Claire Felsenburg

Ich möchte den Besuchern meiner homepage hier drei Kapitel aus einem Manuskript meiner Tante Claire Felsenburg (sie war die Frau meines Onkels Walter Felsenburg; sie ist am 2. Juli 2002 gestorben) vorstellen. Claire und Walter Felsenburg sind, als Wiener Juden, vor den Nazis über die Schweiz und Großbritannien in die USA emigriert und lebten seither in Denver, Colorado.

Claire hat dieses Buch zum Andenken an ihre Mutter geschrieben, die in Auschwitz ermordet worden ist. Eine Schwester hat Auschwitz überlebt, die anderen Geschwister konnten alle, unter dramatischen Umständen, emigrieren und haben überlebt. Sie schreiben derzeit ihre eigenen Erinnerungen auf.

 

 

 

Claire und Walter Felsenburg

Hochzeit am 1. März 1936 im Wiener Seitenstätten Tempel

 

 

III. AUF ZUR FLUCHT!

Es mochte so ungefähr um den Sommer 1914 gewesen sein, als dem gesamten Volke in Polen eine Kundgebung verlautbart wurde, die sich an die dortige Zivilbevölkerung richtete. Polen war wieder einmal im Mittelpunkt einer Kriegsattacke verwickelt, von weiteren Besetzungen bedroht. Verhaltungsmaßregeln, sowie wichtige Verlautbarungen wurden durch Kriegsflugschriften an die verängstigten Einwohner gerichtet, die alle mit Schrecken erfüllte.

Plötzlich sah alles hoffnungslos, vernichtend aus! Die Menschen, ängstlich um sich blickend, versammelten sich in kleinen Gruppen an allen Straßenecken, eingeschüchtert tuschelten sie miteinander und versuchten Information einzuholen, über neue Nachrichten und Verordnungen. Der Kriegswirbel mit drohender Besetzung war ein Verhängnis für alle, aber ganz besondere Konsequenzen mit schmerzhaften Erscheinungen, galten damals der jüdischen Bevölkerung.

Bald folgten schonungslos die gefürchteten Pogrome, Brandstiftungen waren an der Tagesordnung, ein Chaos, das vernichtend wirkte und die unschuldigen Menschen waren von Furcht gepeinigt. Diese unheimlich, verheerende Stimmung, mit allen bösen Erscheinungen überfiel das Volk unerwartet, plötzlich, wie ein tödlicher Blitz vom Himmel. Die Menschenmassen stoben verwirrt auseinander in alle Richtungen, schleunigst heim zu deren verängstigten Familien, die schon was Böses ahnten und mit verhärmten Gesichtern den Schauerberichten dieses Kriegsausbruches lauschten. Verzweifelt rang man die Hände, von hysterischer Angst befallen.

Die Bevölkerung war tief ernüchtert und recht hart getroffen, im Trubel dieser grausamen, welterschütternden Ereignisse, die soviel Sorgen und Unheil über alle verbreitete und tiefe Spuren hinterließ. Panik brach aus in dem Teil der Stadt

Lvov.

Das Firmament recht verdunkelt durch die dicken, aufsteigenden Rauchwolken über die engen, gewundenen Seitengassen. Es verschlug einem den Atem. Jung und Alt eilte in verzweifelter Hast dahin, um das spärliche Hab' und Gut' zu retten, einem etwaigen Pogrom zu entfliehen, schnell fort ins Unbekannte zu flüchten!

Einige der Häuser waren bereits in Flammen, das Feuer verbreitete sich zusehends. Umfangreiche Rauchwolken, und schwarzer Ruß hang über Straßen und entflammten Dächern, erstickend, Atem beraubend. Und doch galt es in dieser verwirrenden Situation, klaren Kopf behalten, seinem eigenen Verstand Folge zu leisten, nichts unnütz zu verzögern.

KEINE ZEIT VERLIEREN! AUF ZUR FLUCHT! Schnell weg von diesem Chaos. Rasch Flüchten! Dies waren die aufpeitschenden Leitrufe, dem Flammentod zu entkommen, nur das nackte Leben zu retten. Solche Verzweiflungsrufe wurden allseits vernehmbar. "Die Kosaken kommen!" "Zu Hilfe, Es brennt hier!" Wirre Ausrufe erfüllten die Luft. Wir müssen schnellsten weglaufen von hier. Rasch vorwärts!"

Lodernde Flammen umzingelten die Dächer. Bald verbreitete sich das Feuer mit Windeseile über die Stadt. Jede Minute war doch kostbar. Von Furcht und Hysterie gepeinigt, bereiteten alle Einwohner hastig keuchend, ihre Flucht mit Riesenschritten vor. Augenblicklich allen bösen Hindernissen aus dem Weg zu gehen, den drohenden Gefahren zu entkommen, schleunigst hier zu entfliehen, in die ungewiße Ferne, in ein graues Nichts, ohne Hoffnung auf einen Unterschlupf oder eine primitive geborgene Herberge. Es gab keine Zeit sich etwas zu überlegen, oder gar zu zögern, fieberhaft bereitete man die Flucht vor.

Vater rief Pascha, "Mach’ schnell! Sei bereit. Lass' den Waschtrog und die Windeln stehen, wir müssen eiligst fort von hier. Geh' wie Du bist, in Deinem alten Waschkittel, die Zeit ist zu kurz. Du kannst Deine Kleider nicht wechseln. Wir können nicht länger auf Dich warten. Komm' sofort, oder wir müssen Dich zurücklassen und Du mußt uns dann folgen!"

Sichtlich zermürbt, ganz aufgeregt und traurig rief Vater diese Ermahnung der Wäscherin zu. Was sollte man in dieser verwirrten Situation zuerst einpacken? Wohin sich wenden? Eine unglückliche Katastrophe überschattete nun alle Menschenleben.

Pascha, blickte wie ein verwundetes Reh um sich, sie war wie vor dem Kopf geschlagen, ängstlich riß sie die Augen auf, blickte hilfesuchend, entmutigt um sich, da sie nichts Böses ahnend, wie immer ihren täglichen Pflichten nachging und es währte nicht lange, ehe sie den Schrecken der Situation erfaßte und blitzschnell war es plötzlich ganz klar, daß Vater's Befehl unwiderruflich und definitiv war.

Sie war bewildert und ehe sie Zeit hatte sich die Hände und ihre nackten Füße zu trocknen, und sich dann hastig um ihre Schuhe umzusehen die sie irgendwo verstaut hatte und nicht sofort auffand. Da wartete die Familie bereits fieberhaft in der Türe. Die Zeit war zu knapp und alle mußten eiligst die Flucht ergreifen, konnten nicht länger warten, nur weg von dem brennenden Ort, schnell aus dem Haus, im Laufschritt!

In diesem Ungemach waren alle gezwungen sich von Pascha zu trennen, ihre Schuhe suchend, blieb sie zurück. Eine schmerzhafte Entscheidung Vaters, die ihn mit Gewissensbißen belastete in einer verzweifelten Situation, die unvermeidlich war, da ja alle Menschenleben am Spiele standen. Welch traurige Erkenntnis!

Draußen im Freien sah man die dicken Rauchwolken im Kontrast zu den lichterlohen grellen Flammen, die überall hereinbrachen..Ein intensiver Brandgeruch erfüllte die Luft recht unangenehm. Nach allen Richtungen schien ein Vorwärtskommen recht erschwert, trotz der Riesenschritte der Flüchtenden sah es so aus, als ob man nicht schnell genug laufen konnte um dem hereinbrechenden Feuer zu entfliehen, da dieses bereits die ganze Stadt umzingelt hatte. Man wollte doch lebend davon kommen!

Ein langer Fußmarsch begann. Vater keuchte dahin, schwer atmend unter der Last des großen Bündels Bettzeug das er mühsam am Rücken balancierte. Mutter lief angestrengt hinterher, die drei kleinen Kinder im Wägelchen vor sich schiebend. Dieser Kinder-wagen war unentbehrlich als Notherberge und Transport für die Kleinen, auch wenn es galt, daß dieselben unbequem zusammengepfercht und gedrängt den Platz zu teilen hatten.

Es war von großem Vorteil, daß die Kleinen zu jung waren, um in der Tat zu erfassen, was da eigentlich vorging. Nichts Böses ahnend, ging es schaukelnd mit dem wackeligen Wagen vorwärts, in vorgetäuschte Sicherheit gewiegt. Den Eltern hingegen schwand der Boden unter den Füßen, da sie so plötzlich, ganz unschuldig, sich auf die Flucht zu begeben hatten. Weg von dem bedrohendem Unheil, hoffnungslos, ohne Lichtblick auf Besserung, fort in die Ferne ins graue Nichts.

Carla, das älteste Kind, war ca. 3 Jahre alt, ihr folgte der zweite Junge Salo, Henri der Jüngste war nur paar Monate alt. Da auf dem improvisierten Lager, gab es wohl wenig Freiheit, sich etwa zu strecken, jedoch schmiegten sich die drei Kleinen aneinander an, in sichtlicher Geborgenheit.

Fortschreitend, teilten die Eltern die Straße im Gewühl der fliehenden, hastigen Menschenmassen, die auf der staubigen, ungepflasterten Landstraße dahin eilten, mühselig zwang man sich durch, eine schwere Belastung für alle. Bald schliefen die Kleinen ein, vom ebenmäßigen Schaukeln des Wagens begleitet.

Mutter war recht traurig, es war ihr schwer ums Herz, sie seufzte wehmütig auf und versuchte sich aufzurichten und tief Atem zu schöpfen um nicht zusammen zu brechen, es bedurfte besondere Kraft tapfer zu bleiben, da sie nervös, wie gejagtes Wild dahin zogen. Es vergingen Stunden in trostlosem Marsche als die Eltern dann doch ein nagendes Hungergefühl verspürten, sie langten nach etwas Labung, eine Schnitte Brot wäre recht willkommen.

Fast zur gleichen Zeit erwachten wieder die Kinder mit Jammer und Gewimmer. In ihrer Sprache gaben sie kund, daß auch sie bereits hungrig waren, worüber es keinen Zweifel gab. Der Ernst der Situation machte sich nun deutlich und unverkennbar bemerkbar.

Oh, welch ein Schrecken befiel die Eltern als sie nach dem kleinen Päckchen suchten, in dem ein Laib Brot und etwas Proviant sorgfältig im rot karierten Bauerntüchlein vorbereitet war. Diese Vorräte sollten die Familie über Wasser halten! Leider aber blieb das Tüchlein unauffindbar! "Unmöglich," rief Mutter. "Lass' uns nochmals alles durchsuchen., dies waren unsere einzigen Vorräte!"

Mißmutig setzten sie die Suche fort und durchwühlten sogar alle Winkel im Kinderwagen, wo sie glaubten dieses Päcklein verstaut zu wißen, aber alles war vergebens. Das Brot war nirgends zu finden, und die Eltern hatten nun die traurige Tatsache zu akzeptieren, daß sie die Essensvorräte, in der Hast zu flüchten, daheim zurückliessen. Sie waren verzweifelt. Gepeinigte Gedanken mit Furcht gepaart, gingen ihnen durch die Köpfe, sie wollten die Kinder vor dem Verhungern bewahren und wußten nicht was tun, wo sie irgendwelche Lebensmittel her schaffen könnten?

Weit und breit sah man keine Möglichkeit irgendwelche Nahrung zu ergattern, traurige Gedanken gingen durch der Eltern Köpfe. Weit und breit war wohl nirgends ein Haus zu sehen und die Aussicht, etwas Essen zu erlangen war betrüblich, hoffnungslos...

Unzählige Soldaten kauerten auf der elenden Landstraße, das Militär ließ die Riesenkolonne der Flüchtlinge vorbeiziehen, es gab ein großes Gedränge zwischen Soldaten und Pferden, die dahinwandernden Menschen liefen Gefahr schier niedergetrampelt zu werden..eine beängstigende, katastrophale Situation! Die Eltern waren recht hilflos, immer wieder drang das ermahnende Heulen und Wimmern der hungrigen Kleinen an deren Ohren. Dies währte eine geraume Weile.

Plötzlich schoß Vater eine Idee durch den Kopf, die er gleich ausführen wollte. Er nahm sich vor sobald er den nächsten Soldaten begegnen würde, ihn um Brot oder etwas Eßbares anzugehen.

Der Weg führte an einem Schilderhaus vorbei, wo die Soldaten Wache hielten. Vater überlegte sich, wie er dies geschickt anpacken könnte und hoffte daß diese Bitte an den Soldaten von Erfolg sein würde. Vater wußte genau, daß die Soldaten auf ihren Feldzügen wohl meistens etwas Komißbrot und Wasservorräte in deren Feldflaschen mit sich trugen. Vater näherte sich der Schildwache und appellierte an ihn, ihm mit etwas Brot auszuhelfen, berief sich auf die hungernden Kleinen im Wägelchen.

Es bedurfte nicht langer Rede, das Glück und der Zufall fügte es, daß dieser Soldat noch ein Viertel Laib übrig hatte und den Eltern verabreichte. Jenes Brot, dessen sich die meisten Menschen aus der damaligen Kriegszeit noch gut erinnern, eine Brotmasse, die fast kein Fett enthielt, in viele Krumen zerfiel, und auch nicht so nahrhaft war, wurde mit Liebe empfangen und kam wie ein Segen vom klaren Himmel...und half ein wenig, Kraft und Energie zu erstrecken.

Es war um die Mittagsstunde herum, als die Eltern die Stadt verlassen hatten. Viele Stunden im Marsche hinter sich, es war schon spät geworden. Die Sonne war im Untergehen. Sie wanderten mit müden Beinen, niedergeprackt von der Flucht, rastlos, ziellos in die dunklen Dämmerstunden, in die tiefe, schwarze Nacht hinein, hoffnungslos in trostlose Nichts, ins Ungewisse. Die schmerzenden Muskeln in den Beinen machten sich empfindsam bemerkbar, die Füße schwellten an und machte die Wanderer unsagbar müde von dem erzwungenem Gewaltmarsche!

Die Hungergefühle, die wohl nur vorübergehend gestillt waren, kamen wieder im verstärkten Ausmaße, und machten sich recht unangenehm bemerkbar bei den zwei Alten, die sich wohl bemühten, alle Gefühle zu unterdrücken und weiterhin tapfer auszuschreiten.

Weit und breit nichts als öde, staubige Landstraßen, die Dunkelheit breitete sich über die ferne Landschaft aus und erschwerte den Fußmarsch beträchtlich. Der nächste Ort war noch lange nicht in Sicht! So ging es vorwärts in der Finsternis.

 

 

V. ZUG INS UNGEWISSE

Total erschöpft, jedoch geduldig wartend, sahen die Eltern nun der Abfahrt des Zuges entgegen. Es währte nicht lange, als ein Signalpfiff des Bahnmeisters hörbar wurde und dieser das Zeichen zur Abfahrt durchgab, bis der Zug dann auch tatsächlich zu ratteln und schnaufen begann, ehe dieser ins Rollen kam. Mit klopfenden Herzen und etwas ungestüm, sahen die Eltern diesem großen Ereignis entgegen. Sie konnten es kaum erwarten, daß es endlich los ging! Es war recht merkwürdig und nahezu unglaublich, daß sie entgegen aller Erwartungen nun doch in diesem Waggon Unterkunft fanden.

Der Zug pustete und bewegte sich zischend vorwärts, aus der Bahnhofshalle heraus. Ein winziger Lichtstrahl drang durch die einzige, kleine Aussichtscheibe, jedoch verschwand bald wieder, da es zusehends dunkel wurde. Ein Gewitter zog herauf, bald prasselte der Regen heftig nieder und der kalte Wind blies durch die Fugen.

Frösteschauer durchzogen die Körper der Alten und nun merkten sie erst, wie schwach und müde sie wirklich waren. Sie fühlten sich elend und beträchtlich gealtert. Unzählige Gedanken durchkreuzten ihre Köpfe und die Monotonie der rollenden Räder wirkte beruhigend, einschläfernd, jedoch hieß es "wach bleiben," ein Auge auf die Kinder gerichtet. Wie wird sich diese Reise gestalten? Wann wird das unbekannte Ziel erreicht werden? Quälende Gedanken über die unmittelbare Zukunft hatten einen zermürbenden Effekt.

Während der Zug dahin rattelte, verblieben die Eltern geduldig, wortlos und starrten vor sich hin. Es war nicht leicht in dieser beklemmenden, luftleeren Enge ruhig zu verharren. Die Knochen und Muskeln begannen intensiv zu schmerzen, Mutter fühlte sich geschwächt und kraftlos und hatte große Mühe sich aufrecht zu halten, es galt unter allen Umständen nicht nieder zu brechen, unter der schweren Last aller bisherigen Erlebnisse.

Der Zug nahm ein flotteres Tempo an, das ebenmäßige Dahinrasen der eisernen Maschine erschütterte die Körper gründlich und der hungrige Magen machte sich unangenehm bemerkbar, eine innere empfindliche Begleiterscheinung. "Fort mit quälenden Gedanken und Hungergefühlen, in Geduld fassen und vorerst wohlbehalten an ein Ziel gelangen!" Dies waren die tröstenden Worte, die Vater allen ermutigend zuflüsterte.

Auf diese Weise versuchten die Eltern sich gegenseitig Mut und Hoffnung einzuflössen, und gestanden einander, daß sie recht froh wären, wenn der Zug dann bald in eine Station einrollen würde. Sie langten nach Labung und Erfrischungen. In Gedanken versunken, dahin träumend, verspürten sie plötzlich, unerwartet einen gewaltigen Ruck, der Zug hielt an in einer einsamen, verlassenen Gegend, weit und breit keine Ortschaft oder Bahnstation in Sicht. Der Grund des Anhalten des Zuges war niemanden bekannt. Gab es etwa neue Gefahren oder Hindernisse zu übertauchen?

Verängstigt sahen die Eltern um sich und versuchten ausfindig zu machen, warum der Zug nun inne hielt. Bald stellten sie fest, daß in dieser friedlichen Landschaft sämtliche Tiere aus dem Viehwaggon abgelagert wurden. Dies war ein Wink des Schicksals, ein völlig unvorsehbarer, seltener Glücksfall, der sich der Familie darbot, indem sie die Bewilligung erlangten, deren unbehagliches "Coupé" im Conducteur-Stübchen gegen geräumigere Plätze im Viehwaggon einzutauschen. Jedoch sobald sich die Leute umplaziert hatten, da wurde es ihnen klar, daß sie wohl nicht mehr so gedrängt waren wie bisher, aber dafür mussten sie die miserable Luft und den unerträglichen Geruch der deutlich unverkennbaren Spuren, den die Tiere hinterliessen, akzeptieren. Es gab keinen anderen Ausweg, als sich dort aufzuhalten bis der Zug wieder ins Rollen kam, und dann recht bald im Weiterfahren in dem geöffneten Waggon die Frischluft ausgiebig durchdrang, was den Aufenthalt in diesem geräumigen Karren doch etwas milderte und eher erträglich machte.

Der Viehwaggon glich nun einem Zigeunerlager, unordentlich mit all den zerzausten Strohbündeln, die man in dürftige Ruhestätten verwandelte, wenngleich diese auch nicht gerade bequem waren, so waren sie handlich und mancher Flüchtling, der sich da niederliess, wurde bald von tiefem Schlaf übermannt. Der Zug setzte sich dann in Bewegung und raste dahin in die unbekannte Ferne. Durchkreuzte die nahen Dörfer der umliegenden Landschaften und mochte wohl einige hundert Kilometer zurückgelegt haben, es schien als ob dieser wieder halten wollte, überraschend gab's wieder einen plötzlichen Stoß und alle wurden wachgerüttelt.

Unerwarteter Weise wurde lebhafter Lärm und Getöse vernehmbar, unter Pfauchen und Zischen wurde die Lokomotive zum Stillstand gebracht. Halb verschlafen sahen die Menschen erschreckt um sich, sie konnten kaum ihren Augen trauen, und blickten verwundert, wißbegierig umher, sie hätten gerne ausfindig machen wollen, weshalb der Zug gegen Erwarten wieder Halt machte? War dieser am Ende an seinem Ziel angelangt? Viele Fragen wurden vernehmbar. Es währte nicht lange, ehe verlautbart wurde, daß dies die Endstation sei und der Zug sich nun auf dem Hauptbahnhof der Stadt Budapest befand. Eine völlig unbekannte Stadt für alle Flüchtlinge aus Polen, in denen gleich die Hoffnung aufstieg, hier einen Ort der Zuflucht zu finden und nach nötiger Unterkunft zu suchen, wenn möglich sich hier niederlassen. Ein hoffnungsvoller Lichtstrahl, eine Erlösung von allen Problemen, die während der Flucht enorme Dimensionen annahm.

Langsam erfaßten alle die wahre Situation, die müden Gesichter der Wanderer verklärten sich, sie konnten es kaum glauben, daß sie nun an einem Ziel angelangt waren, sie atmeten sichtlich erleichtert auf und hofften, daß sie hier nun wieder Fuß faßen könnten. Diese unerwartete Wendung gab den niedergedrückten Menschen ein wundervolles Gefühl, daß sie nun definitiv allen Schreckensgefahren entronnen waren, und dann bald einer neuen Zukunft entgegen sehen konnten. Mittlerweile verbreitete sich mit Windeseile die Kunde unter der ungarischen Bevölkerung, daß ein Eisenbahnzug, voll beladen mit heimatlosen Flüchtlingen und kleinen Kindern, soeben in der Station eingelangt war. Viele Neugierige, die von diesem Zug bereits Kenntnis hatten und freiwillig Hilfe bringen wollten, waren bereits dort versammelt.

Die anderen, die auf diese Nachricht warteten, strömten in Massen zum Bahnhof und stauten sich auf dem Perron, um einen Blick der Fremden zu erhaschen und diese jubelnd zu begrüßen und sie alle willkommen zu heissen. Die Mehrzahl der Neugierigen bestand hauptsächlich aus Hausfrauen, die aus allen Richtungen in bunten Scharen kamen, brachten weit überladene Körbe, vollgestaut mit vielen Esswaren und allen erdenklichen köstlichen Leckerbissen, wie frisch gebackene Brotwecken, knusprig gebratene, fette Gänse und anderes Geflügel, Tafelweine, frisches Obst und süß duftende, hausgemachte Kuchen.

Verlockend, verführend stieg der feine Essensgeruch in die Nasen der armen, hungrigen Wanderer. Rufe des Jubels und der Verzückung, unendliche Freude und Dankesausbrüche wurden vernehmbar und verklärten die Gesichter der Flüchtlinge, die nach neuer Kraft und Energie langten. Plötzlich standen sie da wie im Schlaraffenland! Konnten ihren Augen nicht trauen, wundervoller, einladender Anblick! Freudestrahlend und mit einem hellen "HURRAH" verliessen nun alle den Zug. Es bedurfte weiter keiner formellen Einladung dieser liebevollen Samariter und Wohltäter, die zärtlich, freigiebig diese erlesenen Liebesgaben den hungrigen Menschen freundlichst anboten.

Ein überraschender, unerwarteter Gruß, der mit soviel gütiger Wärme und besonderer Fürsorge angeboten wurde. Wer konnte da noch widerstehen? Die Flüchtlinge liessen sich nicht lange bitten und griffen dankbar, nach Herzenslust zu, es war ein göttliches Gelage. Sie labten sich und erneuerten ihre Kräfte ein wenig...und bald verliessen die Menschen den Perron, fort von der ersten, großen Haltestelle in ihrem Leben auf der Flucht. Einer neuen Zukunft entgegen!

 

 

VII. DIE NEUEN BETTEN IN WIEN

Der erste Eindruck in dieser neuen Stadt war ein Meer von Häusern in einem Labyrinth von verkehrsreichen, weit ausgedehnten Hauptstraßen und vielen eng gewundenen Seitengäßchen, man musste den richtigen Weg einschlagen um sich erst zurecht zu finden. Unzählige Abzweigungen führten an verlockenden Gartenanlagen vorbei, deren alten, Schatten bringenden Bäume, den Wanderer zur Rast einluden, jedoch konnte man dort nicht halten. Manche Giebel und Türme der alten Kirchen sahen recht attraktiv aus, man würde gerne die neue Stadt näher besichtigen, nein, nicht zu jener Zeit, vielleicht ein anderes Mal. Ein Quartier, ein Unterschlupf war das erste Gebot. So ging es weiter über holprige, uneben, gepflasterte Gassen durch dicht gedrängte Reihen von uralten, grauen, wetterfesten Steingebäuden, die eine Menge Menschen zu beherbergen schienen.

Alt und Jung waren auf der Straße, belebten das Stadtbild, mit deren geschäftigen Anwesenheit bewegten sich manche recht eifrig fort, während die anderen einfach gelassen dahin bummelten. Bald war man von der Hauptstraße abgewichen, jedoch durch flottes Ausschreiten währte es nicht lange, ehe man durch die abzweigenden Seitengassen dann schon im Elendsquartier der Stadt Wien anlangte. Diese Seitengassen befanden sich im XX. Bezirk, eine Gegend die bekannt war für Behausungen von mittelstandslosen Familien, ärmlich und auch etwas verwahrlost. Für den Fremdling war dieser erste Eindruck krass und bedrückend.

Die Gassen waren grau, luftleer und enge. Die Eltern versuchten mit verringerter Kraft alle Energie aufzuraffen, die innere Schwäche zu überbrücken und weiter tapfer durchzuhalten. In diesem Zustand konnten sie wohl auch nicht alles absorbieren was sie unterwegs zu sehen bekamen und wollten nur ein wenig vertraut werden mit der neuen Umgebung. Sie suchten ängstlich ein passendes Obdach! Komme was mag, auf der Straße konnte man keinesfalls übernachten. Schon wieder gab es eine schwierige Aufgabe zu lösen, nämlich mit geringen Mitteln eine passende Unterkunft zu finden, ein bescheidenes, einfaches Quartier zu ergattern, in einem Heim geborgen unter zu kommen.

Die Strapazen bisher waren endlos zermürbend, verdrießlich ging es langsam durch die unbekannten Straßen dahin, rastlos vorwärts in dieser verzwickten Situation. Endlich nach langem Suchen kamen die Eltern vor ein Haustor, an dem ein Schild deutlich gedruckt ankündigte, daß da ein großes, geräumiges Zimmer zu vermieten wäre! Es verstrich nur geringe Weile ehe der Hausherr die Eltern zu dem lang gestreckten Wohnraum geleitete. Ein großes rechteckiges Zimmer, schlicht und unmöbliert, wurde zum Vermieten angeboten. Der Hausherr war brummig und nicht sehr gewillt diese Wohnstätte an ein fünfköpfige Familie zu vermieten. Die Anwesenheit der drei kleinen Kinder, war ein beträchtlich erschwerender Faktor, der Hausherr versuchte standhaft zu bleiben und die Anwerber für das leere Zimmer, zu überzeugen, daß es gegen sein Prinzip sei, diesen unmöblierten, freien Raum an eine so große Familie zu vermieten.

Die Eltern hingegen wussten nur zu genau, daß deren beschränkte Mittel wohl kaum für eine bessere, größere Wohnung ausreichen würden. Sie sahen keinen Ausweg als beharrlich und mit geduldiger Ruhe den Hausherrn umzustimmen. Dies ging so eine Weile, bis es ihnen dann auch tatsächlich gelang, die leer stehende Behausung zu mieten. Der ungetünchte, dumpf riechende Raum befand sich zu ebener Erde, war schäbig und sah kahl aus. Nasse Spuren an den Wänden liessen deutlich die Feuchtigkeit aufscheinen, der Verputz fiel teilweise herunter und war typisch für eine Behausung im Armenviertel. Nichts war verlockend in diesem leeren, gähnenden Raum, den die Eltern sich als Not Unterschlupf mit Mühe erkämpft hatten. Eine vorübergehende Herberge, die hauptsächlich dazu dienen sollte, die lange Wanderung der Familie zu unterbrechen und ein wenig Rast zu gewähren.

Es gab natürlich sofort manche Probleme zu lösen, so hieß es bald einige Möbel für die nötigen Einrichtungsgegenstände zu verschaffen um sich hier nieder zu lassen. Ein großer Wunsch, der jedoch nicht leicht in die Tat umzusetzen war um diese neue Behausung in ein menschenwürdiges Wohnquartier zu verwandeln. Aufs Neue hieß es ein improvisiertes Leben zu beginnen. Nur keine Zeit vergeuden, es sollte recht bald eine Schlafstätte für die Nacht geschaffen werden. Ein Tisch für eine Speiseecke war ebenso eine unbedingte Notwendigkeit und natürlich auch eine Kochgelegenheit, die vorerst in der Form eines Spiritouskochers als sofortiger Notbehelf dienen musste.

Theoretisch machten die Eltern alle Pläne für die ersten Grundregeln zur Niederlassung in der neuen Wohnstätte und wollten sich nun eine akzeptable annehmbare Behausung schaffen. Für die erste Nacht blieb keine andere Wahl als sich auf den nackten Boden hinstrecken um sich ein wenig auszuruhen! Ja, ausruhen war wohl nur eine Illusion, denn als man dann am nächsten morgen erwachte, das Tageslicht erblickte, verliess man sein Nachtlager mit schmerzenden Gliedern und großen Unbehagen. So hiess es als nächste Aufgabe, die ebenso eine unaufschiebbare Notwendigkeit war, schnellstens in den Besitz von Betten zu gelangen. Im Nu waren die Eltern bereit auf Möbelsuche zu gehen, obwohl sie keine Ahnung hatten, wohin sich zu wenden. Sie verliessen die Wohnung und waren gerade auf dem Gang als sie der Hausmeisterin begegneten.

Die ältere, behäbige Frau kam watschelnd daher und schleppte eine abgenützte, alte unförmige Matratze hinter sich her, als sie die Eltern erblickte. Die Hausmeisterin grüßte kurz und höflich und bemerkte, daß sie eben im Begriff wäre die Matratze in den Hof zu bringen wo die Mistablagestätte war. So ein merkwürdiger Zufall! Wie ein Blitz schoß es den Eltern durch den Kopf, dies war in der Tat ein Wink vom Schicksal, sie fassten sich schnell und mutig fragten sie in etwas verlegener Weise ob sie sich die Matratze für einige Zeit ausborgen dürften? Die Hausmeisterin war wohl etwas verblüfft und versuchte den neuen Mietern zu erklären, daß sie kaum auf so einer knotigen, abgenützten Matratze, die doch ziemlich kaputt war, werden schlafen können, aber sie würde nichts dagegen haben, und war dann gleich bereit den Eltern vorübergehend auszuhelfen.

Gerührt und recht dankbar über diesen sonderbaren Vorfall gingen die Eltern wieder in ihre Wohnung zurück. Immerhin ein Anfang war gemacht, und sie schienen sehr zu schätzen, daß diese alte Bude nun ihr "eigen" war. Am Fußboden, in einer Ecke, der Wand entlang, wurde das neu errichtete Nachtlager zurecht gemacht, die Matratze wurde aufgelegt, zusammen mit dem bereits schleißigen Bettgewand und schon etwas geflickten Daunendecken, die alle des nachts warm halten sollten.

Die gesamte Familie bettete sich nieder um die wohl verdiente Nachtruhe zu genießen. Es schien nicht zu arg, man verspürte nicht viel von den wulstigen Knoten der Matratze und ehe man sich's versah, von Müdigkeit übermannt schlief man bald ein. Jedoch morgens als man in den grauen Alltag erwachte, sich zu strecken begann, da merkte man schon wie sehr die müden Muskel schmerzten, dies war der Anlaß, daß die Eltern beschlossen auf die Dauer doch nicht auf dem Boden zu schlafen.

Die folgenden Tage waren der Möbelsuche gewidmet, wenngleich vorläufig nur alte, gebrauchte Gegenstände in Betracht kämen. Nach langem Suchen fanden sie einen Trödler am Tandelmarkt, der eine erlesene Auswahl verschiedener Möbel aller Art am Lager hatte, unter anderem sah man dort die zwei massiven, gut erhaltenen Betten, die einladend komfortabel aussahen, recht geräumig erschienen und verlockend, der Preis war so günstig! Die Eltern waren begeistert über diesen Fund, die Betten waren ein Gelegenheitskauf und glichen jenen Betten die man von guten, alten Zeiten her gewöhnt war, durchaus kein Luxus aber eine Selbstverständlichkeit!

Es vergingen paar Tage, ehe die Familie sich zurecht fand und sich der Umgebung etwas anpasste, es gab eine Menge zu tun um sich mit den vorhandenen, geringen Mitteln wohnlich nieder zu lassen und ökonomisch einzurichten. Untertags schlüpften die Kleinen ins Freie, sie spielten im alten, engen Hof, der von einer hohen Ziegelmauer umgeben war. Der Himmel war kaum sichtbar, das Tageslicht drang nur spärlich durch und doch war es ein geborgener Platz etwas Frischluft zu erhaschen.

Die Kinder waren dort abgesondert vom Straßengetümmel und mussten nicht befürchten von vorbei-sausenden Pferdekutschen etwa niedergetrampelt zu werden. Wenn es dann gegen Abend dunkelte, da kehrten die zwei älteren Kinder vom Spiel und Herumtummeln müde heim. An jenem besonderen Tage betraten die Kinder die Stube und blickten verwundert, erstaunt umher, sie rissen die Augen weit auf und waren sichtlich freudig überrascht als sie der "Neuen Betten" gewahr wurden! In diesem freudigen Augenblick geschah etwas Merkwürdiges. Ganz langsam sachte, geradezu ehrfürchtig, schlich sich der mittlere Junge, Salo, an das erste Bett heran, blickte mit kindlicher Liebe, lächelnd, verzückt auf das neue Bett, hielt inne, während er das Bett zärtlich streichelte und flüsterte wie im Zauber gebannt, "Mutti, schau mal, Betten, wir haben 'Neue BETTEN'...!"

Liebevoll setzte er fort, "Oh fein, nicht mehr auf dem schlimmen, harten Boden schlafen..." Die zarte Kinderhand glättete das neue Bett immerfort, innigst, langsam, ganz verschüchtert, wiederholte der Junge ganz verzückt, in seiner kindlichen Art vor sich hin murmelnd, "Mutti, Mutti, sieh' mal da, NEUE BETTEN, freu' mich so...wir haben neue Betten!" Dieser Gefühlsausbruch des kleinen Kindes berührte die Mutter recht tief, sie konnte sich kaum beherrschen um die plötzlichen Tränen und ihr freudiges Glückstrahlen voll innerer Bewunderung für ihren Jungen zu unterdrücken. Liebevoll umarmte sie den kleinen Buben und versuchte auf diese Weise ihre eigene Freude über die neuen Betten mit ihm zu teilen.

In diesem Moment kam es ihr so richtig zum Bewusstsein, wie nötig es doch war so rasch die wichtigsten Bestandteile für den neuen Haushalt herzuschaffen, auch wenn dies mit Opfer und Entbehrungen verbunden war. Ein unsagbares Gefühl von großer Zufriedenheit überkam Mutter als sie wahr nahm, wie sehr ihr Kind von den neuen Betten beeindruckt war, was wohl eine bessere angenehme Nachtruhe zur Folge haben würde.

Mutter's Gedanken waren für eine Weile zurück versetzt in die Vergangenheit, manche Erlebnisse von der Flucht, kamen ihr ganz deutlich in den Sinn, es war ihr nur zu klar, daß sie wohl schon genug erlebt hatte bisher und viel Mißbehagen bekämpfen mußte. In diesem Moment aber, war sie recht froh etwas geborgen zu sein, sie war dankbar und guter Laune. Bald machte sie sich daran für alle das Abendessen zu bereiten. Im Nu gab es eine warme Brühe mit paar Kartoffeln und einer sättigenden Scheibe Brot, von einem warmen Getränk gefolgt. Es währte dann nicht lange, ehe es Zeit war sich für die Nacht vorzubereiten.

Mutter erzählte den Kindern eine Tierfabel, sie lauschten gespannt und anschliessend begann Mutter mit dem Nachtgebet, das die Kleinen Wort für Wort wiederholten! Es war Zeit einzuschlafen, man freute sich schon auf die Nacht in den neuen Betten. Es währte nicht lange, ehe alle in tiefen Schlummer versanken. Es war so ungefähr um Mitternacht als Mutter plötzlich vom Schlaf erwachte, es schien als ob sie ein verhaltenes Schluchzen, ein zartes Wimmern vernahm.

Sie streckte ihren Arm nach dem neben ihr liegenden Knaben aus und fühlte, daß etwas nicht in Ordnung ist. Das Kind schmiegte sich enge an Mutter und flüsterte schlaftrunken, mit heiserer Stimme: "Wir haben neue Betten, Mutti, schöne, neue Betten.." Im weinerlichen Tone folgten noch einige unartikulierte, schwer verständliche Laute, die das erzitternde Kind von sich gab.

Mutter richtete sich auf und fühlte, daß der Körper der Kindes von hohem Fieber befallen war, das Kind schien im Delirium, fröstelnd vom Fieber verzehrt..Rasch sprang Mutter aus dem Bette, steckte die nach Petroleum riechende Nachtlampe an und sah das feurig rote Antlitz ihres Kindes von Schmerzen gequält, von Tränen benässt. Ein trauriger, Sorgen erregender Anblick. Die Lippen des Kindes bewegten sich sachte und bald war es klar, daß der Junge ernstlich krank war, vielleicht eine böse Infektion in sich barg. Sofort sollte ärztliche Hilfe gerufen werden. Es gab keine Zeit zu verlieren!

Vater eilte nun hastig zur Hausmeisterin, entschuldigte sich, sie so spät des nachts zu belästigen, klagte ihr sein Leid, erzählte mit tiefer Besorgnis von dem Fieberanfall des kleinen Jungens. Er bat um die Adresse des nächsten Hausarztes. Zu jener Zeit gab es dort wohl noch kein Telefon und so lief Vater rasch zu Dr. Josef Kraus in die Staudingergasse. Keuchend angelangt, klingelte Vater an die Türe und bat den Arzt recht flehentlich sofort mitzukommen um das kranke Kind zu untersuchen und mit erster Hilfe beizustehen. So währte es nicht lange, ehe Dr. Kraus und Vater heimkehrten.

Der Arzt sah den Jungen prüfend an, begann im Nu eine gründlich Untersuchung, horchte Herz und Lunge ab, das Kind war aber sehr apathisch, dessen Körper erzitterte weiterhin fröstelnd, ab und zu wurden die wimmernden Laute etwas mehr vernehmbar. Dr. Kraus stellte eine hoch akute Lungenentzündung fest, dies war die Ursache des hohen Fiebers.

Der Arzt tat sein Bestes an Ort und Stelle dem kleinen Patienten mit den vorhandenen medizinischen Mitteln etwas Erleichterung zu verschaffen. Er verharrte noch eine geraume Weile, das Kind schien wieder ruhig eingeschlafen zu sein, dies nahm der Doktor zum Anlaß sich rasch zu verabschieden, er versicherte den Eltern, daß er sofort am nächsten morgen wieder kommen würde um den weiteren Zustand des Kindes zu beobachten und sich persönlich vom Fortschritt einer etwaigen Besserung zu überzeugen.

Daraufhin folgte eine recht unruhige Nacht, man war hilflos der kleine Patient wälzte sich fieberhaft im Bette umher, er bekämpfte Atembeschwerden, schien kaum Erleichterung zu finden, gequält schluchzte er fort, völlig erschöpft und schweißtriefend rang er nach Luft.

Es schien als ob er alle Kraft aufwandte, es war ein harter Kampf der das Kind zusehends schwächte, und dessen Zustand nur ärger machte. Jede Hoffnung auf Besserung schien langsam dahin zu schwinden, es währte in der Tat nicht lange, in den folgenden paar Stunden in jener Nacht hauchte das unschuldige, geliebte Kind sein junges Leben aus...es starb, und ging von hinnen, wie ein kleiner, tapferer Held, in jener Nacht der "Neuen Betten in Wien!"

Das Ableben Salo's war ein großer Schock für die Familie, ein harter Schlag! Diese unerwartete, böse Wendung erschütterte die Eltern aufs Tiefste und schmerzte sehr. Dieser kleine Junge war den Eltern ganz besonders ans Herz gewachsen ob seiner charmanten, kindlichen Art die speziell in seiner fortschreitenden Entwicklung zum Ausdruck kam und von den Eltern mit zärtlicher, warmer Liebe und Bewunderung erwiedert wurde. Das unerwartete Hinscheiden des kleinen Jungen ging den Eltern sehr nahe, deprimierte sie unendlich und erfüllte deren Alltag mit unsagbarer Trauer. Sie waren seelisch zerschmettert, fühlten deren Kräfte beinahe versagen, es war hart sich körperlich aufzurichten um etwaigen neuen Ereignissen Widerstand zu leisten.

Dieser letzte erschütternde Vorfall traf die Eltern um so härter, da sie so zuversichtlich waren, ein neues Kapitel für ihre unmittelbare, bessere Zukunft begonnen zu haben. Leider war dieser Hoffnungsstrahl beträchtlich gestört worden durch das Hinscheiden des geliebten Kindes. Mit solchen inneren, traurigen Gedanken im Kopf, rafften sich alle auf dem verstorbenen Kinde das letzte Geleite zu geben. Auf dem Friedhof angelangt, lauschten alle der Segensprüche und Gebete des Rabbiners, sanft und murmelnd wurde dann langsam der kleine Sarg versenkt. Nach alter traditioneller Sitte wurden je drei Schaufel Erde auf den Sarg gegeben, ein wahrlich trauriger Anblick. Unter dem zeremoniellen Trauergeleite, in geziemend ehrfürchtiger Stille, zeitweise vom Schluchzen der Eltern unterbrochen, wurde das Leichenbegängnis beendet. Der Abschied war recht hart, es war schwer den Weg heimwärts zu lenken ohne das geliebte Kind, welches die Welt der Eltern für immer verlassen hatte.

 

XX. GETTO SELBSTGEWÄHLT!

Die meisten Flüchtlinge, oder "Zua'grasten," wie diese Gruppe der Fremdlinge, von den Wienern im Dialekt bezeichnet wurde, lebten vorwiegend im XX., als auch im II. Bezirk und Umgebung, nur ganz wenige waren an der Peripherie der Stadt zu finden und nur in ganz vereinzelten Fällen gab es kleine Gruppen, die sich über die gesamte Stadt niederließen.

Die Flüchtlingsbezirke hatten eigenen Charakter, waren ungewöhnlich in deren besonderen Atmosphäre, deren Lebensstandard beträchtlich beherrschend, die Flüchtlings Lebensweise in schlichter und einfacher Art recht bezeichnend, wohl kaum einer anderen zivilisierten Volksschichte gleichend! Mühsam wurde eine neue Welt errichtet, typische Kennzeichen der Nachkriegszeit in sich bergend. Zweifellos unterschieden sich die Neuankömmlinge jener slawischen Gegenden, von den dort bereits ansässigen, gebürtigen Wienern. Die Trachten und Gebärden verliehen den Fremdlingen deren eigenes Aussehen, worin diese recht markant in deren Erscheinung, deutlich erkennbar waren.

Die Flüchtlingsbezirke beherbergten hauptsächlich polnische, slawisch und kroatische Typen, verschiedener Rassen und Religionen, die deren eigenen Allüren, sowie Landes- und Volkssitten mit sich brachten. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Tatsache, daß der XX. sowohl als auch der II. Bezirk zum Sammel Wohnplatz der meisten Flüchtlinge wurde.

Mit magnetischer Kraft zog es die Neulinge hin, sich dortselbst "en masse" niederzulassen, dies war zweifellos die Regel, quasi ein stilles Gebot! Die Flüchtlingsbezirke waren ein großer Anziehungspunkt. Für die neuen Fremdlinge gab es dort manche Vorteile, die eher von moralischen Werten waren, da die Neulinge sich dort in deren Muttersprache verständigten, Anschluß suchten und fanden, lange, ehe sie der Wiener Landessprache mächtig wurden. Es war von großer Bedeutung und ungemein wichtig, daß die Flüchtlinge sich untereinander aussprechen und verständigen konnten, eine unentbehrliche Richtschnur im Leben der entwurzelten Menschenmassen, die sich da niederließen. Die Tatsache, daß die Flüchtlingsbezirke eine Anziehungskraft hatte für die minderbemittelten Familien, schien recht bemerkenswert, besonders für jene die dort Obdach fanden, sich anpaßten und einfügen lernten.

Wohl waren jene Familien anfangs noch recht unbeholfen und zu Zeiten auch mißverstanden, was deren Fortschritt in mancher Hinsicht hinderte. So war natürlich das Zusammenhalten der Flüchtlinge von großer Wichtigkeit. Die neu gesammelten Eindrücke und Erlebnisse wurden ganz offen und hemmungslos aufs Tapet gebracht, man wollte stets über neue Geschehnisse informiert sein, der Wissensdurst verband die Fremdlinge im täglichen Leben innigst miteinander. So waren dann auch Neuankömmlinge über alle Tatsachen informiert, im Aufbau gemeinsam Fuß fassend, in der neuen Heimat, in der sie sich nun befanden. Es ging zweifellos aufwärts, wenn auch nur schrittweise und langsam, bald wich das "Kapitel des Beginnens der Flüchtlinge in Wien," in den Hintergrund.

Nach ernsthaftem Bemühen, sich der neuen Umgebung anzupassen, war es sichtlich merkbar, daß die Fremden mit der Landessprache vertraut wurden, und deren Niederlassung in Wien mit neuen Kenntnissen, auch neue Verdienstmöglichkeiten eröffnete. Die Sitten und Gebräuche der neuen Heimat wurden allmählich praktisch erlernt, was von großer Wichtigkeit war im alltäglichen Umgang mit der Wiener Bevölkerung. So assimilierten sich die Flüchtlinge und zusehends, mit der Zeit ging es in der Tat tapfer vorwärts! Obwohl die in den Flüchtlingsbezirken eingewanderten Familien sich eigentlich in einem selbstgewählten Getto befanden!

Gewiß, dieses Getto war eher symbolisch, da die Ansiedlung der Neuankömmlinge weder von hohen Mauern noch von Gittern umzäunt war. Dort gab es auch keine Beschränkung persönlicher Freiheit, oder gar Verbote gesetzlicher Art, die das Gebaren der Einwohner etwa beeinträchtigt hätte, wie dies eben in deren alten Vaterland der Fall war. In jenen Wiener Flüchtlingsbezirken hausten Glaubensgenossen jeglicher Art beieinander, Juden und Christen waren enge verbunden in der Nachbarschaft. Man wohnte in jenen grauen wetterverwehten, alten, steinernen Zinskasernen, die einen vorübergehenden Unterschlupf für die meisten unbemittelten Fremden darboten. Ebenso teilten sie die Korridore mit gebürtigen Wienern, die in jenen Häusern das Licht der Welt erblickten. Gute Zufluchtstätten, stabiler Hafen für die dortige Bevölkerungsschichte, die froh war ein Dach über deren Köpfe ergattert zu haben. So waren die "Zua'grasten" doch mehr oder weniger von den Einheimischen geduldet, stillschweigend akzeptiert und von den Nachbarn toleriert...

Manchmal geschah es, daß man die Neulinge sogar willkommen hieß...doch gab es auch zu Zeiten kraßen Kontrast. Weniger erfreulich waren dann auch die deutlichen Wellen von Antisemitismus, die sich oft schmerzlich bemerkbar machten. Manche Unfreundlichkeiten trafen die Flüchtlinge verletzend hart. Der Lebensstil der Fremdlinge wurde oft laut und ohne Hehl bekritelt, was die Betroffenen in eine hilflose Lage versetzte. Begebenheiten von häßlich, unerwünschten Angriffen, die dann auch offene Feindschaft hervor riefen, waren schmerzhaft und hatten unnütze Zwistigkeiten und Disharmonie zwischen den Wienern und den zugewanderten Flüchtlingen zur Folge. Oft brauchte es lange Zeit ehe wieder Frieden geschaffen wurde und sich die Nachbarn dann zivilisiert begegneten!

Mit dem Fortschritt der Zeit, in all dem Trubel, war es aber dennoch recht bezeichnend, daß die Wiener Kinder, als auch die zugewanderte Jugend in den Flüchtlingsbezirken sich dortselbst kameradschaftlich vereinten, gemeinsam zur Schule gingen, und des öfteren sich beim Spiele im Park, beim Sport oder gar auf der Straße vor deren Wohnhäusern ganz gesellig in Gruppen einfanden.

Die Kameradschaft war innig, ja bedingungslos teilte die Jugend in freundlich, kindlicher Weise, Leid und Freud' miteinander, welche die gesamten Gruppen enge miteinander verband. Ganz selten gab es Auseinandersetzungen, die gehässige Feindschaft verursachte, die aber bald beseitigt wurde und den Freundschaftsbund dann auch in Wohlgefallen wieder besiegelte. Als man sich nach Jahren in jene Zeitepoche zurück versetzte, da wurde man von sentimentalen Gefühlen erfaßt!

Es war nahezu unglaublich und sehr markant für jene Zeitspanne, daß es damals wahrlich geniale Freundschaften aufrichtiger Natur gab, die eben die Wiener Kinder mit den Flüchtlingen der östlichen Nationen ernsthaft vereinte. Die Flüchtlingskinder hingegen, aus mittellosen Verhältnissen, hatten manche Notlage zu übertauchen, sie bewiesen tapferen Lebensmut und schätzten es recht, neue Freunde gefunden zu haben, die oft mithalfen den harten Alltag mit jugendlichen Frohsinn zu übertauchen! Gewiß, all die netten Erinnerungen an helle Momente aus frühester Jugend, blieben lange haften, als wundervolle Begebenheiten der Vergangenheit! Jedoch die Zeit stand nicht stille, die Jugend wuchs heran...

Jahre verstrichen und plötzlich veränderte sich das gesamte Leben ganz drastisch. Ein unerwarteter Schicksalsschlag beeinträchtigte alle bisherige Harmonie, Illusionen vieler Freundschaften wurden ganz beträchtlich zerstört. Es schien wie ein Erwachen nach einem bösen Traum! Alle aufgebauten, soliden Gebilde, die vielen guten Vorsätze schienen plötzlich völlig zerstört! Man wurde wachgerüttelt, kalt ernüchternd, fröstelnd mußte man mit Schrecken den großen Kontrast erleben. Der bisher so heitere Himmel war verdunkelt, wie in einem Unwetter sah man einem gewaltigen Ungeheuer, einem Umsturz entgegen, man konnte es kaum fassen, großmächtig sah man Herrn Hitler in Österreich einmarschieren...

Ein katastrophal, böses Kapitel im Leben Wiens, ja es war erschreckend für die dortigen Juden, ein großer Moment der traurig stimmte und hoffnungslos akzeptiert werden mußte! All dies ohne vorherige Warnung, eine böse Wendung der man gegenüber stand. Die Invasion, oder Anschluß, wie dies die Wiener damals bezeichneten, schien sich verheerend auszubreiten, unaufhaltsame, dunkle Schatten waren über den Lebensraum ausgedehnt.

Unsagbare, bittere Ereignisse folgten daraufhin, sämtlich aufgebaute Freundschaften, jede Harmonie unter dem Volke in Wien wurde brutal zerstört! Dieselben Kinder, die bis dato dort in der Stadt lebten, die gemeinsam groß gezogen wurden, besonders jene, die mit deren jüdischen Schulkameraden die Bänke teilten, befanden sich nun in einem zwiespältigen Dilemma. Verdutzt, war man wie vor dem Kopf geschlagen, unfaßbare Situation, die unerhörte Folgen mit sich brachte. So schien es als ob durch Hitler's Invasion ein mächtiger Trauerschleier über ganz Österreich, aber ganz besonders über die Stadt Wien ausgebreitet gewesen wäre.

Verwirrend, unaufhaltbar drohend, schien eine solid aufgebaute Welt einem bösen Angriff zum Opfer zu fallen. Man konnte es kaum fassen, und doch hieß es die traurige Begebenheit akzeptieren, wieder einmal galt es für die jüdische Bevölkerung ins Unbekannte zu fliehen, weg von dem einst gefundenen Asyl, es hieß um jeden Preis das Leben zu retten.

Für die vielen, ehemaligen Flüchtlinge war es ganz klar, daß das einst "Selbstgewählte Getto" wohl nur vorübergehend war, es war eine nötige Behausung, in der Tat ein willkommener Unterschlupf! Jedoch Spielplätze, Schulen, Vergnügungsstätten, innige Freundschaften, Liebe und Leid, sowie auch Trauerfälle wurden gemeinsam geteilt! Geschehnisse und Ereignisse, die bis zu jenem kritischen Zeitpunkt der Nazi Invasion .das ganze Volk betrafen, kamen zu einem unwiderruflichen Halt! Alles wurde brutal zerstört, Hitlers Politik richtete unsagbaren Schaden an! Mit der unerwarteten politischen Krise näherte sich das Kapitel unserer Familie dem Ende zu. Ein Überblick des Familienbildes und mancher Begebenheiten folgen im Abschluß aller Erinnerungen.

Jetty Sontag
(Wien 1938)
die 1944 in Auschwitz ums Leben kam


 

 

 

Walter Felsenburgs Mutter, Flora Felsenburg (aus Stationen der Erinnerung im Alsergrund,
eine Initiative des Vereins Steine der Erinnerung)


Verein Steine der Erinnerung an jüdische Opfer des Holocausts, Dr. Elisabeth Ben David-Hindler, Kafkastr. 10, 1020 Wien (www.steinedererinnerung.net), September 2012

 

 

Claire Felsenburg und der damalige Bundespräsident Thomas Klestil bei einer
von Leon Zelman (Jewish Welcome Service) veranstalteten Begegnung
geflüchteter jüdischer Wienerinnen und Wiener, 1998

 

Siehe auch: Claire Felsenburg auf Wikipedia



Claire Felsenburg

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