Die Frau, die den Nebel hebt

(zu Ilse Ritter)

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Ein alter Witz. Wer zählt mir diese Vielheit ab, wer bringt sie zum Sprechen? Gerade in Jossi Wielers Inszenierung von "Wolken. Heim." kommen sie daher, zu mehreren, die Frauen, die ich sind und doch wieder nicht, denn sie sind alle Männer, weil sie die Texte großer Männer sprechen, die ich mir ausgeborgt habe, denn solche Worte selbst zu finden, dafür müßte ich immer noch auf dem Boden herumkriechen und wäre nie aufgestanden. Wohin mit mir, die ich noch nirgends gewesen bin und nirgendwo hinkomme, ich bin ja fixiert auf meinen Platz? So müssen andere mich austragen, nicht im Sinn eines Fötus-Austragens, sondern, da ich ja meine Sprache bin, müssen sie mich vielleicht ins Ausgedinge tragen, damit endlich Ruhe ist?, aber Ruhe geb ich nicht. Sie müssen meine Sprachfetzen herumschleifen, die Schauspielerinnen, die ich sein sollen, oft durch den Dreck, und manchmal müssen sie (vielleicht durch eine neue Färbung) etwas entstehen lassen, das sie als neu durchgehen lassen kann, wenn man nicht zu genau hinschaut, kein Wunder, die Sprache selbst ist ja mit mir durchgegangen, keine Ahnung, wohin, aber ich muß immer dort sein, wo sie ist. Ich habe sie öfter einen Hund genannt (so wie man in Österreich sagt: Der Neid ist ein Hund!), der mich hinter sich herzieht. So, und jetzt möchte ich einmal einer Schauspielerin, Ilse Ritter, die leise, auf Zehenspitzen, neben mir hergeht, für mich selbst danken, andre können ihr für was anderes danken; sie ist leise oder laut, je nachdem, ob ich das gerade auch bin. Welche von mir ist sie? Ich bin immer dieselbe und bleibe immer am selben Platz, also geht sie weiter, neben mir her, ohne den Wunsch, voranzukommen, nur mit dem Wunsch, aus meiner Vereinzelung ein Stück herauszubrechen und es damit hervorzuheben, es muß ja nicht gleich das ganze Stück sein.

Etliche Schauspielerinnen sind schon ich gewesen, denn mein Ich in meinen Bühnentexten bin wirklich ich (während mein Wir hysterisch fluktuiert, manchmal sogar im selben Satz, wir sind einmal die, einmal die anderen, dann wieder auch: ich), und wenn man ihnen nicht meine frühere Zopffrisur aufzwingt, so klären sie das, was ich vorgebe, eben anders, jede auf ihre Art. Manchmal entfernen sie sich von mir, was mir nur recht ist, denn ich selbst möchte mich ja von mir entfernen, kann es aber nicht. Ich beneide sie, bin aber auch dankbar, daß diese Schauspielerinnen aus sich herausgehen und danach einfach fortgehen können und jemand andrer sein, gerade weil sie immer jemand anderer SIND.

Ilse Ritter ist ein fragiles Wesen, mit ihren riesigen Augen, die mich aufnehmen wie Kameras, ja, als wären sie künstliche Gegenstände, schaut sie mich an, und sie spricht nicht als ein Als-was, als ob sie ich wäre, sondern sie wird ich, vielleicht mehr ich, als ich es je sein könnte. Sie behauptet sich selbst, indem sie ich wird, wie soll ich sagen, da fehlen mir echt die Worte, vielleicht habe ich sie Ilse Ritter schon gegeben, vielleicht kann sie sie mir einen Augenblick leihen, damit ich sie fassen kann, nicht bloß die Worte, sondern sie selbst, als Person, aber, indem sie immer mehr ich wird, ist sie immer weniger zu fassen in dieser Behauptung meiner selbst, ungefähr so wie ein Fabelwesen, in Filmen und Serien kann man die echt sehen!, man weiß, es gibt sie nicht wirklich, aber bei Ilse ist es so, daß ich bei allen, die als Schauspielerinnen als Ich durch mich hindurchgehen (und hoffentlich wirklich: durchgehen) konnten, denn woanders ist es gewiß interessanter, bei dieser Schauspielerin also sehe ich: Das ist die Eine, aber die Eine wiederum von vielen, und daher ganz besonders, indem sie mich als das Vorgegebene aufklärt, aufklart, die Eine, die ich bin, und zwar deshalb, ich versuchs jetzt noch mal, wie soll man auch Rauch und Nebel einfangen?, weil sie mich in dieser Flüchtigkeit darstellt, die mich ich sein läßt, aber immer im Sprung, eine andre sein zu können, wenn ich mir nur diesen einen Ruck gebe und Ilse Ritter bin, die dann wieder ich sein kann.

Sie erfaßt mich also in dem, was ich bin und was offenbar auf der Bühne unbedingt sprechen muß, denn woanders spreche ich wenig, oft tagelang nicht, ich erschaffe mich dafür auf der Bühne, und dort wiederum bin ich Ich, weil ich jederzeit gehen kann, auch aus mir heraus (was ja von Schauspielern überhaupt gern verlangt und gegeben wird, einerseits, daß sie ordentlich aus sich herausgehen, und dann in dem Sinn: Ich gebe heute die Ophelia oder die Frau vom Meer, und dann nehme ich sie wieder mit), genau diesen Vorgang erledigt Ilse Ritter also für mich, einen Vorgang, in dem sie in mich hineingeht und durch mich hindurch, als gäbe es mich gar nicht, durch dieses Hindurchgehen gibt es mich aber für wenige Bühnenmomente sehr wohl, mehr als es mich wirklich gibt und geben könnte. Denn diese Schauspielerin gibt sich, indem sie eine Anschauung von mir gibt, schauen Sie jetzt nicht weg!, als das, was mich als etwas von mir selbst Vorgegebenes aufklären, nein, nicht: erklären könnte. Vielleicht heben sich die Nebel, vielleicht nicht. Sie können gar nicht wegschauen, wenn Ilse Ritter mich gibt und daher: mich mir gibt.

Ilse Ritter (1997) in der Wolken.Heim.-Inszenierung von Jossi Wieler.
Deutsches Schauspielhaus Hamburg

21.12.2018

 


Die Frau, die den Nebel hebt © 2018 Elfriede Jelinek

 

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