Anmerkung zum Sekundärdrama:

Für
den Theaterbetrieb möchte ich, als neue Geschäftsidee, vermehrt auch Sekundärdramen
anbieten, die dann kläffend neben den Klassikern herlaufen sollen (oder
als Tapeten, die hinter ihnen aufgerollt und hingeklebt werden. Beim „Nathan“
habe ich das ja schon mal ausprobiert, aber ich nehme jetzt auch Aufträge
für andre Dramen an und schreibe dann jederzeit gern ein Sekundärdrama
dazu. Nur bei Shakespeare mache ich das grundsätzlich nicht. Aber alle
andren Aufträge nehme ich dankend an, jetzt ist also der „Urfaust“ dran,
weitere sollen vielleicht folgen, wenn auch nicht mir, denn mir folgt
die Kunst ja nicht, mich verfolgt sie eher, eine verfolgende Schuld, aber
in aller Unschuld). Also habe ich als Künstlerin vielleicht eine neue
Strategie gefunden, diesmal auf der sicheren Seite, denn die Klassiker
schaut man sich schließlich immer an und wird man sich immer anschauen,
und ich kann sie dann ja aufnorden, blondieren oder ihnen eine Dauerwelle
verpassen. Nichts davon muß ewig halten. Nichts davon soll ewig halten.
Nichts brauchen die Klassiker weniger, als von mir gehalten oder unterhalten
zu werden. Es wird aber daran scheitern, daß ich auch diesmal, wie üblich,
wieder die Angabe des jeweiligen Klassikers nicht verstehe (oder nicht
richtig) und entweder zu einem ganz andren, falschen Stück das richtige
Sekundärdrama schreibe oder, wahrscheinlicher, das Originaldrama nicht
verstehe und dann was total Falsches dazuschreibe. Falsch ist es aber
sowieso immer, was ich schreibe. Aber wenn die Angabe falsch ist (auch
eine Spezialität von mir, bei Mathe-Schularbeiten habe ich immer falsche
Angaben abgeschrieben von der Tafel), dann nützt mir kein Angeben mehr,
ich gehe in die Irre und bin dann, zumindest für die Dauer dieses Scheiterns,
natürlich überhaupt keine Künstlerin mehr. Ich bin eine Sekundärkünstlerin,
kann aber danach vielleicht wieder einen neuen Antrag auf Originalkünstlerin
stellen. Danke jedenfalls, daß ich Ihnen hier einen kleinen Auszug aus
meinem reichhaltigen Angebotskatalog vorstellen durfte.
Noch
etwas zur jeweiligen Realisierung: Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.
Das Hauptdrama kann Szenen aus dem Seitendrama integrieren, der Text kann
im Hintergrund als Schrift durchlaufen, man kann ihn wie ein Hörspiel
hören, aus dem Off oder von Schauspielerinnen und Schauspielern auf der
Bühne, neben dem Hauptstück, nur gesprochen oder auch gespielt. Das Hauptstück
kann kurz zurücktreten und dem Sekundärstück Platz machen und umgekehrt.
Die Zuschauer können den Text auf ihren Laptops oder Handys im Zuschauerraum
mitlesen, nachdem sie ihn sich geladen haben. Das Sekundärstück kann über
einzelne Strecken das Hauptstück ersetzen, nur eins geht nicht: Das Sekundärdrama
darf niemals als das Hauptstück und alleine, sozusagen solo, gespielt
werden. Eins bedingt das andre, das Sekundärdrama geht aus dem Hauptdrama
hervor und begleitet es, auf unterschiedliche Weise, aber es ist stets:
Begleitung. Das Sekundärdrama ist Begleitdrama. Das nimmt eine Menge Druck
von mir, uff, und so bin ich froh, das Sekundärdrama erfunden zu haben,
zu meiner eigenen Entlastung und zur Belastung der Großen, die sich dann
damit herumschlagen müssen, nein, sie müssen eh nicht, aber sie können
es, wenn sie wollen.
18.11.2010

Abbildung: Radierung: "Faust", Rembrandt, 1652
Anmerkung zum Sekundärdrama: © 2010 Elfriede Jelinek

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