Ausgeronnen

Wolfgang Bauer war ein sehr ernster Autor, sonst hätte er nicht so komisch wirken können. Er hat es immer todernst gemeint, und was er gemeint hat, das hat er auch machen können. Es war, als ob sich seine Stücke (auch seine andren Texte) unaufhaltsam entwickelt hätten, aber nie zu etwas anderem als einem Anschein. Das bedeutet hochste Alarmstufe: Kunst! Einem konkreten Anschein, und das war bei ihm kein Paradoxon. Er hat sozusagen das Herstellen  vollkommen beherrscht; die Produkte, die er hergestellt hat, haben nie mit ihm gemacht, was sie wollten, er hat das mit ihnen gemacht, was sie mit ihm machen wollten. Er war schneller. Da war etwas, das ihn anscheinend herausgefordert hat, aber dieser Über-Realismus (es ist ja in den frühen Stücken in der Wirklichkeit, die knurrend und schnappend neben den Stücken hergelaufen ist, nein, nicht umgekehrt, nicht die Kunst neben der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit neben der Kunst! jeder Satz genauso gesprochen worden wie dann später, im Stück, und doch waren diese frühen, sehr berühmten Stücke etwas ganz anderes, das sich in einem Paralleluniversum abgespielt hat, das wiederum nichts mit dem Lebensuniversum zu tun hatte) konnte sich in die Figuren nicht einprägen, die Figuren haben vielmehr ihn geprägt, eben in dem Sinn, daß dieser Autor der Herr dessen war (der Technik des Schreibens?), das diese Figuren hervorgebracht hat. Damit hat er die Wirklichkeit, die ihm ihre Figuren geliehen hatte, herausgefordert. Ein ungleiches Duell. Die Wirklichkeit kann da nur verlieren, aber sie hat Wolfgang Bauer, als Rache?, mitgenommen bei diesem Prozeß des Ausrinnens wie durch einen Abfluß. Der Dichter hat die Figuren aus dem Hahn herausgerissen, vielleicht weil ihm das Wasser immer zu langsam geflossen ist, und er hat sie, kaum waren sie herausgefetzt (wie kann man Wasser herausfetzen? Wasser wie Fleisch? Wasser in Fleisch verwandeln? Etwas formen, das zum Formen nicht geschaffen und nicht geeignet ist, etwas, das einfach fließt, immer nach unten? Man kann sich damit waschen und doch auch wieder nicht naß machen, aber die Wasserfiguren sind und sind gleichzeitig nicht, deshalb hatten in den späten Stücken diese Figuren nirgendwo mehr Halt als im Kopf des Dichters selber), zu Bühnenfiguren geprägt. Aber das ging eben nicht. Wie gesagt, was fließt, dem kann nichts eingeprägt werden, und das kann auch zu nichts geprägt werden, wieviel Formwille auch immer vorhanden sein mag. Und trotzdem: Diese unprägsamen Figuren haben die Anwesenheit einer Art prägenden Macht gebraucht, eben diesen Dichter Wolfgang Bauer, der mit ihnen, von denen man nicht wußte, woher sie kamen und wohin sie gingen (ja, Bauer hat sich diese Frage ohnehin programmatisch selber gestellt, sie aber, in sich und mit sich selbst, ad absurdum geführt, denn sie konnten nicht anders, seine Figuren. Darin ähnelten sie denen in den Krimis von Erle Stanley Gardner, finde ich, die harmlos und sehr konkret anfangen, aber schon zwei, drei Seiten weiter kann man nichts mehr von ihnen fassen und auch nichts mehr von ihrer Umgebung, und dennoch sind es Krimis, die ja auf ihre Umgebung, Zeiten, Motive, Gelegenheiten, Umstände angewiesen sind, um etwas zu ergeben), allein durch das Hinschreiben und sie damit Herausfordern - das eine ist nicht ohne das andre zu haben, Hinschreiben heißt Herausfordern -  etwas gemacht hat, das von einer Macht, die niemand kennt, hin- und hergeschleudert, herumgeworfen wird wie Wäsche in der Trommel der Waschmaschine (als ob die Maschine die Wäsche brauchen würde, um Maschine zu sein! Wer definiert hier wen oder was?), etwas, das einem Anderen unterworfen wird, aber man weiß nicht mehr: die Figuren dem Dichter oder der Dichter den Figuren? Und man weiß es nicht mehr, weil eins das andre erst, im Herumgeschleudertwerden und Herumschleudern, hervorgebracht, nein, buchstäblich: gemacht hat. Dieses Eine dem Anderen Entsprechen (nicht Widersprechen!) benötigt eben die Anwesenheit von Figuren, denen ein Entsprechen abverlangt wird, aber ein dem Nichts Entsprechen. Vielleicht hat diese fundamentale Unsicherheit dieser Existenzdialektik (der Dichter war nichts ohne seine Figuren und diese nichts ohne ihn) dazu geführt, daß auch die Theater in den letzten Jahren so verunsichert waren, daß sie diesen größten Dramatiker nicht mehr aufgeführt haben. Wegen dieses Schreckens, daß etwas, das da anwesend war, als ein „bloß“ Geschriebenes, auch wirklich da war, sowohl als Sachverhalt als auch als Gedachtes? Etwas, das sich jedem Blick entziehen muß, weil es für jeden Blick gemacht worden ist? Ich weiß es nicht. Ich kann in das Theater nicht hineinsehen, mein Blick ist ein sehr oberflächlicher. In den scheinbar so konkreten Stücken Wolfgang Bauers, denn auch die späteren Stücke sind in ihren Konstellationen ja sehr „konkret“,  ist ein Abgrund, der darin besteht, daß keiner der Parameter dieser Stücke noch weiß, wohin er soll, wohin er kann, wo er anwesend sein darf und wo nicht, aber auch wo er nicht darf, ist er da, der, jeder einzelne Parameter, also Zeit, Ort, Handlung: ein Abgrund, den ich persönlich zum Beispiel scheue, weil ich grundsätzlich den Wandel scheue (er hat ihn nicht gescheut, er hat nichts gescheut, nicht einmal den Ichverlust in der Narkose, in der Krankheit seines Herzens, ich reime mir das zusammen), der in jeder Anwesenheit vorgezeichnet ist und nur noch aufgeschrieben werden muß, damit auch und gerade dieser Wandel bestimmt und fixiert werden kann. Das hat Wolfgang Bauer getan. Damit hat er seine Sache bestimmt, ohne daß man sie wirklich aufheben und tragen oder ertragen könnte.


Wolfgang Bauer. Foto, 1994

erschienen in Manuskripte 169/2005

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Foto: Österreich-Werbung, aus:

17.11.2005


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