Zur Wiedereröffnung des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums

Das Denken ist, ähnlich dem Film, ein Raum, der sich in der Zeit abspielt. Und man muß oft einen großen Sprung machen, um mit diesem Raum Schritt zu halten oder sogar ein Stück in ihn einsteigen und mitfahren zu dürfen. Das Ich droht immer wieder zu zerreissen wie ein schleißiger Vorhang, wie soll man ihn dann wieder zusammennähen, da doch der Stoff zwischen unseren Händen nachgibt und zerfällt. Es ist ja nicht einmal Platz genug, die Nadel einzustechen. Da ist oft überhaupt nur: Leere. Man geht ja nicht so weit, wie früher die Philosophie, zum Sein durchsteigen zu wollen oder eine Wahrheit zu bergen, die alles tut, um vor einem davonzurennen, man muß ihr vielleicht den Weg abschneiden, wie einen Faden, weil wir schon bei häuslichen Arbeiten sind. Den Denker, auch den Dichtenden lockt vielleicht eine Form der Entrückung, der Extase, des Außer Sich Geratens, doch was eigentlich lockt, ist der Zustand der Einzigartigkeit, der Freiheit, der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit, das alles und noch mehr soll das arme Denken begründen. Dem Denken können wir jetzt eine Leitplanke aufstellen, um von der Erfahrung in die Wahrheit hinein- und von diesem Weg nicht abzukommen. Aber auch unser Dasein ist eine schöne Möglichkeit, sich drin aufzuhalten, und etwas hält uns zusätzlich dort noch fest, auch wenn wir fort wollen, eine Kraft, damit man den Übergang von sich in etwas anderes nicht schafft.

In welches andere, und weshalb sollen wir überhaupt dorthin, wo doch in uns zu ruhen auch ganz schön und nicht so anstrengend ist?

Wer denkt überhaupt, und was denkt er? Die Surrealisten haben Dinge am Weg gefunden und sie, in scheinbarer Zufälligkeit, zusammengeführt, auch und gerade wenn diese Dinge nichts miteinander zu tun hatten. Doch diese Zufälligkeit des Findens und Entdeckens war natürlich gar keine. Um sich wie ein Gott fühlen und aus ALLEM was ist auswählen zu können, werden, und zwar in einem selbst, Regeln wirksam, egal, ob der Künstler von sich weiß oder nicht oder was er von sich weiß, und von welchem Wissen überhaupt er geleitet wird. Aber etwas über sich hinaus wissen, das will er immer. Doch manchmal bleibt es ganz aus, daß man etwas wahrnehmen und in Dienst für seine Sache nehmen will und kann. Was holt man sich nun aus diesem riesigen Lager, in das wir Künstlerinnen und Künstler hineinspringen, was holen wir uns dort heraus und auf welchen Wegen tragen wir es davon? Und ist es überhaupt eine Wahrheit, die wir suchen, da wir doch alle in gewissem Sinn unwahr sind, gelenkt und meist überhaupt irregeleitet? Und wie kann man überhaupt einer sein, wenn man doch, zum Beispiel als Teil einer Masse, plötzlich ein ganz andrer sein kann, und zwar in kürzester Zeit? Die Tragödien der Politik, die Massenhysterien und - bewegungen, die immer wieder (weniger aus dem Vor- Denken, den Ideologien selbst) entstanden sind, machen uns uns selber unheimlich, glaube ich. Wenn wir dann wieder etwas Schönes wie Kunst zu produzieren versuchen, sind wir einerseits gern wir und in uns zu Hause und umgeben schützend unser Ich, das bitte möglichst oft in der Zeitung stehen oder im Fernsehn vorkommen und Preise gewinnen soll, andrerseits ist es etwas anderes, das spricht, in uns, wenn wir zu diesem Sprung überhaupt kommen, in diesen Zustand des Außer Sich Geratens. Aber der Sprung bleibt gefährlich, weil wir auch die andren, gefährlicheren Möglichkeiten ahnen, die wir haben.

Was sind das überhaupt für Ereignisse, über die wir schreiben? Sie sind nicht einfach ein Verlauf von etwas, das sich prompt verläuft und wieder eingefangen werden muß, und dann haben wir erst recht den Faden verloren, von dem ich vorhin gesprochen habe, ich denke, in diesem Springen, in dem Sich Abstoßen und dann Loslassen, um etwas zu gewinnen, entsteht erst das Ziel, das da beschrieben, umkreist werden soll, und wahrscheinlich ist überhaupt der Sprung auch das Ziel, das uns verlockt hat, das aber erst entstanden ist, indem wir losgesprungen sind, vielleicht nach einem Augenblick der Sammlung, anläßlich dessen uns aber oft nur wertloser Krempel gereicht wird, den wir nicht brauchen können, oder eben schon. Oder springen wir vielleicht jemandem, etwas nach, das vor uns geflüchtet ist, aber einmal da war?

Die Psychoanalyse könnte jedenfalls, denke ich mir, für den Künstler eine Technik sein, diesen Schutthaufen zu durchwühlen, den wir gesammelt haben (oder der uns hingeschüttet worden ist), aber der Künstler will oft gar nicht wissen, wer spricht, im Sinn, daß er wissen würde wollen, wer er ist, der da spricht, sondern er will erreichen, daß ein Etwas in ihm spricht, und daß er es sich erspringen kann; also zu hoch sollte es nicht gehängt sein, sonst rennt er nicht los. Man darf dem Esel die Karotte ja auch nicht zu hoch vors Maul halten, wenn man vorwärtskommen will, er muß das gesunde Gemüse natürlich noch sehen können. Aber dieses Etwas spricht ja immer, egal ob wir es erforschen oder nicht. Das Was Da Spricht (es hat schon Filme gegeben, in denen Penisse gesprochen haben oder kleine Babies, die noch im vorsprachlichen Alter waren oder z. B. Tomaten, ja, das habe ich selbst gesehen, zumindest glaube ich es: Killertomaten! Aber das heißt ja nur, daß alles sprechen kann, unheimlich ist das nicht oder nur selten, weil man ja weiß, wer es ist, der da spricht, und wären es Obst und Gemüse oder einzelne Körperteile, nein, unheimlich ist eben Das Was spricht oder etwas sprechen heißt), Das Was Da Spricht also ist nicht einfach durch Denken herbeizuzwingen, sondern durch etwas in uns, das uns da herstellt und auch wieder entrücken kann, um diesen Zustand des Zungenredens, der Zusammenführung von scheinbar Sinnlosem und Zufälligem, des scheinbar ungeplanten Hinwerfens oder Schüttens von Farbe auf Leinwand herzustellen, egal, die einen wollen halt wissen, was es ist, die anderen sind nur froh, daß es überhaupt da ist und sie in diesen Sprung hineinwirft, in die Luft hinauf, wo, auf dem Scheitelpunkt der Flugbahn, der Parabel (ich denke da ganz besonders an Thomas Pynchons Roman "Gravity's Rainbow"), wo, man kann es errechnen, alles einen Bruchteil eines Augenblicks stillzustehen scheint und man es ergreifen kann oder es weiterfliegen läßt, bis zum Einschlag. Dankeschön, kein Grund, ergriffen zu sein! Wir machen es eh nur für uns und damit wir diesen Sprung überhaupt erleben können.

Ich würde jetzt gern auch noch den Unterschied herausarbeiten können zu der Extase der Massen, der irrationalen Gemeinschaftserlebnisse, die immer wieder zu Katastrophen geführt haben, nämlich zur Jagd auf Außenseiter und Minderheiten, also einer Besessenheit von einer von wenigen vorgegebenen Idee, die wie eine Lawine losgetreten wurde und am Ende alle und alles mitgerissen hat, meist um des Tötens willen, damit, wie Canetti meint, aus der gefährlichen Masse von lebenden Gegnern ein Haufe von Toten werden soll, und solange der Krieg dauert, muß man eine Masse bleiben. Danach soll man sich für seine Schuld schämen, tut es aber nicht. Und wenn einer aus dem Volksganzen Ich sagt, dann sagt er nicht Ich, er sagt Wir. "Die Aussicht auf eine gewisse Lebensdauer, die er der Masse als solcher bietet, hat zur Beliebtheit der Kriege sehr beigetragen" (Canetti). Dagegen steht also immer dieser vollkommen einsame Sprung, der eigentlich ein Geworfensein ist, um gleichzeitig nach etwas zu fragen und es doch ungefragt zu lassen. Am Beispiel des Dichters Robert Walser, einer Verkörperung des Unkriegerischen schlechthin, der im Irrenhaus gestorben und beinahe dreißig Jahre dort nichts mehr geschrieben hat, habe ich einmal versucht zu zeigen, daß man von sich besessen sein kann, sich aber gleichzeitig gar nicht meinen muß, wenn man Ich sagt. Man meint etwas über sich Hinausgehendes, das aber nicht größer ist als man selber und schon gar nicht dazu dienen soll, einen etwa zu vergrößern. Das ist eine, besonders tragische, Möglichkeit des Springens: von sich weg, aber bei sich bleibend, und sich doch niemals einholend, denn das Ich ist nicht ein anderer, es ist auch irgendwo anders. Die andere Möglichkeit zu springen ist vielleicht die des Hermann Broch, der, in geradezu besessener Erkenntniswut seinem Freund Canetti ähnlich - der immer betont hat, wieviel er Broch für sein Hauptwerk verdankt habe - den Massenwahn in seiner "Massenwahntheorie" zu fassen gesucht hat, also die Besessenheit in der Masse, in der Ich eben auch ein Andrer ist, aber nicht wo anders, sondern in ständiger Übereinstimmung mit sich und ALLEN, aber nur um sich Lustgewinn als Ich zu verschaffen, na, das ist jetzt sehr pauschalierend gesagt, aber es wird, wie ich glaube, viel zuwenig von der Gratifikation für das Ich, und zwar durch sein Aufgehen in der verhetzten Masse, die ihre Opfer benennt, sucht und vernichten will, gesprochen. Man bekommt sich und sogar noch etwas mehr als sich wieder zurück, solange man mit und in der Masse, der Lynchhorde, schwimmt. Alle schwingen im Gemeinschaftserlebnis mit, aber da kommt noch etwas sehr Organisches, Kreatürliches, also angeblich rein "Körperliches" dazu, das Blut, das die Masse einigt, und genau durch dieses scheinbar Natürliche, das im Kreislauf in jedem Lebewesen herumfließt, wird die Gemeinschaft befähigt, sich selbst "einen letzten Irrationalwert zu verleihen" (Broch). Dieser Irrationalwert ist mehr als ein Wert, er ist etwas über den Wert hinaus, eine Art Mehrwert zum Rationalsystem, das trotz allem bleiben darf wie es ist, nur wird eben dieses Einigende des gemeinsamen Bluts und Bodens hinzugefügt, und andrerseits, auch das hat Broch gesehen, zerstört dieses magische Surplus das Rationalsystem und verwandelt es in ein Irreales. Das Ich wird in der Masse dafür belohnt, daß es sich aufgibt, davon aber mehr wird, ja, es ist sein Wunsch, durch Selbstaufgabe sich aufzublähen und das Äußerste zu werden, was es gibt, jedenfalls mehr als es durch andere Techniken, durch Arbeit, Denken, Kunst oder sogar Sport hätte werden können (Vielleicht ist der Sport ja eine Ausnahme, er ist derzeit, in seinen Höchstleistungen, möglicherweise wirklich das allermeiste, was man erreichen kann, zumindest hat es den Anschein, als ob das so wäre). Andrerseits verlieren gleichzeitig alle, die Gesellschaft rinnt, durch ihre inneren Verletzungen, immer mehr aus, anstatt daß sie etwas gewinnen würde. Die Gemeinschaft wird quasi religiös, das Fragen wird überflüssig, ja gefährlich. Primitive Gesellschaften, Horden, Gruppen können, laut Broch, durch den Blutmythos an Irrationalität gewinnen, also überhaupt: gewinnen, da sie vorher nichts Einigendes hatten, aber für das stadtbekannte Kulturvolk der Deutschen und Österreicher, das sich in seinem Denken und seinen Werken immer, zumindest solange es nichts gekostet hat, der Humanität verpflichtet hatte, bedeutet es einen Rationalverlust. Und bis heute scheint es ja hierzulande ein Schimpfwort zu sein, wenn man "rational" ist. Die Kunst soll aus dunklen Gründen schöpfen, sie soll bitte keine zu helle Glühbirne einschalten. Und das Ich soll es bitte genauso machen, nur ja nicht das Licht aufdrehn, wer weiß, was wir dann noch in uns finden werden. Was wir an uns haben, wissen wir ja schon.

Es ist dieser Vorgang der Selbstentleerung einer Gesellschaft aber überhaupt nicht vergleichbar mit der Selbstpreisgabe dessen (eigentlich ist es das Gegenteil davon!), der sich zwar sucht, aber weiß, daß er es nicht ist, was er da gefunden hat, dieses traumhaft-sichere Forschen nach etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, dieses Herumdämmern, ähnlich dem Tier (und beiden, Mensch wie Tier, läuft "die Zeit davon", sie wissen nicht, wo die Zeit hingeraten ist, doch nur der Mensch weiß, daß er in der Zeit verlorengeht. Einmal ist er sich dabei seiner bewußt, dann wieder nicht). Broch spricht von der Ichlosigkeit des Tieres, das weder sich selbst, noch sich in der Außenwelt erkennen kann. Alles was dem Tier geschieht, wird erkenntnislos hingenommen, rein konkret, gelebt, nicht erkannt. Doch das Tier kann sich einrichten, und wäre es in unabänderliche Gegebenheiten, etwas, das es, wie Broch meint, im Spiel durchbrechen kann, wo es zu Erkenntnissen und sogar Erschütterungen in der Lage ist. Die Menschen können sich auch einrichten, sogar mit Wohnungen können sies noch, aber, auch wenn sie, wie das Tier, auf kreatürliche Weise ständig ihre Umgebung verändern, schon im Essen und Atmen, so ist für uns das Überflüssige, das wir erzeugen können, genießen und akzeptieren, Voraussetzung unseres Ich-Bewußtseins und der Erkenntnis. Wir aber, wir aber. Da sind wir also bei uns und springen los, und auch, wenn wir nicht bei uns sind, springen wir, manche, um ihren Anfang wiederzufinden, andere, um von ihm fortzukommen, wo andershin.

Robert Walser war also nicht bei sich, und doch zu Hause (nicht daheim und doch zuhause, das war einer der schönen österreichischen Fremdenvekehrs-Slogans), als er immer wieder sich selbst schrieb, bis kein Papierfetzen in ihm mehr übrig war; er hat sich vergessen, um etwas zu finden, das ganz gut er sein konnte, aber auch etwas anderes. Dagegen möchte ich Broch (seine "psychische Selbstbiographie" ist erst vor kurzem veröffentlicht worden) als einen bezeichnen, der erst springen konnte, nachdem er seinen Absprungsort genau markiert und sich selbst, wie in Stein graviert, und zwar mitsamt allen Kraftvektoren, die beim Springen wirksam würden, genauestens definiert hatte. Broch hat das mit Hilfe der Psychoanalyse getan, zuletzt, und am erfolgreichsten, bei Paul Federn in New York. Und er hat sich selbst mit Hilfe der Analyse geschrieben, damit er etwas anderes schreiben konnte, aber auch damit er leben konnte, und gleichzeitig hatte er immer das paradoxe Gefühl, seine Neurose würde jede Analyse zu verhindern scheinen. Vielleicht ist das aber gar nicht so paradox. Je mehr sie ihn aus diesem von ihm genau beobachteten und beschriebenen "Dahindämmern" des Tieres herauszureißen suchte, das ja eben keines Ich- Bewußtseins bedarf, und als Naturwesen mit seinen Instinkten "die Linie geringsten Widerstandes sucht", umso mehr glaubte er über sich selbst verhängen zu müssen, an Strafen und an Ausschaltungen "tierischer" Instinkte, die immer darauf hinauslaufen, lediglich "leben" zu wollen (und auch dieses Leben Dürfen war von den Nazis für ihn nicht vorgesehen! Er hat sich bekanntlich gerade noch retten können) und niemals "erkennen" zu müssen, was ihm doch letztlich immer wieder in den Wunsch, alles möglichst genau zu erkennen umschlägt ("gesucht, geahnt und nie gekannt", das singt Schuberts Wanderer, aber er sagt es von seinem "geliebten Land", und was unser "geliebtes Land" für Menschen wie Broch oder Canetti, beziehungsweise gegen sie, getan hat, das ist ja bekannt, man hatte es zuvor nicht geahnt, und viele kennen es - und sich und wozu sie imstande sind - bis heute nicht, auch wenn sie es, oft widerwillig, anerkennen müssen). Broch, einer der "bewußtesten", rationalsten und vielleicht auch erkenntnisgierigsten Schriftsteller, die ich im deutschen Sprachraum kenne, hat diesem scheinbar bewußtlosen Schaffen eines Robert Walser, auch eines Schubert oder des späten, geisteskranken Schumann, die sich selber verklingen hörten, ohne sich, ihr Ich, damit zu meinen, die penibelste Verantwortunssucht entgegengestellt ( er hat sie allerdings nicht gelebt! Aber er hat es beinahe zwanghaft gefaßt, dieses Dilemma zwischen dem kreatürlichen Leben und den Forderungen des Über-Ich. Aber verlangt hat er die genaueste Selbstbeobachtung und -verantwortung von sich, und das hat ihn beinahe zerrissen, also er ist gesprungen, mit dem Standbein aber stehengeblieben, weil er den Grund des Sprungs niemals richtig und bis ins letzte hinein erkannt zu haben glaubte, mit dem Sprungbein aber war er schon sehr weit weg, und im Springen mußte er, da er sein Bewußtsein ja nicht zurücknehmen konnte wie eine Bestellung im Versandhandelskatalog, drei Wochen Rückgaberecht bzw. Rücknahmepflicht!, mußte er bereits den Ort des Aufsprungs, bei ihm eher des Aufpralls, genau sondiert haben, sonst würde er nie einen Fuß dorthin gesetzt haben können), und, kein Zweifel, es hat bei Broch in die Selbstzerstörung, die Selbstauflösung gemündet. Diesen verzweifelten Sachverhalt hat er wiederum ebenso genau beobachtet wie er alles beobachten mußte. Er konnte im wahrsten Sinne des Wortes nicht anders. Er begründet also, warum er in seiner Zerrissenheit nichts leisten kann, aber er leistet unaufhörlich Großes und Schwieriges. Die Analyse wird für ihn (die Analyse, nicht der Analytiker!) mit "den Funktionen einer mythischen Person ausgestattet", und das führt notgedrungen immer zu einem unheilvollen Kreislauf von Untreuen, gegen alle Geliebten, gegen die Frau, aber auch gegen die Arbeit, die ja die strengste Geliebte von allen ist. Und die Untreuen wieder vergrößern das Schuldbewußtsein und die Gewissenskonflikte, und etwas leidet immer, die Analyse oder die Arbeit, und dabei leidet keins von beiden, denn beides glückt im Unglück, und was leidet, ist das Ich, das sich, bei diesem Dichter, in stetem Oszillieren zwischen dem Sich Nicht Meinen und dem Nur Sich Meinen konstituiert. Broch kommt dann zu dem Schluß, er müßte für die Dauer einer erfolgreichen Analyse nicht nur jede Frauenbeziehung, sondern auch jede Arbeit radikal ausschalten, damit die Analyse zur "alleinherrschenden Geliebten" werde, na, das hat er nun auch wieder nicht gemacht. Die Ausschaltung der Frauen hätte neues Schuldbewußtsein erzeugt, und die Ausschaltung der Arbeit: Panik.

Gleichzeitig hat dieser Verantwortungsvollste unter den Schriftstellern, der die deutschen Intellektuellen des Jahres '33 sehr deutlich für ihre Verantwortungslosigkeit getadelt hat, also für das, was die politische Gleichgültigkeit des deutschen geistigen Arbeiters mitverschuldet hatte (dies allem "Gutmenschen"-Gequatsche und dem Gegeifere gegen sogenannte "Tugendterroristen" ins Stammbuch!), und gerade indem er mit Hilfe der Psychoanalyse zur intrikatesten Selbstbeobachtung veranlaßt wurde, indem er an sich gearbeitet hat, hat er, Broch, an allem anderen beinahe übermenschlich hart gearbeitet. Und wo ich bei Dichtern wie Walser, der allerdings durchaus selbstbewußt und seiner gewiß gewesen ist, man sollte da nichts verwechseln, die Ichvergessenheit diagnostizieren zu können glaube, sind Künstler wie Broch, indem sie sich ihr Ich wie ein blutendes Organ ständig herauszuschneiden und es doch zu behalten suchen, in ihrem übersteigerten Verantwortungsbewußtsein (das aber immer genau definieren kann, wofür es Verantwortung übernehmen kann), das sie aus der genauen Kenntnis ihrer selbst beziehen, gerade indem sie also komplizierteste Arbeitsvorgänge auf sich nehmen, trotz allen Hemmungen und Schwierigkeiten, die der Erledigung dieser Arbeit im Weg stehen, trotz allen psychischen Beeinträchtigungen also sind Künstler wie Hermann Broch imstande, wie das Raubtier das Seidenpapier, das in den Reifen gespannt ist, zu durchspringen, ja, ich glaube, genau das ist ihre Art von Sprung, den sie immer wieder riskieren, die Fetzen fliegen, und sie wissen, da sie abgesprungen sind, daß und wo sie landen werden. Denn sie haben es gewagt, nicht im Sinn der Sportlerkühnheit, die sich in kantigen Gesichtern ausprägt, nicht im Sinn des Wagemuts eines Stabhochspringers wie Leni Riefenstahl ihn, quasi als neuen Gott, aus dem Erdloch heraus gefilmt hat, damit er sich noch höher über uns erhebe, noch ferner, noch entrückter, also letztlich: damit wir uns daneben weniger vorkommen, kleiner als er. Und die scheinbare Unschuld dieser wunderbaren, schnellen, geschickten Körper, die zur Berliner Olympiade von 1936 angetreten waren, sie suggerieren, daß es absolute Schönheit und Gesundheit gebe, nur nicht in unserer Gestalt, doch es gibt sie, wir sehen sie ja. Aber, im Bewußtsein seiner Neurose, seiner "Krankheit", die Broch mit größter Sorgfalt umkreist hat, nicht etwa, damit er sich selbst erhöhte, sondern damit er noch mehr erfahren könnte, über sich und alles andere, in diesem Bewußtsein hat er erkannt, daß es eben, auch nicht und schon gar nicht auf den scheinbar "unschuldigen" Bildern der Olympiafilme, absolute Gesundheit geben könne, wie es auch kein wirklich absolut offenes Wertsystem geben kann, nicht einmal die Mathematik. Und aus der Ablehnung jeder vordergründigen Gegebenheit und Unschuldigkeit und dem Zwang, sofort hinter diese scheinbare Offenheit blicken zu müssen, entsteht die dunkle Ahnung, oder vielleicht auch die helle Erkenntnis, daß der selbstgeschaffene Raum, in dem die Menschen leben, ihr jeweiliges Wertsystem IST, daß man sie daran erkennen kann, und daß man aus dem beständigen Auftreten des Wahns in der Gesellschaft (auf nichts kann man sich mehr verlassen, als daß sie wieder einmal einen neuen Wahn ausbilden werden), ihre Veranlagung und ihre Geneigtheit zum Wahn als solchen erkennen muß. Dem muß man ins Auge sehen. Die Frage hat sich der Dichter gestellt, die (grauenhafte) Antwort, die ihm die Menschen als Zerrbild und doch gleichzeitig überdeutlich, in völliger, eigentlich unerträglicher Klarheit, vorgeführt hat, diese Antwort hat viel Zeit verlangt und bekommen, auf das Sein ist immer wieder zugegriffen, Steine sind umgedreht worden, damit man sehen konnte, welche dunklen, seltsamen Tiere darunter hausen, und die Requisiten werden uns zugeteilt, es sind immer wieder dieselben. Kommt drauf an, was wir draus machen: Entweder vergißt der Künstler sich, als Person, ganz, oder aber alles, was der Künstler als sein Ich zusammenfaßt und zusammenrafft, nicht nur um sich selbst zu erkennen, sondern um, gerade indem er etwas von sich weiß, über sich hinaus etwas sagen zu können, fließt in seine Arbeit ein. Man kann nur hoffen, daß das stimmt, was man von sich weiß. Denn was man nicht erlebt hat, das muß nachher, indem man es beschreibt, noch einmal, und zwar richtig!, erlebt werden, und es wird erst in diesem Noch Einmal wirklich unmittelbar und wahr. Damit wird, was ein Künstler ist, wie ein Geldbetrag, und zwar immer aufs eigene Konto, überwiesen, sich selbst und seinem Bewußtsein und seinem Gewissen, der Künstler darf gleichzeitig wahnhaft bleiben, aber er muß sich selbst, und dafür darf er Hilfe in Anspruch nehmen, die Hilfe eines Analytikers vielleicht, dem drohenden Wahn immer wieder zu entreißen suchen. Und damit ist er nun letzten Endes wieder vollkommen allein, vielleicht alleiner als der, der sich nicht meint und sich nicht sucht und sich in den Wahn hineinwirft wie in ausgebreitete Arme. Vielleicht ist ein Künstler wie Broch dann letztlich doch kein Springer, sondern einer, der geworfen wurde, auf einen Zuruf hin, aber auf einen, den er selbst, sich selbst gegenüber, getan hat.

 

Vortrag gehalten am 12.10.99 im Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium

 


Zur Wiedereröffnung des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums © 1999 Elfriede Jelinek

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