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Hitchcocks
"Vertigo" ist immer mein Lieblingsfilm gewesen. Er ist in mir sozusagen
stets vorhanden, wie beschriebenes Papier, wie Seiten in einem Buch,
denn eigentlich ist er ein literarischer Film, ein geschriebener
Film (er ist ja auch eine Romanverfilmung, aber das ist nicht wichtig),
jedoch ist das, worauf er verweist, nicht, wie ja meist in der Schrift,
so etwas wie eine Mitteilung. Es ist nicht einfach so, daß
"Vertigo" mit filmischen Mitteln eine Geschichte erzählt, das
tun Tausende andre Filme auch, und das wäre nicht erwähnenswert.
Es ist eher so, daß dieser Film sich erst mit seinen eigenen
filmischen Mitteln Schrift, d.h. Verständigung verschafft,
und zwar eben nur als Film, der nichts andres sein kann als Film.
Es bleibt ihm nichts andres übrig. Er ist keine Rede, die sich
auf Zelluloid niedergelegt hat, um uns irgendwann einmal unversehens
und jäh anzuspringen. Dieser Film ist Zugang zum Verstehen,
der sich sein eigenes Verstehen nicht bloß bahnt, wie ein
Zug, der sich seine Fahrt auf Schienen erkämpft, aus denen
er ohnedies nicht herausspringen kann (zumindest nicht können
sollte) sondern gleichzeitig schon voraussetzt. So wie die weibliche
Hauptfigur sich dadurch konstituiert, daß sie zwei ist und
doch eine. Diese Heldin ist ihr eigener Zugang und ihr eigener Ausweg,
nein: Ausgang gleichzeitig. Sie stirbt zuerst, und dann stirbt sie
beim zweiten Mal wirklich, obwohl ja ein Tod, den man überlebt,
keiner ist. Sie stirbt sozusagen zum Leben hin, um dann erst, nachdem
sie das Leben hat, wirklich zu sterben. (Beim ersten Mal war es
mit dem Tod noch nichts, obwohl sie tot war.) Aber sie lebt, stirbt
und lebt und stirbt noch einmal sozusagen verschriftet, denn die
Bilder sind in diesem Film, glaube ich, Schrift, und wir sind nicht
Zuseher, sondern Zeugen, die aber nichts wissen (können). Obwohl
jeder es weiß. Es ist ein Rätsel, und es ist kein Rätsel.
Dieser Film ist aber auch eine Gerichtsschrift, und die Schrift
ist diese Rede, die niedergelegt ("umgelegt") wurde, die nur im
Geschriebenen dieses Films funktioniert und die sich nur im Film
ihre Verständlichkeit, ihren Zu- und Abgang zu uns ausschließlich
in dieser Film-Niederschrift erzeugt.
Diese
Niederschrift geschieht durch die Subjektivität der männlichen
Hauptfigur, die schreibt und schreibt, an einer Geschichte weiterschreibt,
obwohl dieser Mann, der ehemalige Detektiv mit Höhenangst,
nichts weiß (und obwohl es gar keine Geschichte gibt, die
er auch nur wissen könnte!), jedenfalls nicht mit seinem wachen,
aber kranken Bewußtsein weiß. Diese Vergötzung
der Schrift ist Fetischismus, wie die weibliche Heldin dementsprechend
ein Fetisch ist. Der Mann ist zuerst Zeuge, ein unfähiger (impotenter?)
Zeuge von Mord und Vertauschung des ermordeten Objekts (nicht Subjekts!),
denn die Frau, die ermordet worden ist, ist kein Subjekt, nicht
weil sie tot wäre, sondern weil sie für den, der da schreibt,
aus dessen Blickwinkel die Geschichte erzählt wird, Objekt
ist, Fetisch, das (in diesem Fall: gewaltsame) Einfügen von
Unbelebtem ins Belebte, nein, der Austausch von Obsessionen, vom
Schöpferwahn des Mannes, der ja alles geschaffen hat, aber
nichts schaffen kann (nicht nur als Impotenter, sondern überhaupt),
dieser Austausch also, Zug um Zug, von Leben gegen Tod, aus dem
der Protagonist die tote Geliebte wieder zurückholt, indem
er sie neu erschafft, weil er sie, bevor er sie neu erschaffen hat,
buchstäblich (ja, es ist ja Schrift, also buchstäblich!)
nicht erkennt. Und er erkennt sie nicht, weil er sie noch nicht
erschaffen hat. Erst als die Kosmetikerin mit dem blauen Lidschatten
auf dem Wattestäbchen bei Kim Novak, der Hauptdarstellerin,
den letzten Gesichtszug der Toten, in ihrer Art Schrift - also der
Schminke und der Haarbleichung, dem spiralförmig gesteckten
Haarknoten (die sich einwärts drehende Spirale ist ja überhaupt
das Sinnbild dieses Films), und dem grauen Kostüm, und sogar
die schwarzen Pumps mit den hohen Absätzen, auf denen die Heldin
vorgibt, nicht richtig gehen zu können, obwohl sie sie doch
immer angehabt hat, sind ja hochgradige Fetischobjekte - wieder
hergestellt hat, kann der Mann sie gebären, als eine Lebende,
die er dann wegwischt, noch einmal tötet, um seine Obsession
mit dem Unbelebten, dem Tod, endlich zu erfüllen. Das Geschenk
der Belebung wird zum zweiten Mal abgelehnt. Die Zugänglichkeit
zu dieser Lebens-Verschriftung (bzw. ihre Unzugänglichkeit,
die eine solche auch bleiben muß, denn Tod und Leben können
nicht ein und dasselbe sein, niemals) erfolgt über einen Schöpfungsakt
des Mannes, und dieser kann nicht echt sein, denn das was er da
geschaffen hat, das gab es ja schon, nur hat er es nicht erkannt,
er hat es nicht erkannt, obwohl es jeder im Kino auf dieser Filmschrift
längst gesehen hat: Das ist dieselbe Frau, die es gleichzeitig
nicht sein kann, weil sie ja tot ist. Der Zugang zu dieser Frau
ist, und daher ist das der Film eines Films eines Films, Zugang
zum Gewesenen, das unzugänglich ist, weil es eben nie mehr
sein wird, oder wird es in diesem einen Fall doch wieder sein? (diese
Frau war, ist nicht mehr, wird wieder und verschwindet, indem sie
wieder werden mußte, und zwar durch den Mann). Nur der Film
kann das. Er "erzählt" es nicht, er ist es. Der Film selbst
ist Zugang, weil er sich selbst begegnen kann, ohne sich zu erkennen,
denn er läuft ja immer weiter, auch wenn die Hauptpersonen
gleich bleiben, wenn sie sich ändern und wenn sie verschwinden.
Diese Film-Schrift "Vertigo" sagt, daß etwas war, das, in
etwas Flüchtigem wie Film gezeigt und damit bezeugt wurde,
die Zeugen schauen alle zu, aber gleichzeitig bezeugt dieser Film
ein Sein, das gewesen ist und gewesen ist, indem es erneut beginnt
und damit, nein, nicht gleichzeitig, denn im Film läuft ja
die Zeit, und die Uhr läuft mit, und damit auch endet, wenn
auch nicht gleichzeitig. Das Gewesene wird also bezeugt, am Schluß
wird es sogar erklärt, aber die Schrift ist mit unsichtbarer
Tinte geschrieben, und, als es erklärt wird, endet es auch
schon, als hätte es niemals erklärt werden dürfen.
Man kann diesen Film also gleichzeitig als Erzählung verstehen,
als Film aber niemals verstehen, weil die Schrift unsichtbar wird,
sobald man sie versteht. Dann zieht sich die Quelle, aus der sich
der Film abspult, in sich selbst zurück und versiegt. Das ist
der Sieg des Films über die Schrift, obwohl dieser Film vielleicht
mehr als andere Filme ein Schriftfilm ist.

Erschien
im "filmarchiv"
Heft 12
30.11.2003
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