Keine Schwester Tanner mehr. Kein Platz. Suchen Sie sich andre Geschwister!(noch einmal für Robert Walser)Ich berechne, was unbedingt sein muß, den Rest verschiebe ich auf später. Es wird aber kommen, nur eben später, und das, was ich berechnet habe, wird dann von selber leben. Meine Not, es zu brauchen, ist einfach nötig. Meine Planungen springen mit dem Kopf voran ins Wasser, wo die Unwesen lauern, die immer die Gestalt von Ausnahmen tragen, die ich mir in meinem Schreiben leider nicht mehr richtig berechnen konnte. Ich darf keinesfalls von mir abweichen! Ich muß bei mir bleiben und frei von der Leber weg reden, als ginge es um mein Leben und nicht darum, nur mein kleines Entgiftungs-Organ von wenigstens einem Druck zu befreien. Dabei war es mein Lieblingsorgan! Nein. Die Orgel war mein Lieblingsorgan, da hab ich mit so vielen Stimmen sprechen können, und was kann ich jetzt? Ich hätte es im Grunde nie nötig gehabt, heftig auf andre zu werden. Aber ich habe das so gern getan! Das ist aber immer dumm, und man hat kein Recht, Verhältnisse zu beschimpfen. Das hätte ich mir hinter die Ohren schreiben sollen, bevor ich ins Wasser gegangen bin, das hätte dann eh alles weggewaschen, egal, was jemals dort stand. Verhältnisse zu beschimpfen, weil sie einem nicht behagen, das ist nicht gut. Man kann ja fortgehen, ich kann ja fortgehen! Aber nein, es behagt mir eben. Meine Lage gefällt mir. Ich kann zwar nicht schwimmen, aber im Wasser könnte es mir prinzipiell gefallen, wäre es nicht Wasser, sondern sein sanftes Ufer. Wo ist der Reifen, mit dem ich die Verhältnisse vorhin vom Boden wegradiert habe, als ich jäh bremsen mußte? Zuerst habe ich einen Betäubungsversuch an mir gemacht, damit ich sie nicht zu genau sehen muß, und dann habe ich die Verhältnisse gefälscht, damit sie zu meinen Verfälschungen, die ich mit ihnen vorhatte, passen würden. Wo sind meine Verhältnisse jetzt? Im Wasser ist es schwer, die Augen aufzumachen. Meine Sinne habe ich natürlich vorher gekennzeichnet, damit ich sie auch im Dunklen wiederfinde, aber daß das Dunkel auch noch so naß sein würde, wer hätte das gedacht? Man hat es mir vorher nicht gesagt, als ich begann, die Verhältnisse zu beschimpfen und zu benörgeln. Mein Mögliches liegt immer noch im Gesichtskreis des Bisherigen, aber da muß ich doch endlich durch und auf der andren Seite wieder rauskommen. Klüger als vorher und noch böser auf die Verhältnisse. Dabei ist das Wasser ein Verhältnis, ich meine ein Behältnis, das alles mit sich auffüllen muß, es kann nicht anders. Das muß doch einfach gehen. Daß man da wieder rauskommt. Ich halte diese Verhältnisse, auch wenn sie im Wasser sind (wo ich nicht gern bin, denn ich muß früher oder später gewiß daran sterben), nicht für notwendig. Ich habe sie mir selbst geschaffen, weil ich doch reingesprungen bin, aber wenn ich sie kritisieren möchte, wie es meine Art ist, dann müßte ich drinnen und gleichzeitig draußen sein. Ich muß sie sehen, aber ich darf nicht drinnen und gleichzeitig draußen sein. Nur draußen. Denn drinnen gehe ich ein. Was tun? Notwendig im Sinn des Kommens wären ganz neue Verhältnisse nicht gewesen. Die alten hätten ruhig bleiben können. Aber das Wasser bleibt nicht ruhig, nur solange es will. Ich hab sie mir nicht lang genug angeschaut, um sie kritisieren zu können, die Verhältnisse, außerdem lohnt es sich nicht, sie so lange anzuschauen, wo sie sich doch dauernd ändern, je nach Wind- und Wetterlage. Meine Lage: prekär. Neue Verhältnisse herbeisehnen, das ist das, was man eigentlich nicht soll. Wer weiß, wie die dann ausfallen, ich meine: wie ausgefallen die dann sind. Man soll ja auch nicht wegwollen von dort, wo man ist. Ich zum Beispiel lebe normalerweise immer in der Heimat, aber nur, weil ich von dort nicht wegkomme. Und wäre es auf eine Südseeinsel. Ich komme von hier nicht weg, sie umgibt mich fortwährend, und das ist gut so, damit ich die besprochenen rücksichtslosen Maßnahmen gegen die Heimat (wenn sie mich nur ließe!) ungestört anfangen könnte. Schließlich ist die Heimat machsam. Aber ich will sie nicht machen. Ich will nur zeigen, was andre aus ihr gemacht haben. Ich stelle Ihnen meine Heimat vor, so wie ich sie mir vorstelle, also vollkommen verzerrt, ich verzärtle sie so lange, bis sie noch schiefer geworden ist, weil sie immer schon eine zarte Pflanze war, und man darf nicht einseitig mit ihr umgehen. Die Heimat wird einem so fremd und kann dann besser beschrieben werden. Ich fühle mich von dem Bekannten umschlossen, na, derzeit nicht, weil im Wasser fühle ich mich nicht bekannt und möchte mich mit ihm auch nicht bekanntmachen, ich schaffe hier nicht das Schwimmen, ich bin hier nicht glücklich. Deswegen bin ich ja da, damit ich mich hier als eine Unglückliche beschreiben kann! Ich erlebe hier ein Mißgeschick. Könnte ich schwimmen, könnte es mir gelingen. So aber nicht. So nicht, Frau Dichte! Das Wasser ist ja auch selber nicht ganz dicht. Wäre es dichter, könnte ich es besser beschreiben. Versuchen Sie mal, es zusammenzudrücken, zu komprimieren! Sie werden sehen, daß es nicht geht. Die Menschen dürfen normalerweise an einen Boden, an ein Land, an einen Himmel, wenn ich so sagen darf, gebunden sein. Es ist schön, an etwas gefesselt zu sein. Und wärs ein mit Luft gefüllter Reifen aus Gummi. An den wäre ich jetzt gern gefesselt, ach ja. Man fühlte sich in einem Gummireifen, und wäre man in ihm eingesperrt, gleich wohler und hat ein Recht, sich wohl zu fühlen und darf auf das Verständnis und die Liebe seiner Mitmenschen hoffen. Aber man hat nicht einmal diesen armseligen Reifen voll Luft, der einen an der Oberfläche festhielte. Also manchmal glaube ich wirklich, meine Heimat selbst sei ein mit Luft gefüllter Schlauch, an manchen Stellen undicht, hoffentlich bin nicht ich so eine Stelle. Das würde ich spätestens jetzt bereuen. Vielleicht jetzt noch schwimmen lernen in diesem Alter? Das Lernen muß einem doch viel Freude machen. Es ist so schön, sich das vorzustellen, recht innig und lebhaft, wie das wäre, wenn man emsig lernte und lernte, und gar nicht aus dem Lernen herauskäme. Hätte ich die menschliche Reife, ich meine so einen Reifen aus Gummi voll Luft, nun wohl, um so schöner müßte das Lernen werden, wenn mit der ganzen, bereits erworbenen Reife gelernt würde. Dazu bleibt mir keine Zeit mehr. Das Notwendige, die Heimat fertigzumachen, in diesem Sinn das Notwendige, dem ich mein Leben gewidmet habe, läßt keine Möglichkeiten mehr, wobei das Mögliche im Gesichtskreis des Bisherigen, ich sagte es schon, mit einem Schlauch umgrenzt wäre, dem Luft zugemessen wurde, und zwar eine wirklich ganz genau zugemessene Menge. Ich habe ihn nicht. Ich greife nach der letzten Möglichkeit des Bisherigen, doch die ist ein Strohhalm und bricht sofort ab bei meiner Berührung, und wozu wäre er auch gut? Wasser könnte man durch ihn saugen, und davon habe ich nun wirklich genug. Ich denke mir etwas aus, aber ich greife in Wasser, in Wasser, nur in Wasser. Ich atme das Wasser auch ein, weil ich nichts andres zum Atmen habe als meine liebe Heimat, welche derzeit total überschwemmt ist, von der ich nicht wegkomme. Oder ist die Überschwemmung selbst die Heimat, das Wasser? Und ich wäre nicht einmal eine Arche Noah? Sie gibt endlich nach, die Heimat, nachdem ich so oft bei ihr angeklopft habe, man kann sie teilen, man kann sich in ihr bewegen, aber man sollte sie nicht einatmen. Überall Wasser. Das Lernen einer Sprache würde mir gefallen, aber Schwimmenlernen käme derzeit zuerst. Es wäre vordringlich, ich aber bin immer nur aufdringlich mit meiner Kritik an der Heimat, bei der meine lebhafte Einbildungskraft wohl eine größere Rolle spielt als das Tatsächliche, das aber leider auch nie tut, was ich ihm sage. Es wird nie Tatsache. Mein Denken ist eine vierspurige Autobahn, allerdings heute einmal im Wasser, so kann ich meine Spur doch nie halten! Kaum will ich überholen, taucht da eine weitere blöde Spur, die für den Verkehr aber unbedingt nötig ist, neben mir auf und behindert mich. Kaum will ich einmal atmen, taucht da die ganze Heimat auf einmal vor mir auf, nicht nur vor meinem inneren Auge, und das vertrage ich schon gar nicht. Man kann sie nicht atmen, man kann sie nicht essen, man kann sie nicht trinken, man kann sie nicht ausstehen. Ich schlucke Wasser, Wasser, Wasser, fühle mich wie ein untergehender grüner Baum, halt, nein, wäre ich ein Baum, dann könnte ich ja schwimmen! Mein Denken erträgt es nicht, daß es auf dieser vierspurigen Wasserautobahn dahinrasen soll, wo es doch Alles fassen möchte, und zwar Alles auf einmal. Ich wäre schon überglücklich, wenn diese Denk-Autobahn wenigstens einmal zur Abwechslung an der Oberfläche des Wassers dahinliefe, dann könnte ich meine Denkscheinwerfer einschalten und mich zumindest kurz orientieren. Ich sehe nichts. Ich sehe nichts. Ich kann nicht schwimmen, und ich kann nicht einmal mehr Autofahren. Zu lang her, daß ich es lernte. Und wie soll ich blinken, um die Spur wechseln zu dürfen, wenn ich die Spur nicht einmal sehe? Und jede Spur dieses meines armen Seins weist mich, mithilfe eines blinden Verkehrsboten (Weisere als er stehen auf den Wegen an Land!), in das Verfolgen von anderen Spuren ein, die ich aber auch nicht sehen kann, die ich nicht ausnehmen kann im Wassernebel, macht nichts, Ausnahmen mache ich sowieso prinzipiell nicht. Ich stelle mir das Wasser vor, es stellt sich ja mir nicht vor, es ist überall, bitte nicht atmen jetzt, gleich haben wir die Aufnahme der Heimat endlich im Kasten, ich meine die Ausnahme der Heimat auf dem Papier, die Ausnahme, die Sie sind, ja, Sie persönlich! Halten Sie den Mund! Sonst kommt Ihnen vorne oben Wasser rein! O je, jetzt haben Sie ihn doch aufgemacht. Ihr Pech. Ihre Schuld. Ihre Schuld. Es nützt Ihnen gar nichts, wenn Sie diese Spur im Denken suchen, dann müßten Sie sie immer noch herstellen, die Spur, und dann verfolgen, und soviel Zeit haben Sie nicht mehr. Diese Spur ist kein Vorstellen, kein Anschauen, kein Beschreiben und kein Zerstören, sondern die inständige Bereitschaft für eine Bahn zum Abgrund. Sie sind schon da, aber es ist der Abgrund, wo Sie sein werden. Lernen Sie jetzt schwimmen oder lassen Sie es oder lassen sie es andre für Sie tun! Heute sind aber die Läden geschlossen, also kann ich es heute auch nicht mehr lernen. Bei geschlossenen Läden würde ich ja auch nicht sehen, wohin ich schwimme. Sie sind alle heruntergelassen, die Läden, um die Heimat vor mir und meinen flotten Tempi, die ich aber nicht beherrsche, wahrscheinlich sind sie zu schnell für mich, zu retten (wollen mir wohl zuvorkommen! Aber da haben sie sich getäuscht, ich bin auf jeden Fall viel zuvorkommender!). Das hätte ich auch früher bedenken können, hätte ich je denken können. Ja, das Unglück ist manchmal nicht schön, jetzt bekenne ich das gerne, da es zu spät ist. Wäre mein Herz nicht manchmal so hart gegen meine Heimat gewesen, hätte ich nicht immer so hineingewettert, ohne zuvor zu schauen, was für ein Wetter überhaupt ist, hätte nicht so trotzig und wild etwas in die Welt hineinbehauptet, was gar nicht da war und erst hineinkam, als ich das Wetter gekauft und mitgebracht hatte, und zwar in einem Sieb, das auch noch ein Loch hatte, wer weiß... aber das war keine Art, so wie ich es behauptet habe. Das war eine Art von einer Art, die es nicht mehr gibt. Hineinlachen in das warme Mitleid, das mir entgegenschlagen würde, das täte ich gern. Aber es hat keiner Mitleid mit mir. Sehr schlecht von mir, sehr schlecht! Noch schlechter für mich. In ein Mitleid lacht man nicht hinein, man stört ja die Mitleidsmusiker beim Einsetzen. Und wenn sie nicht einsetzen, dann vergessen sie gleich,wieso sie hätten Mitleid haben sollen. Sehr schlecht von mir, sehr, sehr schlecht! Ich bin kein guter Mensch, noch lange nicht, und jetzt werde ich auch keiner mehr. Nicht einmal ein vernünftiges Tier kann ich noch werden, das Tier könnte nämlich schwimmen, es kann es von Natur aus sozusagen. Ich müßte es lernen. Zu spät. Ich gehe lieber, es ist Zeit mit mir, egal welche, auch wenn es nicht meine Zeit ist, ich gehe mit dieser Zeit mit, immerhin bietet sie mir an zu gehen. Also das Gehen habe ich im Wasser noch nicht probiert. Das ist das einzige, was ich noch nicht ausprobiert habe. So. Das mache ich jetzt, zu meiner Vervollständigung. Zeit zu gehen. Soviel Zeit muß einfach sein. Es muß nicht mehr Zeit sein, aber auch nicht weniger, die Zeit muß nicht einfach sein, sie kann schwierig und kompliziert sein, aber sie muß einfach sein. Soviel Zeit muß sein. Obwohl ich derzeit eher einen Raum brauchen würde, in dem ich atmen kann. So. Da ist sie ja wieder, meine Wasserbahn. Na, dann los. Lasse ich mich halt auf die dunkle Gasse hinausbefördern. Das bin ich gewohnt, daß ich nicht weiß, wo ich wohnen soll, weil ich so stark gegen die Heimat gewesen bin. Aber die war stärker. Das weiß ich jetzt.
Zu Anna Viebrocks "Geschwister Tanner"-Inszenierung in Zürich
28.11.2003
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