Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung

Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek

Ihr neues Stück "Stecken, Stab und Stangl" das im April in Hamburg im Malersaal uraufgeführt wird, bezieht sich auf ein Ereignis im Burgenland: auf die Ermordung von vier Roma-Männern, durch eine Sprengbombe in einem Dorf mit dem Namen Oberwart. Glauben Sie, daß dieses Stück in Deutschland verstanden werden kann?

Ich denke, es müßte verstanden werden, selbst wenn man vorab überhaupt nicht über diese Ermordung der vier Roma informiert ist, was ich aber als Regieanweisung in das Stück gegeben habe. Ich glaube, daß dieses Ereignis den Text auflädt wie eine Batterie. Ich glaube, daß dieses und ähnliche Ereignisse als Subtext durch den geschriebenen Text wandern, so wie in "Wolken.Heim." die deutsche Geschichte als ein unsichtbares Raster durch den Text geht, ohne daß man jeden Augenblick davon reden muß.

Zumal es in Deutschland sehr ähnliche Vorkommnisse gegeben hat?

In Deutschland werden Asylantenheime angezündet, und in Österreich gibt es eine Art Werwolf: die "Bajuwarische Befreiungsbewegung", die Briefbomben verschickt und Bomben bastelt. Ich finde, daß diese Verschwörung in Österreich einen sehr viel höheren Grad an Gefährlichkeit hat. Beides ist natürlich schrecklich. Ich will das nicht werten. Aber auch das Gesetz unterscheidet ja zwischen verabredeten, vorgeplanten Handlungen und der Tat von ein paar betrunkenen Jugendlichen, die halt bewußtlos von Alkohol gar nicht genau wissen, was sie tun und die, wie in Solingen zum Beispiel, die Folgen gar nicht absehen. Der eine in Solingen hat ja nachher gesagt: "hab ich nicht gewollt." So schrecklich es in jedem Fall für die Opfer ist, die hier wie da qualvoll sterben, haben die Ereignisse in Deutschland nicht den gleichen Grad von konspirativer Verabredung.

Warum wird das Stück nicht in Wien uraufgeführt?

Das Stück müßte natürlich in Wien uraufgeführt werden, weil es hier - ähnlich wie die Stücke Thomas Bernhards - den Nerv trifft und auch in jeder Einzelheit sofort verstanden würde. Ich muß sagen, es wird hier nicht uraufgeführt wegen meiner Feigheit. Nicht, weil ich Angst hätte vor Anschlägen gegen mich oder vor Briefbomben, die würden sowieso kommen, wenn sie kommen, aber ich kann das Gegeifere der Presse an dem Ort, an dem ich lebe, nicht ertragen. Es ist einfach eine persönliche Müdigkeit von mir, mich dem nicht schon wieder aussetzen zu wollen, wie nach der Premiere von "Raststätte" im Burgtheater. Es ist die Angst vor einem vergifteten öffentlichen Klima, das ich mir an dem Ort, an dem ich lebe, nicht zutrauen kann. Ich glaube, daß die Demoralisierung und Verwahrlosung der österreichischen Öffentlichkeit aufgrund der Verkommenheit der österreichischen Presse - und auch davon handelt das Stück - so weit fortgeschritten ist, daß ich gar keine Lust mehr habe, mich damit auseinanderzusetzen, und daß ich dem nur aus dem Weg gehen möchte.

Ich glaube, es ist das erste Mal, daß Sie ein Stück geschrieben haben, dessen Text sich so direkt auf ein aktuelles Ereignis bezieht. Haben Sie das Gefühl, daß Sie anders geschrieben haben, war Ihr Impuls ein anderer?

Die Methode des Schreibens ist keine andere als in anderen Texten. Aber ich würde sagen, daß meine Betroffenheit größer ist. Für mich ist die Ermordung der Roma das katastrophalste Ereignis der Zweiten Republik. Ein Meuchelmord an vier unschuldigen und unbeteiligten Männern, die ohnehin schon ein unglaubliches Maß an Verfolgungen in diesem Land haben hinnehmen müssen. Die Leute, die sie damals verfolgt haben, sind immer noch da. Zum Beispiel der SS-Oberführer und Blutordensträger Tobias Portschy, der immer noch im Burgenland unangefochten lebt und sogar Landeshauptmann war.

Ich bin immer, auch wenn ich über Frauenthemen schreibe (oder überhaupt, wenn ich für das Theater schreibe), emotional sehr beteiligt. Ich bin im Grunde beim Schreiben eine Triebtäterin. In diesem Fall war ich nicht nur empört. Ich hatte den Wunsch, einer so unterdrückten Minderheit, die unter unglaublichen Umständen lebt, deren Kinder alle automatisch in Sonderschulen abgeschoben werden, die also gar keine Möglichkeit zur Bildung bekommen, diesen Menschen das Äußerste, was ich mir in meiner Kunst erarbeitet habe, zur Verfügung zu stellen: Für die, die sprachlos sind oder deren Sprache wir nicht verstehen, zu sprechen, das war mir sehr wichtig.

Der Text ist ja eine Konstruktion aus Sprachen, die es schon gibt, aus Sprechweisen, entfremdetem Sprechen, das nachgeahmt wird.

Das in fremden Zungen reden, so wie der Heilige Geist als Zunge über den Köpfen der Gläubigen schwebt, das verwende ich im Theater eigentlich immer, um den Sprachduktus zu brechen in verschiedene Sprachmelodien und Sprachrhythmen, weil ich mit Sprache immer eher kompositorisch umgehe. Das ist wie bei einem Musikstück mit verschiedenen Stimmen, die enggeführt werden oder dann auch im Krebs oder in der Umkehrung vorkommen. Es ist im Grunde ein kontrapunktisches Sprachgeflecht, das ich versuche zu erzeugen.

In diesem Text sind es die kollektiven Sprachen der Täter oder besser gesagt der indirekten Mittäter, der Medien, die das Ereignis verharmlosen, und des alltäglichen Geschwätzes, und die werden dann wieder gebrochen durch zitierte literarische Sprache.

In diesem Fall sind es Fetzen aus Celan-Gedichten. Ich wollte hier mit Celan arbeiten. Er ist auch eines der Opfer, das sich dann nachträglich noch ertränkt hat, weil er gesehen hat, daß weder ein Heidegger (der auch durch zwei oder drei kleine Zitate in dem Text vertreten ist) noch irgend jemand sonst Einsicht zeigt und daß sich im Grunde nichts ändert. Celan ist aus der Bukowina, die einmal zur Monarchie gehört hat, ein ostjüdischer Autor aus diesem einstmals so reichen Kulturkreis.

Was bedeutet der Titel "Stecken, Stab und Stangl"?

"Stecken und Stab" ist ja klar, aus den Psalmen Davids. "Staberl" als Name ist einer der Kolumnisten der Kronen-Zeitung, der an der Verschärfung des Klimas in Österreich großen Anteil hat; an der "Verhausmeisterung", wie die Sigrid Löffler das einmal genannt hat: "Housemaster's voice" - so wie Bruno Walter den Anschluß Nazi-Deutschlands an Österreich einmal die "Verlederhosung" Österreichs nannte. Damit ist gemeint: die Herrschaft des Pöbels und eigentlich auch des Ländlichen. Denn das Haider-Phänomen läßt sich eigentlich nur durch die Herrschaft des ländlichen Pöbels erklären, dem die stark multikulturell gemischte, schnelle, undurchschaubare Kultur der Großstadt fremd geblieben ist. Dieses gesunde Volksempfinden macht mir große Angst. Wenn es durch die Macht, die es jetzt schon in der Medienlandschaft hat, wieder die Herrschaft über die Menschen übernimmt, dann passiert es ganz schnell, daß wieder eine neue Ära der Brutalität beginnt, Ich sehe das übrigens im Kleinen jetzt schon an den Reaktionen auf Handkes Essay über Serbien - das betrifft in diesem Fall Deutschland.

Mit "Stangl" ist Franz Stangl gemeint, der Kommandant von Treblinka, der auch mit Zitaten vorkommt, zum Beispiel: "An manchen Tagen mußten wir an die 18.000 durchlaufen lassen." Und damit meint er: durch das Krematorium. In dem Titel liegt schon die ganze Vieldeutigkeit der Sprachflächen. Man kann unendlich viele Bedeutungen zu den Worten und Namen assoziieren. Im Stück heißt jeder Mann Stab. Es sind die Masken, die in jedem von uns stecken, wenn man nicht seine Handlungen kontrolliert und ständig überprüft nach Fanatismus und Ausschluß des Anderen.

Es kann in diesen Sprachflächen keinen Ort der Wahrheit geben.

Nein. Wie immer bei mir wird die Wahrheit gespiegelt: an dem Ereignis, das dem Text zugrunde liegt, und an den Bedeutungsschichten untereinander. Die Ermordung der Roma wird an Auschwitz gespiegelt, und beide Themen an der Sprache der Presse. Ich sehe mich auch in der Tradition der Städtischen Autoren, der östlichen Großstadt, der Wiener Sprachkritik eines Karl Kraus, die ich schon unterscheide von eher ländlichen Autoren. Es gibt ja in Österreich sehr viele Autoren, ich würde sogar sagen, die Mehrheit, die aus dem ländlichen Raum kamen und dann großartige Dinge geschrieben haben, aber im Kampf und Erobern des neuen städtischen Raumes. Denn sie sind ja alle einmal vom Land in die Städte gegangen. Handke oder Jonke leben ja alle nicht mehr auf dem Land, aber das Land hat sie mit Haß aufgeladen, was eine gute Trieb-kraft fürs Schreiben ist. In einem guten Fall nimmt man die Herausforderung an und macht sie künstlerisch produktiv, und im schlechten Fall schirmt man sich ab und sieht in jedem anderen den Feind und den Eindringling und bekämpft ihn mit Bomben. Beide Möglichkeiten hat man ja, und es kommt darauf an, für welche man sich entscheidet.

Es ist Ihnen eine wichtige Regieanweisung und Teil des Textes, daß die sprechenden Personen während der ganzen Zeit der Aufführung häkeln und sich aneinander festhäkeln oder wieder auseinanderhäkeln. Das Häkeln ist eine Handarbeit, wie Bomben basteln auch eine Handarbeit ist, und es hat etwas Betuliches, Gemütliches.

Es wird alles unter den Teppich gekehrt, so wie die österreichische Geschichte ja auch unter dem Boden liegt. Und jetzt graben sie zum Beispiel in Lambach, wo sie ein Kraftwerk planen, Skelette aus. Der erste Reflex, den man hat, ist: Da war vielleicht ein KZ, denn es gab dort überall KZs und Außenstellen von KZs. Da wurden ungarische Juden durchgetrieben und von den Einwohnern erschlagen, auch noch nach dem Friedensschluß. Es gab eine ungeheure Brutalität der Landbevölkerung gegenüber diesen ausgemergelten und schon fast verhungerten Menschen. Die ungarischen Juden sind ja erst ziemlich spät, aber dafür alle, deportiert worden. Nachdem man diese Skelette in Lambach gefunden hatte, kamen plötzlich Anrufe aus der Bevölkerung, die sagten: Nein, es handele sich um deutsche Nazis, die die Amerikaner im Lager haben verhungern lassen. Und es gab ein unglaubliches Triumphgefühl: Aha, die Deutschen haben genauso viel gelitten wie die Juden, denn die hat man auch verhungern lassen. Dann kam wieder ein Experte, der gesagt hat, das seien Franzosen. Franzosengräber aus den Napoleonischen Feldzügen, die seien fast 200 Jahre alt. Man sieht: Die Geschichte kann nicht ruhen. Es muß nur ein bißchen der Boden aufgegraben werden, in dem Fall für ein Kraftwerk, und schon kommen die Knochen heraus. Und in meinem Stück ist der Boden eben als äußerste Parodie, die mir eingefallen ist, eine Häkeldecke aus gestricktem und gehäkeltem Stoff, der natürlich jederzeit aufzutrennen und zu zerreißen ist. Denn diese Decke über unserer Geschichte wird immer wieder aufreißen, so lange, bis wir diese Herausforderung wirklich annehmen und uns ihr stellen.

Die Menschen in Ihrem Stück reden so viel, weil sie gegen den Tod anreden. Sie bestätigen sich ihr eigenes Leben, indem sie reden. Sie stellen also schon aus Sprache so eine Decke her, eine Sprachdecke, und jetzt tun diese Personen, indem sie reden, permanent noch etwas mit den Händen.

Dieses gemeinsame sinnlose Tun ist paradigmatisch für unsere Situation: Alle sind unheimlich eifrig, und darunter ist unser Boden grundlos. Grundlos, weil er morastig ist und jederzeit einbrechen kann. Und unsere Geschichte, auch die deutsche, wird uns weiter verfolgen. Je öfter sie für beendet erklärt wird, je öfter wird sie uns verfolgen.

In Ihrem jüngsten Roman "Die Kinder der Toten" gibt es die Untoten. Die Untoten kommen auch in "Wolken.Heim." und in den Theaterstück "Krankheit oder Moderne Frauen" vor. Wer sind die Untoten?

Die Vampire in "Krankheit oder Moderne Frauen" sind in diesem Stück paradigmatisch für die weibliche Existenz, die nie ganz da ist und nie ganz weg ist. In späteren Texten wende ich diese Chiffre der Untoten auf unsere Geschichte an, die nie ganz tot ist und der immer die Hand aus dem Grab wächst. Wie dem "Eigensinnigen Kind" aus dem Grimmschen Märchen. Da muß die Mutter mit der Gerte draufschlagen, und dann zieht das Kind die Hand wieder ins Grab hinein. Eine Geschichte, die nie ganz sterben kann und nie ganz leben darf, weil es nicht zugelassen wird, daß wir sie nicht noch einmal leben, sondern daß wir in irgendeiner Form an ihr arbeiten. Wir müssen uns an dieser Geschichte abarbeiten, und wenn es kein Gedicht nach Auschwitz geben darf, dann würde ich sagen, es darf auch kein Gedicht geben, in dem Auschwitz nicht ist. Es muß immer da sein, auch wenn es weg ist. Und man wird trotzdem nicht fertig werden damit.

Die Untoten sind der Anspruch, den die Vergangenheit an uns stellt?

Die Toten haben von uns nicht das bekommen, was sie erwarten können. Canetti hat gesagt, daß die Kulturen sich immer gegen die Toten abgeschirmt haben, weil sie wußten, daß die Toten sie holen wollen. Wir versuchen ständig, die Toten von uns abzuhalten, weil wir mit dieser Schuld nicht leben können; das kann ja niemand. Das ist eine kollektive Neurose. Und je öfter man hört, man soll nicht mehr über Auschwitz reden, (wenn Henryk M. Broder sagt: In Israel redet kein Mensch mehr davon, das interessiert ja niemanden mehr), um so öfter wird es nicht tot sein. Heiner Müller ist zum Beispiel nie losgekommen von diesem Thema. Man wird immer besessen sein von dieser Geschichte. Also, ich bin es auf jeden Fall.

Zum Schluß des Stückes schlägt Herr Stab mit einer umhäkelten Stange alles kaputt. Er schlägt in gewisser Weise das Stück kaputt.

Weil das Schreiben letztendlich eine schreckliche Waffe ist und weil ein Herr Staberl mit seinen Artikeln in der Kronen-Zeitung gewalttätig ist, wenn er zum Beispiel schreibt, daß doch die wenigsten Juden durch Gas gestorben, sondern anderweitig im KZ umgekommen seien, und er kommt durch mit solchen Sätzen (die jüdische Gemeinde hat zwar geklagt, die Klage wurde aber aus formaljuristischen Gründen abgewiesen). Daß das eine Art von Gewalttätigkeit und ungeheurer Brutalität ist, das ist ja wohl nicht zu leugnen. Ständig wird geschrieben, daß Turrini oder ich oder andere schreibende Kollegen Wegbereiter linken Terrors seien, Straftaten werden uns unterstellt. Ich wehre mich jetzt mit dem einzigen, was ich habe. Das ist natürlich eine sehr schwache Öffentlichkeit: das Theater irgendwo in Hamburg im Vergleich zu einer 2,7 Millionen-Auflage in Wien. Aber es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, dem entgegenzutreten, in der Verkommenheit, die hier herrscht, die ja auch schon andere Schriftsteller in die Emigration getrieben hat. Handke ist weg, Bernhard ist tot. Leute gehen weg oder ziehen sich, wie der Turrini oder ich, in eine innere Emigration zurück und äußern sich kaum noch. Die Staberls hört man aber immer. Die anderen Stimmen sind leiser geworden. Aber die Leute, die im größten, fetten, satten Selbstverständnis dasitzen, weil sie dem Volk aufs Maul schauen, die wird man immer hören. Das Ende meines Stückes ist insofern so ein Akt der Verzweiflung: Daß man zum Schluß zerschlagen wird von diesem Stab. "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue."

Welche Art Menschen stellen Sie sich da vor, die in Ihrem Stück reden und unter Umständen häkeln?

Das ist diese Pseudo-Humanität. Da gibt es zum Beispiel die eine Szene, die sich auf eine Kronen-Zeitungs-Kolumne bezieht, in der darüber lamentiert wird, daß eine Frau, die einen alten Mann betreut, nicht vorgelassen wird an der Fleischtheke, und das nennt sich dann "Menschlich gesehen". Und im Namen dieses "Menschlich gesehen" wird eine bodenlose Unmenschlichkeit verdeckt. Der gleiche, der sich darüber mokiert, daß man diese Heimhilfe nicht vorläßt, der wird sich dann darüber mokieren, daß ein Jugoslawe auf die Straße spuckt oder daß da schon wieder drei Schwarzarbeiter sich in ihren Löhnen gegenseitig unterbieten oder daß die tschechischen Arbeiter noch von den bosnischen unterboten werden und die Österreicher deshalb arbeitslos sind.

Es tauchen in dem Text diverse Presseereignisse auf. Es gibt das Hauptthema: Die Ermordung der Roma in den KZs und dann, später, in Oberwart, und dann wird geredet über das Krebskind Olivia und über eine Frau aus Wien, die ihre Kinder aus dem Fenster geworfen hat und selbst hinterher gesprungen ist, und dann die Sportereignisse und die Sportler, besonders die Skisportler. Sind das Themen, die parallel zu der Berichterstattung über die Ermordung der Roma durch die Presse gingen?

Meine Feinde, die Sportler, durchziehen alle meine Texte. Sonst waren es Ereignisse, die ungefähr parallel stattfanden. Es geht mir darum, was für eine Emotionalität hinter solchen Berichten steht. Olivia ist ein kleines Mädchen, das schwer krebskrank ist und dem die Eltern die Behandlung verweigern, weil sie unter Einfluß irgendeines Wunderheilers stehen. Das Mädchen wurde durch eine Operation im letzten Moment gerettet. Die Geschichte ist ja bekannt, und ich habe auch Mitleid mit so einem kleinen kranken Mädchen. In meinem Roman "Die Kinder der Toten" stelle ich dem riesigen kollektiven Mord der Nazis einzelne kleine Morde gegenüber, die die Öffentlichkeit Wochen und Monate in Atem halten. Das beschäftigt mich sehr: Der riesige kollektive Tod, der so gigantisch ist, daß man es gar nicht mehr faßt, und der einzelne, der durch die Identifikation mit der Einzelperson einen wochenlang beschäftigt. Das ist eine Ungerechtigkeit. Dabei dürfte auch von dem riesigen Totenmeer, das dort unterirdisch lebt, keiner tot sein.

Die Grausamkeit wird meiner Meinung nach in Ihrem Stück dadurch erzeugt, daß Nachrichten über die Ermordungen von vier Roma - fast in den Satz springend - mit neuen Skisport-Ereignissen auf der gleichen Ebene verkündet und im gleichen Sensationsklima abgehandelt werden.

Das ist das fluktuierende Bewußtsein, das beides nebeneinander ertragen kann, wobei man doch schon jede Sekunde überschnappen oder verrückt werden müßte. Und in diesem Nebeneinander geht es ja ständig weiter: einerseits der Fremde als Tourist (das Motiv gibt es auch in "Totenauberg"), Österreich lebt ja mehr als jedes andere Land vom Fremdenverkehr. Da gibt es unsere Touristen, die an Liften anstehen, und andererseits den Fremden als einen, der bei uns nicht geduldet und sozusagen vertrieben wird. Es geht mir um das Nebeneinander der größten Widersprüche und um die Vernutzung ,die Heideggersche Vernutzung des Menschen. Also der Sport ist zum Beispiel etwas, das nicht nur Gesundheit gibt, sondern auch Leben nimmt. In meinem Stück kommt die tote Skisportlerin Ulli Meier vor, die sich ihr Genick bricht an einem Zeitmessungspfahl. Buchstäblich hat ihr also die Zeit, gegen die sie immer anfährt als Rennläuferin, das Genick gebrochen. Der Reporter wußte nicht, daß sie tot war. Er hatte nur den Sturz gesehen und sagte: "Oh, das tut mir jetzt aber leid für die Ulli." Der Satz kommt auch im Stück vor. Sie war sofort tot. Sie hat sich sofort alle Arterien zum Gehirn zerrissen. Der Sport enteignet wie der Krieg. Der Sport, der den Müttern die Söhne nimmt und in Ski-Internate führt, damit sie dann im nationalen Rahmen irgendwelche Höchstleistungen vollbringen. Auch in den Sport fließt Leben hinein und wird verbraucht.

Alle Themen und Motive in diesem Stück, nicht nur das Ereignis, von dem das Stück ausgeht, beziehen sich auf den Tod.

Ich bin sicherlich von diesem Tod besessen, weil ich es nicht ertrage, daß man über diesen Tod hinweg zur Tagesordnung übergeht. Im Grunde ist es schon eine unerträgliche Kränkung, daß Leute einfach normal weitergelebt haben, nach allem, was passiert ist. Mir ist bewußt, daß diesem übersteigerten Moralismus nichts gerecht werden kann. Und mir ist bewußt, daß ich da besessen bin und auch ungerecht. Aber deshalb mache ich ja auch Kunst. Wenn ich Ausgewogenheit und Gerechtigkeit vermitteln wollte, wäre ich vielleicht Anwältin oder Ärztin oder Lehrerin. Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung.

 

DAS GESPRÄCH MIT ELFRIEDE JELINEK FÜHRTE STEFANIE CARP

In: THEATER DER ZEIT, Mai/Juni 1996

 


 

 

 

IN DER WIENER NEUEN KRONENZEITUNG


Staberl

"IM JAHRHUNDERT DER SIPPENHAFTUNG"


...Wer mag da noch aller schuldig sein? Die Hunnen vielleicht, die zur Zeit der Völkerwanderung in Europa gewütet haben? Da wird die Anklage schwerfallen, weil doch heute keine Hunnen mehr leben. Doch heraus mit den zuständigen Wissenschaftlern! Wo sind denn die Nachfahren der einstigen Hunnen zu orten? Wen könnte man denn heute zur Verantwortung ziehen, wen der "Banalisierung" der Greueltaten der hunnischen Horden zeihen? Wo auch bleibt die Rache an den heutigen Griechen für ihren Alexander, der einst bis nach Indien zog und alles kurz und klein schlug, das ihm unter die Finger kam? Sollen wir nicht auch die Italiener für Cäsars Kriegs- und Beutezüge büßen lassen? Die Türken für die zweimalige Belagerung Wiens? Die Schweden für ihre Greueltaten im Dreißigjährigen Krieg? Vielleicht gar auch die heutigen Franzosen für die einstigen Raubzüge Napoleons bis nach Ägypten und nach Rußland?


Hier wird's ebenso kritisch wie etwa dann, wenn man die Umtriebe eines französischen SS-Gangsters namens Marcel Déat beleuchten wollte. Davon möchte ich Ihnen morgen als noch lebender Zeitzeuge berichten...


 

 

 


Staberl

"SPÄTE LIEBE ZU DEN BULLEN"

Die Bombenanschläge im Burgenland! Die waren ganz leicht vorhersehbar. Das haben die Autoren Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und André Heller in ihren Darbietungen längst vorhergesagt. Aber die österreichische Polizei und die Sicherheitsbehörden - offenbar durch und durch neonazistisch und faschistisch verseucht - wollten solche Warnungen ja wohlweislich nicht zur Kenntnis nehmen.


Mit solchen und vielen weiteren Schwachsinnigkeiten ist uns am Montag der in den Fernsehnachrichten als Stargast präsentierte Burgtheater-Direktor Claus Peymann dahergekommen, dessen unerträgliche geistige Niedertracht bei diesem Auftritt auch in physischer Hinsicht eine ebenso unappetitliche Entsprechung fand..


 

 

 


Staberl

"VERBRECHEN OHNE LOGIK"


Warum man heute "Roma" und "Sinti" zu sagen hätte, begreift man ebenso wenig wie die pflichtgemäße Ersetzung der Vokabel "Neger" durch "Schwarze" Natürlich gibt es jetzt bei uns auch die Theorie, daß die Bombenleger und Briefbombenabsender eben ganz allgemein Ausländerfeinde, Fremdenhasser, kurzum: "Rechtsextremisten" sein würden. Aber die Aussicht, daß eine neben einem Müllcontainer abgelegte Bombe tatsächlich einen "Feind" der Rechtsextremisten treffen könnte, ist doch praktisch null.

 

 

(Aus der regelmäßigen Kolumne des Herrn Staberl)


zur Startseite von www.elfriedejelinek.com