Das Schweigen

Schauen Sie, wie kann der erwachsene, alleinstehende Mensch in seiner natürlichen Trägheit im Schreiben wirksam werden? Wie schön und still ist es zur Zeit noch in ihm und um ihn. Aber nicht mehr lang. Irgendwann muß er aufstehn, das Schöne als noch schöner empfinden, das Schreckliche als noch schrecklicher, und dann soll er es gefälligst gefällig ausdrücken. Also, da hält er jetzt endlich was umschlungen und verfaßt seine Schriften, die aufgehn sollen, sobald ihr Same im Beet feststeckt. Gut. Das Beet ist voll. Was ist das Problem? Diese Werke, sie sind, obwohl dicht gesät und überhaupt toll, doch irgendwie gleichzeitig leer und voller Irrtümer. Ich sage großartig: mein Werk über Schumann wird das einzig mögliche sein. Es wird das einzige bleiben. Es wird das Bleibende bleiben. Und dann sage ich lange gar nichts mehr. Jetzt soll ich also dem Geistesschlaf von diesem Menschen auch noch etwas Farbe geben! Ich verlange es von mir. Irgendwas muß ich ja tun, um mir gerecht zu werden. Zu niemandem bin ich so gerecht wie zu mir. Indem ich Schumann gerecht zu werden suche, bin ich gerecht zu mir. Ich muß mir dieses Werk abringen, weil es mich sogar im Schlaf noch würgt. Und das Werk soll dann auch noch von allein stehen können, in einem Bücherregal, in der Ewigkeit, in einem Haus, an einem langen Sonntagnachmittag im Bett, am kürzeren Ende eines Asts. Und sobald es das endlich kann, soll es auch schon fürs Ganze stehn und fürs Einzige über den Komponisten Schumann gelten, den Sie sicher von etlichen Radiosendungen und CDs kennen. Umso schlimmer. Wahrscheinlich werden Sie darüber hinaus gar nichts mehr erfahren wollen. Das kommt noch dazu. Die Musik wird Ihnen völlig genügen, sie ist ja das Genügsamste, sie braucht nur etwas Strom und ein paar Geräte. Ich werde sagen: meine Schrift über Robert Schumann, und Sie werden sofort wissen, was ich meine. Ich sage: meine Schrift, und ich sage meine Schrift über Schumann. Obwohl ich kaum Noten lesen kann. Was ich nicht sage. Schon herrscht die Stille, erwartungsvoll, die Stille, die Sie nicht kennen, weil sie natürlich bei Ihnen nie herrscht, also bei mir darf sie es: herrschen. Nicht solange sie will, aber zumindest solang bis das Wort kommt, Achtung, jetzt kommts! Nichts kommt. Kein Wort. Alles bleibt still. Welch ein Verlust! Wäre es gekommen, es wär ein gutes Wort gewesen. Also ich befreie jetzt das Wort von seinem Kommen. Vielleicht kommts dann schneller, wenn es nicht kommen muß. Nein, wieder nichts. Hinsichtlich Schumanns muß ich nicht einmal die Worte Wahnsinn, Klavier, Kinderszenen, Sonate, Clara aussprechen. Es genügt zu sagen: meine Schrift über Robert Schumann. Und damit habe ich auch schon den Durchbruch durch eine Mauer unverständigen Schweigens erzielt. Hab mich recht elegant durchgezwängt durch die finstren Möbel, die andre aufgestellt haben, in deren Staub sie mit dem Finger Kringel, Ziffern, Wörter gemalt haben. Durch das Unwesen von andren, das es in einem hübschen Park lustlos mit sich selbst treibt. Dort bin ich auf einer Bank gesessen und hab es beobachtet, bis eine junge Mutter die Polizei gerufen hat. Ich habe mir doch keine Freiheiten herausgenommen! Was ich mir erlaubt habe, war nichts als ein Rückwurf auf mich selbst. Eine Freiheit gegen mich, also äußerste Unfreiheit, verhängt über mich. Denn wo Schumann draufsteht, bin jetzt ich drin. Schumann raus, ich rein! Ich strebte also in Richtung Schumanns, bitte, da ist ja schon seine kleine Statue, hier meine Schrift, dort ist mein hoher Status, grüß Gott, Sie auch da? Eine kleine Menge von Lesern folgt mir erwartungsvoll und erbarmungslos, sie erwarten sich natürlich einiges von mir, bloß um mir endlich zu widersprechen, und wärs nur bezüglich dieses Komponisten, der einige von ihnen interessiert , die anderen aber nicht. Doch alle, alle wüßten Besseres zu sagen, egal über wen. Schauen Sie sich diesen Anfang an - eine einzige Verweigerung! So kann keiner angefangen haben. Ich begann trotzdem zu schreiben. Die Haushälterinnen kamen und gingen, schweigend, niemand sonst darf da sein und sprechen, wenn ich schreibe. Auch wenn ich nicht schreibe, darf keiner, außer mir, sprechen. Ich begann also. Ich kam und ging, sprechend, und nur über einen einzigen schweigend: Schumann. Schweigend, indem ich nichts tat als über meine Schrift zu sprechen. Doch es genügte, um den Namen Schumann zu verschenken, wie ein Handy, das man in der Zeitschrift gewinnen kann, zusammen mit der Anmeldegebühr, daß man an den Gesprächen überhaupt teilnehmen darf. Ich baute mich als Werk also recht nett rings um Schumanns Werk herum auf und möblierte mich; wo sind die Blumen, so, fertig! Schon können Sie Ihre eigenen Beobachtungen über Schumann machen und meinen sofort widersprechen. Alle Beobachtungen, egal welche, werden von mir naturgemäß sofort wieder verstellt. Ich bin ja größer als sie. Nein, ich rücke nicht beiseite, das ist nicht nötig. Schumann sollte in meiner Schrift, die da kommen sollte, sozusagen das Kommendste überhaupt werden. Doch dann kam er nicht. Auch nicht als ein Teil von mir. Das schon gar nicht. Er kam einfach nicht. Da war nichts zu machen. Vielleicht hatte ich mich in der Ankunftszeit geirrt. Er war was er war und wofür allein sein Name gebürgt hat, höchste Qualität. Anerkannte Qualität. Man kann sagen, ich bin kein Freund Schumanns, ich bin eher ein Freund von Brahms und Schubert, aber ich bin ein Freund von Qualität. Aus diesem Grund bürge ich doch für ihn. Ich bürge nur für die allerhöchste Qualität. Sonst kann ich für niemanden bürgen und für nichts garantieren. Einer der größten Komponisten ist er, uns allen gegeben, damit wir die Wächterschaft über ihn übernehmen, daß keiner was Falsches über ihn sagt. Und ich der Wächter über die Wächterschaft. Sprechen darf grundsätzlich jeder, weil jeder es kann. Auch ich tu ja nichts anderes. Kann man sagen, ich habe Schumann benutzt, um ihn, gerade indem ich über ihn redete, vollständig auszusparen? Das wäre dumm, bei all der Mühe, immer nur mich selber niederzuringen, Einbrecher und Wächter in einer Person. Ich soll über ihn geredet haben, damit ich nicht über ihn reden mußte? Es ist, als ob die Armut verarmen, der Reichtum endlich wirklich reich werden müßte. War die Menge mir noch bereitwillig bis zu mir gefolgt, die Leute sind ja immer neugierig, wenn sie sehen können, wie einer lebt, Möbel und so, ein Landgut, ein Mercedes Diesel, bis zu mir war sie mir also gefolgt, die Menge, wie sie vorgab, nur um Schumanns Einzug in mein Werk mit mir, auf mir, in die Öffentlichkeit zu tragen. Um sich dann sofort daneben zu stellen, damit man sie nicht übersieht. Denn dort, neben die Großen, dort gehört sie hin, die Menge, die sich für verständig hält, aber nicht einmal den Busfahrplan an der Haltestelle versteht. Sie alle kennen doch Schumann, wer kennt ihn nicht. Wer liest, der kennt auch Schumann. Wer hören kann, der hört ihn auch. Wer liebt, der weiß zumindest wen. Und brannten sie nicht darauf, all die Leute, mir mein Sprechen über ihn, Schumann, zu verweigern, sobald ich auch nur ein Wort über ihn sagen würde, und ihres, ihr Sprechen, an die Stelle von meinem zu setzen, egal was ich sagen würde, sie wüßten es in jedem Fall besser. Doch bald merkten sie, enttäuscht, doch erleichtert, merkten sie also, jetzt oder nie würde ihr ganz persönlicher Schumann-Tag kommen. Und dann kam er nicht - was wissen wir nun über den Komponisten, da sein Tag geko men und wieder gegangen war? Mehr oder weniger? und wieder gegangen, ungenutzt, ohne daß ein ganz neuer Schumann von mir gegründet worden wäre, bei dem sie als erste sofort Mitglieder werden dürften. In jedem Fall wüßten sie andres, besseres über ihn und brannten darauf, es auch zu sagen, etwas, das viel eher wert gewesen wäre, in den Abgrund meines Sagens geworfen zu werden, um ihn zu erhellen, denn ich hätte ja selbst keinen Schimmer, das stünde jetzt doch wohl fest! Doch sie würden nie zu Wort kommen. Auf die Unbekannten hört man ja nicht. Kein Wunder, ich habs ja, das Wort, zu dem sie kommen wollen; ich bin am Ball, und hergeben tu ichs nicht mehr. Ich spreche also über Schumann, doch ich bin, was ihn betrifft, nie Ihr Gesprächspartner. Ich sagte also, versuchsweise: Schumann ist letztlich die Stille, in die er mündet. Versuch mißglückt. Zweiter Versuch. Meine Schrift über Schumann entsteht, ja, es handelt sich nur um sie, und mit Entsetzen sehe ich die Verwüstung auf meinem Schreibtisch, in meinem Haus, das ich jetzt verlasse, um nach Mallorca aufzubrechen, nach Palma, aber es handelt sich um das Gegenteil einer Schrift. Meine Schwester wollte zu Besuch kommen, bevor ich abreiste, eine entsetzliche Frau, und doch die einzige, die ich ertrage. Mit einem noch entsetzlicheren, jedoch sehr vermögenden Mann verheiratet gewesen, einem Korkenzieherfabrikanten aus Solingen, doch jetzt kommt sie nicht. Es hat keinen Sinn, wenn sie kommt, denn ich bin weg. Die Schrift. Sie entsteht, indem sie nie entsteht, indem aber unaufhörlich von ihr die Rede ist. Die Schrift übernimmt nun die Vormacht über mein Sprechen, indem sie, als Schrift, nur noch schweigt und schweigt, und das Sprechen natürlich nie ankommt, weil dort, wo sein Zielbahnhof wäre, das blöde Schweigen jetzt steht und nicht abhaut, ich glaub, es hat eine Panne. Und keiner fährts weg. Indem sich die Schrift mi verweigert, kann ich erst mit dem Sprechen anfangen, so ist das mit mir, und ich spreche über nichts sonst als diese Schrift. Doch indem ich spreche, merke ich, was ich vorher schon ahnte: sie ist ja gar nicht mehr nötig, die Schrift! Plötzlich bleibe ich stehen. Ich sage die Schrift, und ich sage die Schrift auf, indem ich gar nichts sage und gar nichts schreibe. Bitte. Jeder Anfang öffnet sich und bleibt dabei schon seinem Ende zugeneigt, wo er ja schließlich hin muß. Dazwischen die Schrift, die will auch noch hinein. Ich habe entsetzlichen Schwierigkeiten, aber das macht nichts. Davon handelt schließlich die Schrift über meine Schrift. Die Leute könnens gar nicht erwarten, von meinen Schwierigkeiten Näheres zu erfahren. Schumann interessiert sie nicht mehr, meine Schwierigkeiten interessieren sie viel mehr. Von denen ist mehr zu erwarten als von Schumann. Von dem haben sie schon alle CDs. Von dem haben sie alle längst genug. Schwierigkeiten haben sie jedoch alle, Schwierigkeiten, die kennen sie. Und von dem, was sie schon kennen, können sie gar nicht genug kriegen. Und es freut sie natürlich, wenn auch andre etwas haben, das sie kennen, nur eben anders. Schumann kennen sie, nur anders, und mehr müssen sie über ihn gar nicht wissen. Er ist grade so angenehm zu hören! Er ist grad im Radio! Die Schrift wird derweil für mich aufgehalten, ich darf jetzt hinein. In Ordnung. Ich gehe also hinein und hinaus, je nachdem, was ich mir abverlange, doch Hauptsache, es ist in meiner Schrift von dieser Schrift die Rede. Mehr braucht sie nicht, die stille Schrift, als daß von ihr die Rede ist. Ja. Glauben Sie nicht auch, daß die ganze Geschichte, die wir zum Glück nicht zur Gänze erlebt haben, nur deshalb wahr ist, weil sie aufgeschrieben wurde? Gewiß nicht. Sie ist ja überhaupt nicht wahr, ob aufgeschrieben oder nicht, man kann sie doch niemals so aufschreiben, wie sie stattgefunden hat. W er würde das alles denn glauben? Das kann doch nicht wahr sein, daß das alles wahr sein soll! Nichts als eine Schrift, auch sie. Aber eine, die nie entsteht. Genau wie meine. Die auch nie entsteht, indem sie entsteht. Ein leerer Papiersack. Sie ist unserem Denken aufgetragen, indem sie geschrieben wurde, doch sie wurde ja gar nicht geschrieben! Was für eine Erleichterung! Die Leute glauben nur, sie wäre geschrieben worden. Wieso hat sie dann nie einer gelesen? So ist das mit dem Wesen der Wahrheit, die es nicht gibt, obwohl sie überall geschrieben steht. Ein blinder Fleck, der aufgeschrieben wurde, indem er nie aufgeschrieben wird. Indem um ihn herumgeschrieben wurde. Um einen blinden Fleck. Und weil sie nicht geschrieben wird, die Wahrheit, stürzen ihr Anfang und ihr Ende immer wieder zusammen, weil nichts sie hält. Sie stürzen sich aufeinander, kann man sagen, indem sie nicht geschrieben werden, nicht gestützt, nicht Anfang, nicht Ende, egal von was, sagen wir halt: Geschichte, indem sie ununterbrochen geschrieben werden, Anfang, Ende, Anfang, Ende. Nicht einmal auf den ersten Tag konnte man sich bisher verständigen, an dem die Wahrheit der Geschichte ihren Anfang nehmen sollte, wieso? Indem ich es schreibe, egal was, entbinde ich Sie davon. Indem ich schweige, zeige ich Ihnen das Innigste, mein Innerstes, das Nichts, das da entsteht, indem ich daran schreibe. So festige ich meine Herrschaft. Indem ich nichts sage, was dann gegen mich verwendet werden könnte. Indem ich alles sage, das ich aber überhaupt nicht sage. Bitte, die Geschichte macht es vielleicht anders, sie entbindet uns, sie zu schreiben, indem sie sich selbst schreibt. Und was herauskommt, um es zu entziffern, ist: nichts. Niemand kann es lesen. Niemand muß es lesen. Es ist nur geschrieben, um nicht geschrieben zu sein. Mein ganzer Körper nur noch ein einziger Schmerz. All die Menschen, die um ihre Geschichte enteignet werden, indem sie sie erleben mußten Und zwar, indem sie gar nichts erlebten. Was, Sie haben das alles erlebt? Aber hier steht es nicht, und hier auch nicht! Es kann also schon mal so nicht stimmen. Der Schicksalsfaden - längst nutzlos abgespult, doch nicht verstrickt! Die Armen! Zwischen den Armen! Und keiner, keiner schreibt über sie und ihre mißtrauischen Empfindungen und die besorgten Gesichter ihrer Eltern, die glaubten, auch aus ihren Kindern würde einmal etwas werden. Ich kann doch nicht alles alleine machen. Ich kann nur über die Größten von ihnen schreiben, mehr Platz habe ich nicht. Für die Kleineren: weniger Platz in mir. Die größten der Namen werden mir soeben gereicht, damit ich sie verwende. Sie schauen und schauen wieder weg und werden doch nicht vergessen. Sie haben ihre Aussichten an der Kasse schon eingelöst, während andre noch, mit strahlenden Gesichtern, auf die herrliche Landschaft vor sich blickten. Sie müssen sich nicht mehr anstellen, die Großen. Die Vergessenen können von mir aus jetzt gehn. Ich lebe allein für mich, und ich lebe nur in meiner Schrift, die umso unerschöpflicher ist, als ich es bin, der sie aus sich herausholt. Die Vergessenen haben wenigstens für ein bißchen Sonne auf einem Berg oder ein bißchen Regen in einem Gesicht gelebt, nur ich, ich lebe nicht, für nichts. Ich schöpfe. Ich lebe nicht. Die Sonne ist nichts für mich. Der Wind ist nichts für mich, und der Regen ist ganz besonders nichts für mich. Ich nehme Schal und Haube und Tabletten gegen das Wetter. Ich lebe schließlich, doch ich lebe ausschließlich, damit mir nichts passiert. Die Geschichte lebt davon, daß das und das passiert ist. Und die Geschichte ist tot, weil sie nicht aufgepaßt hat. Sie ist gestorben, weil ihr das und das passiert ist. Einer sollte uns wirklich zusammenbringen, uns und das von uns nicht, niemals Gesagte, damit wir endlich voneinander abweichen können und : endlich endgültig schweigen dürfen, einig mit uns.

 

"Das Schweigen" wurde am 27.5.2000 im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, im Rahmen des Theaterfestes aufgeführt. (Jossi Wieler/André Jung)


Das Schweigen © 2000 Elfriede Jelinek

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