte. Aus Wien mußte ich so rasch wie möglich weg, da ich bereits als 15-Jährige, bei einer illegalen Zusammenkunft im Jahre 1935 verhaftet wurde und als Rädelsführerin zu drei Wochen Polizeiarrest verurteilt worden war.

Diese drei Wochen mußte ich im Polizeigefängnis Elisabethpromenade, bekannt als " Liesl " absitzen. Dorthin wurde ich von der Zelle des Polizeikommissariats Boltzmanngasse gebracht. Meine Kameraden in Wien rieten mir, aus dem von den Deutschen besetzten Österreich so rasch wie möglich zu verschwinden, da ich als Jüdin und polizeibekannte Antifaschistin doppelt gefährdet war. In den vergangenen Jahren hatte mich die Polizei jeweils zum 12. Februar geholt, um mich für einen Tag und eine Nacht in Gewahrsam zu nehmen. Meine Jugendfreunde Fritzi Mutzika und Fredi Rabovski, sie wurden beide von den Deutschen während des Krieges im Jahre 1944 wegen Hochverrats geköpft, verkauften damals ihre wenigen Habseligkeiten, damit ich eine Bahnfahrkarte nach Köln kaufen konnte, da ich selbst völlig ohne Mittel war. Von Aachen mußte ich illegal über die Grenze nach Belgien.

In Brüssel fand ich rasch Kontakt zu den österreichischen politischen Flüchtlingen. Bald hatten wir eine antifaschistische Jugendgruppe und wir versuchten unter anderem österreichische Kultur interessierten Belgiern näherzubringen. Bei unseren Zusammenkünften hörten wir Vorträge von Alfred Klahr, Albert Hirsch, Moritz Margules, Josef Sieder und von anderen. Zu unserer Jugendgruppe gehörte auch Kurt Hacker, dem ich in Auschwitz wieder begegnete.

Auch Alfred Klahr traf ich in Auschwitz wieder. Juci Fürst, die ich noch aus Wien kannte, gehörte ebenfalls zu unserer Jugendgruppe. Sie kam auch nach Auschwitz und mit ihr flüchtete ich schließlich kurz vor der Befreiung bei der Evakuierung von Ravensbrück zu den heranrückenden sowjetishen Truppen.

Erst nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjet-Union im Jahre 1941 begann unsere Gruppe in Brüssel mit Aktivitäten gegen den Krieg, in Form von Aufklärungsarbeit mit deutschen Soldaten. Im Juni 1943 wurde ich von der Deutschen Militärpolizei verhaftet, nachdem ich einem Wehrmachtsangehörigen eine von uns verfaßte Antikriegszeitung übergeben hatte. Mit diesem Soldaten, er stammte aus Kärnten, hatte ich mich schon vorher getroffen und über die Unmenschlichkeit des Krieges diskutiert. Ich ahnte nicht, daß er mich verraten würde. Die Verhöre mit den üblichen Gestapomethoden dauerten Monate, da ich meine Kameraden nicht preisgab und auch meinen richtigen Namen nicht sagte. Durch das Geständnis einer später verhafteten Freundin wurde meine richtige Identität jedoch bekannt und aus Wien bestätigt. Während der Verhöre war ich in einer Einzelzelle im Cachot in Malines, einem Sammellager für die Deportierung der jüdischen Bevölkerung aus Belgien. In der Neben- zelle befand sich ein Wiener namens Toni Habel, der von der deutschen Armee desertiert war und sich als Jude ausgab. Er war bereits an der Ostfront gewesen und wollte nicht an den Greueltaten der Deutschen Wehrmacht beteiligt sein. Meine Freundinnen Hertha Ligeti und Marianne Bradt waren auch im Cachot und kamen mit mir nach Auschwitz. Vor dem Abtransport aus Malines erklärte der deutsche Lagerkommandant Boden den angetretenen Häftlingen, wir kämen in ein Arbeitslager in das nur wenige Stunden entfernte Holland.

Tatsächlich landeten wir nach drei Tagen und Nächten in verschlossenen Viehwaggons, ohne jegliche hygienische Einrichtung, ohne Nahrung und Wasser in Auschwitz. So wurden auch wir wieder belogen und getäuscht. Die Szenen bei der Ankunft wurden schon oft beschrieben. Die ersten zwei Selektionen, die ich in Birkenau erlebte waren Entscheidungen über Leben und Tod. Hätte der SSler mit dem Finger zufällig in die andere Richtung gezeigt, wäre ich in der Gaskammer gelandet, so wie Millionen andere, die ermordet wurden .Es ist nur Zufall, daß ich noch lebe. Nach dem Willen der Nazis dürfte ich als Jüdin nicht mehr am Leben sein. Bei der dritten Selektion wurde ich für die Arbeit in der Fabrik eingeteilt.

In Auschwitz, in einem überdachten Raum arbeiten zu können, erhöhte ganz bedeutend die Überlebenschancen. (Damals, im Winter hatte es dort bis zu 40 Grad unter Null.) Meine Tätigkeit in der Kontrollabteilung der "Union" bestand darin, das Gewinde von kegelförmigen Metallteilen, offenbar Granatköpfen, zu überprüfen.

An einem langen Tisch waren wir ca. 25 Mädchen und Frauen, die die gleiche Arbeit zu verrichten hatten, Wir verständigten uns sehr rasch, trotz der Sprachschwiergkeiten, die Arbeit zu sabotieren, indem wir gute Gewinde zum Ausschuß warfen und schlechte Gewinde zu den Guten. Viele der Mädchen waren aus den verschiedenen Ghettos in Polen nach Auschwitz gebracht worden. Andere, wie Alla Gärtner oder Mala Zimmetbaum, waren aus Belgien oder anderen von den Deutschen besetzten Ländern nach Auschwitz deportiert worden. Manche von ihnen hatten den Aufstand im Warschauer Ghetto miterlebt.

Zu dieser Zeit bestand im Lager bereits eine illegale internationale Widerstandsorganisation und ein Häftling in unserer Fabrik, ein Spanienkämpfer aus Antwerpen namens Robert, stellte die Verbindung zur Widerstandsorganisation im Männerlager her. Kurz darauf kam Alfred Klahr, ich weiß nicht wie lange er schon Häftling in Auschwitz war, in die Fabrik und informierte mich über die Situation in der Freiheit.

Es sollte ein Aufstand, gemeinsam mit den außerhalb des Lagers operierenden polnischen Partisanen, vorbereitet werden, um aus dem Lager flüchten zu können.. Er legte uns Nahe, wenn möglich, Isolierzangen zu beschaffen, um die elektrisch geladene Umzäunung durchschneiden zu können. Ebenso sollten wir Benzinflaschen zur Herstellung von Molotov-Cocktails organisieren. Durch einen Häftling, der als Installateur vom Männerlager in das Frauenlager Birkenau kam, trafen wir Kurt Hacker, der von den Deutschen ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden war. Hertha Ligeti und ich freuten uns einen weiteren Vertrauten zu finden, doch er hatte eine sehr traurige Nachricht für mich. Mein guter Freund, Benedikt Senzer, war nicht mehr am Leben.

Er war bei einer der ersten Flugzettelaktionen in Brüssel, bei einer deutschen Kaserne in Molebeck, angeschossen worden und wurde verhaftet. Kurt erzählte, er war gemeinsam mit ihm im Fort Breendonck, einem mittelalterlichen schrecklichen Gefängnis, wo die Häftlinge von den Deutschen grausamst gefoltert wurden. Von dort brachte man Benni in die Kohlengruben nach Monowitz, einem Außenlager von Auschwitz. Wenige Tage später wurde er in der Gaskammer ermordet.

Wir baten Kurt Hacker uns eine Isolierzange zu beschaffen, was ihm auch gelang. Eine Stubowa (Stubenälteste) in unserem Block, Fanni Dutet war auch eine Vertraute unserer Gruppe. Sie konnte nicht nur die Zange, sondern auch eine Benzinflasche, die wir organisierten, versteckt aufbewahren. Für uns waren diese Gegenstände die Hoffnung auf den Aufstand. Dieser fand leider nicht statt. Zu Betty Wenz, einem Mädchen aus Wien im arischen Block, bekamen wir Kontakt durch Marie Claude Vaillant Couturier, einer französischen Kameradin. Betty war in der Schreibstube beschäftigt und hatte daher größere Bewegungsfreiheit im Lager. Durch Betty lernten wir Herta Rotowa kennen, eine Lagerläuferin, die mit Mala Zimmetbaum zusammengearbeitet hat.

Betty und Herta haben uns sehr geholfen, beim Zusammenhalt unserer Gruppe, indem sie uns wichtige Informationen zukommen ließen und verschiedene Gegenstände verschafften. Durch ihre Funktion hatten sie Zugang zu den verschiedensten Lagerfunktionären und vielen Blocks und Kommanden. Diese Möglichkeiten waren sie bereit für die Gruppe einzusetzen und achteten nicht auf persönlich Sicherheit oder Vorteil. Herta, zum Beispiel, nutzte ihre Kontakte, um mich vom Unionskommando in ein anderes zu versetzen, in die Wollstube.

Die Mädchen an unserem Tisch hatten mich gewarnt, man munkelte bereits, daß ich einer Widerstandsgruppe angehöre. Betty wiederum hat uns bei der Evakuierung, wir waren schon angetreten zum Ab- marsch, der zum Todesmarsch für so viele wurde, einen Sack Würfelzucker gebracht, den wir mit den umstehenden Häftlingen teilten. Sie konnte dies im allerletzten Moment organisieren, denn sie hatte Kontakt zu Frauen, die in der Küche beschäftigt waren.

Dies war nicht nur ein Akt der Solidarität, sondern mit ihrer selbstlosen Handlung hat sie einigen von uns vielleicht das Leben gerettet.

Der Aufstand und die Sprengung eines Krematoriums in Birkenau durch die Häftlinge des Sonderkommandos, war durch die Handlungen der vier Mädchen, gemeinsam mit anderen, ermöglicht worden. Die vier Heldinnen, die ihr Leben eingesetzt hatten, um andere vor dem Tod zu bewahren, mußten sterben. Während wir zum Appell antreten und der Ermordung der vier Mädchen zusehen mußten, versuchte Hanna Weissblum, die 15-jährige Schwester von Esther, in ihrer Verzweiflung zum Galgen zu stürzen, um mit ihrer Schwester zu sterben. Mit Mühe gelang es den Kameradinnen ihres Blocks, das Mädchen davon abzuhalten. Esther hatte in einer aus dem Bunker herausgeschmuggelten Nachricht ihre Freundinnen gebeten, sich ihrer jungen Schwester anzunehmen. Es ist dies eine meiner aufregendsten Erinnerungen.

Wenige Tage später wurden die Häftlinge zusammen getrieben und aus dem Lager gejagt, da die Sowjetarmee näher kam. Man wollte keine lebenden Zeugen zurücklassen, die das von den Deutschen angerichtete Grauen berichten könnten. Nur wenigen Häftlingen gelang es sich zu verstecken. Die meisten Häftlinge, die vor Erschöpfung auf diesem Marsch nicht mehr gehen konnten, wurden auf der Stelle erschossen. Eine blutige Spur von Erschossenen markierte den Weg des Todesmarsches in jenem Jänner 1945 im tiefsten Winter.

Die Überlebenden wurden in offene Kohlenwaggons verladen und ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Berlin und in andere Konzentrationslager transportiert.

Die letzten Stunden in Auschwitz sind mir in gespenstischer Erinnerung. In ihren kopflosen Bemühungen das Ausmaß ihrer Untaten zu verschleiern, versuchte die SS ihre Aufzeichnungen, Listen von Häftlingen, Dokumente etc. zu vernichten Berge von Papier lagen zwischen den Blocks auf den Wegen. Man watete förmlich durch Papier. Wir waren voller Freude, daß das Ende unserer Qualen gekommen war. Wir ahnten nicht, was uns alles auf dem Todesmarsch und bis zu unserer endgültigen Befreiung noch erwarten würde.

Im Laufe der Jahre vergißt man natürlich viele Einzelheiten und Daten, aber einige Ereignisse aus dieser unvorstellbar unmenschlichen und schrecklichen Zeit in Auschwitz kann und will ich nicht vergessen.

Die Hinrichtung von Mala Zimmetbaum im Frauenlager Birkenau, die mit ihrem Freund Edek Galinski einen Fluchtversuch unternommen hatte. Wir mußten Appell stehend der Hinrichtung zusehen.Das sollte als Abschreckung für weitere Fluchtversuche dienen. Bei der Verlesung ihres Urteils konnte Mala mit einer Rasierklinge, die sie im Haar hatte - obwohl Jüdin konnte sie als hoher Funktionshäftling langes Haar tragen - sich die Pulsader durchschneiden und dem neben ihr unter dem Galgen stehenden SS-ler ins Gesicht schlagen. Ohne sie zu erhängen wurde sie schnell zum Krematorium weggebracht. Mala war im ganzen Lager bekannt und beliebt. Sie war als erste Lagerläuferin eingesetzt., beherrschte mehrere Sprachen und hatte vielen Häftlingen und Widerstandsgruppen geholfen. Ihre öffentliche Hinrichtung sollte der Demütigung und Demoralisierung der Häftlinge dienen. Durch ihr mutiges Auftreten wurde dies jedoch zu einer Demütigung der SS und stärkte viele Häftlinge in ihrem Überlebenswillen.

Wann immer im Lager ein Fluchtversuch unternommen wurde, mußten wir zum Appell antreten und meist stundenlang stehen. Wir murmelten immer wieder ; "Glückliche Reise ! Glückliche Reise !" Das Zigeunerlager habe ich immer vor meinen Augen. Es war ein eigener Bereich im Lager Birkenau. Dort waren Männer, Frauen, Kinder gemeinsam und es herrschte ein lebhaftes und buntes Treiben, das ich von meinem Block aus immer wieder beobachtete. Die SS ließ die Familien dort beisammen. Eines Abends , Anfang August 1944 , hieß es "Lagersperre". Wir mußten in unsere Blocks. Türen und Fenster mußten geschlossen bleiben.

Am nächsten Morgen, als wir zur Arbeit ausrückten, war im Zigeunerlager gähnende Leere. Alle Menschen waren verschwunden. Es herrschte Totenstille. In dieser einen Nacht wurden sämtliche Männer, Frauen und Kinder des Zigeunerlagers von der SS in den Gaskammern umgebracht und im Krematorium verbrannt. Einen Tag noch ein buntes, lebhaftes Treiben und am nächsten Morgen war alles ausradiert. Diese Totenstille. Das kann ich nicht vergessen. Ebenso kann und will ich die Ermordung von den hunderttausenden ungarischen Juden nicht vergessen. Wochen hindurch kamen die Züge mit Männer, Frauen und Kindern und wurden direkt von der Rampe weg in Gas getrieben. Die Kamine der Krematorien rauchten ununterbrochen.

Und kurz vor dem Todesmarsch die Hinrichtung der vier Heldinnen, die trotz aller Martern bei ihren Verhören niemanden verraten haben und aufrecht und mutig, voller Verachtung für ihre Peiniger und Mörder zum Galgen gingen. Ihre Moral, ihre Menschlichkeit und Solidarität und ihr Tod sind mir ständig im Gedächtnis und bleiben Vorbild und Verpflichtung, Um die Zeugnisse ihrer Untaten vor der Welt zu verschleiern und um keine lebenden Zeugen zurückzulassen, versuchte die SS beim Herannahen der Sowjet-Armee das gesamte KZ- Lager Auschwitz-Birkenau zu räumen und die noch lebenden tausende Häftlinge nach dem Westen zu verschleppen.

So wurden auch wir am 18.Jänner 1945, im tiefsten Winter, ohne geeignete notwendige Kleidung, zum Großteil ohne Schuhwerk und ohne Verpflegung aus den Baracken getrieben und mußten mehrere Tage in langen Kolonnen marschieren, begleitet und bewacht von SS- Männern mit Bluthunden. Zurückbleibende wurden von der SS an Ort und Stelle erschossen, sobald sie vor Erschöpfung sich am Rande des Weges hinsetzten. Und ständig war unser Weg vom Donner der Gewehrschüsse begleitet.

Zum Übernachten wurden wir in riesige Heuschober und Ställe getrieben, von wo wir am darauffolgenden Morgen weiter mußten. Bevor wir weiter marschierten, durchkämmte die SS mit großen Heugabeln das Heu, um zu verhindern, daß sich einige der Frauen im Heu versteckt hielten. Unsere Verpflegung bestand aus den wenigen Würfel Zucker, die unsere Kameradin Betty Wenz (spätere Hirsch) aus der Lagerküche mitnehmen konnte und die sie mit uns anderen Häftlingen teilte. Den Durst konnten wir nur mit Schnee stillen.

Wie lange dieser Fußmarsch dauerte weiß ich nicht mehr, vielleicht 3 Tage. Anschließend mußten wir auf offene Kohlenwaggons, in denen wir dicht aneinander gedrängt am Boden hockten, oder auf Brettern an den Seiten saßen und bald waren wir völlig eingeschneit. Viele Frauen hatten schwere Erfrierungen an den Füßen, aber unsere Freundin, Anna Amster, eine gelernte Krankenschwester, die am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, drängte sich von einer Frau zur anderen, kniete nieder um ihnen die Füße zu massieren, um so ein Abfrieren der Füße zu verhindern. Und das obwohl sie selbst fror und hungerte. Die Fahrt im Kohlenwagen dauerte auch mindestens 2 Tage glaube ich oder länger, bis wir nach Ravensbrück kamen. Als unser Zug einmal auf einem Rangierbahnhof anhielt, sahen wir auf dem Parallelgleis einen ganzen Zug mit deutschen Soldaten stehen. Unser Durst war enorm und wir baten die Soldaten laut um Wasser. Auf die Fragen der Soldaten wer wir seien und von wo wir kämen, gaben wir über unser Schicksal Auskunft. Nur ein einziger Soldat, ein etwas älterer, der Sprache nach ein Wiener wie ich, war so barmherzig, holte aus seinem Waggon eine mit Wasser gefüllte Feldflasche und reichte sie mir. Sie ging sofort von Mund zu Mund bis sie leer war. Wir fuhren auch durch Berlin und es gelang mir auf ein Stückchen Papier ein paar Worte über unseren Leidensweg zu schreiben und es wegflattern zu lassen. Ob es wohl jemand gefunden hat und was mag er sich dabei gedacht haben? Immer wieder habe ich versucht, wo ich auch war, Kontakte zu schaffen und Menschen auf uns aufmerksam zu machen.

In Ravensbrück angekommen, mußten wir, total erschöpft, ausgehungert und fast erfroren einen Tag und eine Nacht an der Lagermauer stehen. Wir hatten großen Durst und trotz der Erschöpfung das Bedürfnis uns zu reinigen. Wir zogen uns aus, rieben uns mit Schnee ab und versuchten unseren Durst mit dem Schnee zu stillen, den wir mit den Händen zusammenkratzten.

Am nächsten Tag kamen wir in ein Zelt. Unser Zelt hatte die Ausmaße eines Zirkuszeltes. Von der SS wurden wir hineingetrieben, mir schien es waren mehr als tausend Frauen. Wir hatten so wenig Platz, daß wir eng aneinander gedrängt, mit angezogenen Beinen am Boden saßen. Es gab keine sanitären Einrichtungen. Die Frauen, die noch die Kraft hatten, mußten sich über die Körper der anderen den Weg zum Ausgang erkämpfen um ihre Notdurft zu verrichten. Außerhalb des Zeltes war ein Graben ausgehoben, der als sogenannte "Latrine" diente.

Die Zustände im Zelt waren unerträglich. Alle Frauen waren nach den Tagen des Marsches und der Bahnfahrt völlig entkräftet und mit den Nerven am Ende. Sie alle waren so angespannt, daß schon der geringste Anlaß die Frauen außer Rand und Band brachte. Die Luft war unerträglich, da viele Frauen ja nicht mehr die Kraft hatten, sich den Weg nach Außen, über die Körper der anderen hinweg, zu erkämpfen.

Zu all dem kam noch, daß so viele Frauen verlaust waren, da man sich ja schon vorher nicht waschen konnte und auch nicht während dieses qualvollen Marsches, auch nicht in den Kohlenwagen. Viele, die keine Läuse hatten, wurden von ihren Nachbarinnen angesteckt.

Viele Frauen hatten gefrorene Füße und offene Wunden und jammerten und stöhnten. Bei Tag und Nacht wurde geschrien, gestritten und gestöhnt, man hockte so eng beieinander, daß man keine Ruhe finden konnte, schon gar nicht schlafen. In dieser Situation, am zweiten Tag im Zelt, wurde Suppe in Kesseln zum Zelteingang gestellt.

Alle stürzten sich schreiend, raufend ineinander verkeilt vorwärts, dem Eingang und dem Essen entgegen. Aber nur wenige, vor allem jene, die nahe dem Eingang waren und da auch nur die Stärksten, kamen bis zum Kessel. In der wüsten Rauferei um die Suppe wurde der Kessel von einem SS-Mann mit dem Fuß umgestoßen und die ganze Suppe ergoß sich auf den Boden. Für die SS-Leute war dies ein belustigendes Schauspiel, für die armen verhungerten Frauen jedoch war dies eine neuerliche Qual und grausame Erniedrigung. Sie hätten die Frauen ja nur, wie bei vielen anderen Gelegenheiten, anstellen lassen können und jede wäre zu etwas warmer Suppe gekommen Dieses Schauspiel hat die SS bewußt inszeniert, um die Frauen gegeneinander zu hetzen, sie zu entwürdigen und ihnen den letzten Rest von Menschlichkeit zu rauben.

Später am selben Tag bekam unsere kleine österreichische Gruppe zum ersten Mal seit dem Abmarsch von Auschwitz etwas warmes zum Essen.

Eine Zeltplane wurde von außen aufgehoben und jemand fragte, ob Österreicherinnen im Zelt seien. Als wir uns zur Plache durchgedrängt hatten, bekamen wir von österreichischen Häftlingen einen Wecken Brot und eine warme Suppe, die sie für uns organisiert hatten. Die Solidarität der österreichischen Frauen war ganz groß.

Anni Hand, eine Kampfgefährtin, die ich noch aus Belgien von unserer österreichischen Widerstandsgruppe kannte, holte mich und die paar anderen Frauen aus Österreich aus dem Zelt heraus. Sie übergab uns an Anni Schefzig und Mizzi Grassinger, die uns zu echten Duschen brachten. Für uns war dies eine richtige Labsal, nach all dem, was wir vorher erlebt hatten, Die illegale Lagerorganisation beschaffte uns statt der jüdischen Winkel, sogenannte arische, politische rote Winkel, durch die wir geschützter waren. Da es einige Funktionshäftlinge gab, die in der Lagerverwaltung arbeiteten, konnten sie einen Tausch der roten Winkel vornehmen. Diese roten Winkel und die dazugehörigen Häftlingsnummern stammten von bereits verstorbenen Häftlingen.

Und dann hatte ich ein Erlebnis, daß ich auch nie vergessen werde. Auf der Lagerstraße kommt mir die Friedl Sedlacek entgegen. Wir kannten uns aus der Jugend, wohnten im selben Bezirk in Wien und waren in derselben, damals bereits illegalen Jugendgruppe tätig.

Wir erkannten einander sofort und sie nahm mich gleich zu sich auf den Block und teilte mit mir ihre Schlafgelegenheit. Dieser Akt der Solidarität und Freundschaft war gar nicht so selbstverständlich, er war sehr mutig, denn ihre solidarische Handlung hätte sie in ernste Schwierigkeiten mit der SS- Lagerleitung bringen können. Bei ihr fühlte ich mich geborgen und geschützt.

Und in der ersten Nacht bei ihr höre ich plötzlich ein schreckliches Metallrasseln und Klirren. Nach all meinen Erlebnissen und Erfahrungen haben mich diese Geräusche ganz fürchterlich erschreckt. Friedl versuchte mich zu beruhigen, aber ich überredete sie doch aus dem Fenster zu steigen und nachzusehen von wo diese für mich so schrecklichen Geräusche kämen. Sie kommt lachend zurück und sagt: Für die SS werden Bierkisten ausgeladen.

Wenige Tage später wurde ich mit zwei Freundinnen, die mit mir aus Auschwitz gekommen waren, in die Uckermark, in das Vernichtungslager verschickt. Dort war ich bis kurz vor Ende des Krieges.

Daß der Krieg für Nazi-Deutschland verloren war und bald zu Ende sein würde, wußten wir. Was wir aber nicht wußten : Werden wir das Ende überleben, um Zeugnis abgeben zu können was alles geschehen war und haben Verwandte und Freunde das Grauen überlebt und werden wir sie je wieder finden? In den letzte Apriltagen 1945 herrschte im Konzentrationslager Ravensbrück großes Durcheinander, Mit den wenigen Überlebenden aus der Uckermark, eines der vielen Nebenlager von Ravensbrück, das zu dieser Zeit ein Vernichtungslager war und wo über 4000 Frauen, Belgierinnen, Französinnen, alte deutsche Sozialdemokratinnen, die zum Teil fast zwölf Jahre inhaftiert waren, und viele andere, ermordet wurden, kam ich ins Hauptlager nach Ravensbrück zurück. Zu diesem Zeitpukt wurde dort der Transport von ca 3500 Frauen mit Autobussen nach Schweden zusammengestellt. Es waren hauptsächlich Französinnen und Polinnen die auf diese Weise, noch kurz vor der deutschen Kapitulation, in die Freiheit gelangten. Der schwedische Diplomat, Graf Bernadotte, konnte diese Konzession den Deutschen abringen. Meine Freundin Juci Fürst und ich sollten auch nach Schweden mitgehen. Wir sahen aber, daß der Krieg zu Ende ging und wollten so rasch wie möglich nach Hause.

Die Rot-Kreuz Busse fuhren ab und uns wurde befohlen zum Abmarsch anzustellen. So blieb ich mit Juci zusammen und wir bekamen gemeinsam, so wie die anderen Häftlinge, ein amerikanisches CARE- Paket, wohl für den Weg. Woher die Pakete ins Lager gekommen waren weiß ich nicht, vermutlich haben sie die schwedischen Rot-Kreuz Busse gebracht.

Wir wußten nicht wohin der Häftlingszug gehen sollte, aber nach unserer Erfahrung in den Lagern und auf dem Todesmarsch von Auschwitz waren Juci und ich fest entschlossen in kein weiteres Nazilager zu gehen. Angesichts der Nähe der russischen Front, man hörte ständig Geschützdonner und Flugzeuglärm, beschlossen wir, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, zu flüchten. Die Kolonnen mit den Häftlingen mußten unter Bewachung von SS-Leuten mit Gewehren und Hunden aus dem Lager marschieren, mit für uns unbekanntem Ziel. Nach mehreren Stunden, ich weiß nicht wie viele, es war inzwischen dunkel geworden, kamen wir an einem Wald vorbei. Juci und ich versuchten unauffällig langsamer zu werden, so daß wir schließlich am Ende des Zuges waren und die Bewacher mit ihren Gewehren und Hunden vor uns. In so einem Augenblick packten Juci und ich uns bei den Händen und rannten so schnell es unsere Kräfte erlaubten in den Wald. Wir hatten Glück und erreichten seinen Schutz bevor unser Verschwinden entdeckt wurde. Das Herz pochte mir bis in den Hals.

Vor Aufregung und der Anstrengung waren wir beide so erschöpft, daß wir uns am Waldesrand in der Dunkelheit hinlegen mußten und sofort einschliefen. Als wir in der Morgendämmerung vom Lärm aufgeweckt wurden, gewahrten wir auf der Straße am Waldesrand einen unendlichen Treck von Menschen mit Bündeln und Taschen, zum Teil mit Pferdefuhrwerken und Karren, so wie man es jetzt häufig in den Nachrichten aus den verschiedenen Kriesengebieten sieht. Es waren zumeist Deutsche, die vor der herannahenden russischen Front in Richtung Westen flüchteten, aber auch polnische und andere Zwangsarbeiter, Männer und Frauen, die in den Westen wollten. Juci und ich rafften uns auf und begannen in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Für uns bedeuteten die sowjetischen Truppen die Freiheit. An unsrer Kleidung war nicht unmittelbar zu erkennen, daß wir KZ-Häftlinge waren und die Flüchtenden deuteten uns immer wieder, daß wir in der falschen Richtung gingen. Für uns aber war es die Richtige. Der Geschützdonner kam immer näher und sowjetische Tiefflieger flogen über uns hinweg. Man konnte den Stern deutlich erkennen. Uns lachte das Herz, aber die Menschen auf der Landstraße warnten uns immer wieder, wir sollten nicht auf die Front zu in Richtung Russen gehen. Sie fürchteten die Rache der russischen Soldaten nach all dem was Deutsche in Rußland verbrochen hatten. Es wurde bald dunkel und so gingen wir wieder von der Straße in den nahen Wald, um für die Nacht einen Unterschlupf zu finden. Im Wald sahen wir schon Menschen in gestreifter Häftlingskleidung, die sich so wie wir vom Flüchtlingsstrom abgesetzt hatten und sich im Wald versteckten.

Juci und ich suchten uns eine Vertiefung, die wir mit Zweigen abdeckten und bauten uns so für die zweite Nacht außerhalb des KZ-Lagers eine Art Unterstand. Wir konnten uns mit Hilfe der Dinge im Care-Paket einen Tee kochen und auch etwas essen. Dann deckten wir unseren primitiven Unterstand mit Zweigen ab und schliefen ein. Ein Rascheln weckte uns im Morgengrauen. Juci und ich waren starr vor Schreck und lauerten auf das, was jetzt kommen würde. Da wurde von außen die Abdeckung beiseite geschoben und ich erblickte eine russische Armeemütze mit einem roten Stern. Juci und ich vielen uns in die Arme: Wir sind frei !

Rotarmisten durchkämmten den Wald nach versprengten deutschen Soldaten, die Front war während der Nacht über uns hinweg gerollt. Wir eilten auf die Straße und winkten den sowjetischen Tanks zu, die in Richtung Westen zur nahen Front fuhren, Viele Soldaten saßen auf den Fahrzeugen und hielten rote Fahnen hoch und die Tanks trugen Aufschriften. So konnten wir entziffern, daß wir am 1. Mai befreit worden waren. Sowjet-Soldaten standen auf der Staße, wir versuchten einige Worte zu wechseln und gaben uns als KZ-Häftlinge zu erkennen. Sie wollten uns mit Brot und Wodka bewirten, aber wir wußten nach dem jahrelangen Hungern wäre so eine Kost für uns verhängnisvoll gewesen.

Plötzlich bemerkte ich, daß meine Freundin Juci verschwunden war. Erschrocken blickte ich mich um und entdeckte sie im Straßengraben mit einem jungen Rotarmisten sitzend.. Ich schaute näher hin und sah, daß beide bitterlich weinten. Der Soldat aus Leningrad konnte einige Brocken Deutsch und hatte ihr das Schicksal seiner Familie erzählt, die von den Deutschen umgebracht worden waren. Und Juci hatte ihm über ihre Familie und von unseren schrecklichen Erlebnissen in den Nazi-Lagern erzählt. So war unsere Befreiung Freude und Erinnern an das entsetzliche Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über die Menschen gebracht hatte.

Nach einer längeren Odyssee, die uns noch einmal auch nach Brüssel führte, kam ich schließlich nach Wien. Mein erster Weg führte mich in die Liechtensteinstraße zu dem Haus wo ich vor dem Krieg mit meiner Mutter und mit meinen Geschwistern gelebt hatte.

Da steht ganz unerwartet die Mutter meiner besten Schulfreundin vor mir: "Was ! Du bist zurückgekommen ? Du lebst ?" waren ihre überraschten Worte. "Und wo ist die Mama ?" - Die ist ermordet worden.! Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Weder der Freude, noch der Trauer.

Der Hamburger Kriegsverbrecherprozess.

Trotz meines schlechten physischen und auch psychischen Zustandes, ich fürchtete jeden Arzt oder Beamten und war allen gegenüber schrecklich mißtrauisch, entschloß ich mich Anfang 1947 als Zeugin zum Ravensbrücker Kriegsverbrecherprozess nach Hamburg zu fahren.

Ich wurde von der Angeklagten Vera Salwequart als Entlastungzeugin genannt. Vera Salwequart war ein Funktionshäftling im Krankenrevier des sogenannten Jugendlagers Uckermark, die gemeinsam mit den zwei SS-Leuten Rapp und Köhler dort kranke KZ-Häftlinge vergiftete, die dann unter schrecklichen Qualen starben.

Die kranken KZ-Häftlinge wollten sich von den beiden SS-Männern keine Injektionen mehr geben lassen, da sie Böses vermuteten und keine der Kranken das Revier lebend verließ. Von Salwequart jedoch bekamen sie Brot mit Honig, in den ein weißes Pulver, nämlich Strychnin, gemischt war. Sie ahnten nicht, daß dieser freundliche Funktionshäftling mit den SS-Leuten unter einer Decke steckte und so starben die Frauen, unter ihnen viele alte deutsche Sozialdemokratinnen, die zum Teil schon seit 12 Jahren im Lager waren, unter großen Qualen. Meine zwei Freundinnen, Juci Fürst und Anna Amster, im Hauptlager, hatten beide keine Schuhe und ich sprach Vera Salwequart um Schuhe für die Beiden an. Sie gab mir tatsächlich welche von den toten Frauen, die sie umgebracht hatte und ich konnte so meinen Freundinnen das Leben retten, denn ohne Schuhe um diese Jahreszeit wäre dies der sichere Tod für sie gewesen. Als man nun nach Kriegsende gegen Vera Salwequart Anklage wegen Mordes erhob, gab sie als Beweis für ihre Unschuld an, sie wäre zu den Häftlingen freundlich gewesen und hätte mir Schuhe geschenkt.

Von dem deutschen Verteidiger der Salwequart sollten mir drei Fragen gestellt werden, die ich nur mit Ja oder Nein beantworten durfte. Es gelang mir jedoch so zu antworten, daß der Verteidiger auf die dritte Frage verzichtete. Der britische Ankläger rief mich nochmals in den Zeugenstand und ich hatte die Möglichkeit genau zu schildern, was ich gesehen hatte und von wem die Schuhen stammten, die Vera Salwequart mir für meine Freundinnen schenkte. Nach meiner Aussage umringten mich die vielen ausländischen Beobachter, die den Prozess verfolgten und gratulierten mir zu meiner Haltung.

Es war nur schade, daß ich den Brief, den der deutsche Verteidiger von Salwequart mir nach Wien geschickt hatte und in dem er mir vorschrieb, wie ich auf seine Fragen antworten sollte, noch nicht hatte. Ich fand ihn erst nach meiner Rückkehr vom Prozess in Wien vor. Es wäre ein unerhörter Eklat gewesen, wenn ich diesen Brief dort vorzeigen hätte können. Den deutschen Anwälten der Mörder war jedes Mittel recht, um sie ihrer Strafe zu entziehen.



Lotte Brainin (2007)

Nachbemerkung:

Der Prozeß endete damit, daß auch durch die Aussage von Lotte Brainin Frau Salwequart ihre gerechte Strafe bekam. Sie wurde hingerichtet.



Ausschnitt aus der Dokumentation
"Lotte Brainin, Leben mit Eigenwillen und Mut",
erschienen in der Edition VISIBLE,
erhältlich unter b.dewald@silverserver.at

Mit freundlicher Genehmigung von Bernadette Dewald

HUGO:

8. Mai 1945

Am 8. Mai 1945 hatte ich das Glück, mit mehreren hunderttausend Menschen am Trafalgarsquare in London, den Sieg der Alliierten Mächte über das verbrecherische Nazideutschland, mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, zu feiern. Dem größten Verbrechen der Weltgeschichte, dem industriellen Massenmord von Millionen Menschen in den Nazi-Konzentrationslagern, konnte ein Ende bereitet werden.

Zur selben Zeit wurde meine spätere Frau, die gemeinsam mit ihrer Freundin beim Abmarsch vom Nazikonzentrationslager Ravensbrück in den nahe gelegenen Wald flüchten konnte und sich dort in einem notdürftigen Unterstand verborgen hatte, von Soldaten der Sowjetarmee befreit. So konnte auch sie die Befreiung und den Sieg über Nazideutschland erleben.

Einige Führer des verbrecherischen Naziregimes hatten sich bereits selbst umgebracht, während andere versuchten, durch Untertauchen, ihrer Strafe zu entgehen.

Noch zur selben Zeit hatte ein Nazi-Scharfrichter in Norddeutschland mehrere Soldaten wegen Dienstverweigerung noch hinrichten lassen und ähnliche Fälle aus Österreich sind ja auch bekannt. Die Besitzer der deutschen Rüstungskonzerne versuchten, ihr durch Raub und Zwangsarbeit angehäuftes Vermögen, ins Trockene zu bringen. Stiftungen in mehreren Ländern, im Besitze der Erben sind das Ergebnis.

Die deutsche Firma TOPF, Hersteller der Verbrennungsöfen in den Krematorien der Nazikonzentrationslager, konnte nach dem Krieg, das von ihnen entwickelte Verbrennungssystem, in Deutschland zum Patent anmelden.

Trotz der vernichtenden militärischen und moralischen Niederlage des verbrechischen Naziregimes, gibt es noch immer Unverbesserliche, die es nicht lassen können. Diesen Kräften muß man kompromißlos und mit aller Konsequenz entgegentreten.

"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch". (Bert Brecht)

8.Mai 2012

 


Lotte und Hugo Brainin, umgeben von ihrer Familie (2004)



English translation

siehe auch die Erinnerungen ihres Bruders, Henry Sontag

siehe auch: Zwischenwelt Nr. 4 (Jänner 2012) Literatur/Widerstand/Exil, s. 10ff (Theodor Kramer Gesellschaft)


Auszug aus dem Profil vom 18.5.2015, S 28-30

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26.6.2011 / 8.5.2012 / 23.1.2015 / 23.5.2015 / 22.1.2020 / 12.11.2020

ONLINE Einladung 100. Geburtstag von Lotte Brainin / ONLINE Invitation 100th birthday of Lotte Brainin



Lotte Brainin

 

 

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