Zu Franz Schubert

Die Fragen liegen am Weg herum, und viele halten sie für unumgänglich, sie sind sogar stolz darauf zu fragen. Ist ja gut. Von den Antworten erwarten sie zumindest Tiefgang oder Tragweite. Manche sollen auf ewig Fragen bleiben, doch die Antworten auf sie werden auch irgendwann einmal kommen. Aber wie kann es sein, daß ausgerechnet ein Bächlein am tiefsten ist, womöglich eins aus Tränen? Und nichts fragt und nichts beantwortet, weil es gleichzeitig fließt und da ist, kaum getrübt, und wenn, dann von einer Harmlosigkeit, die wirklich daraus kommt, daß keinem ein Harm angetan wird, auch all den Freunden der Heiterkeit nicht, die drum herumstehen. Denn nichts von alldem meint sich selbst oder ist gemeint. Aber es ist auch nichts anderes gemeint. Ein Rätsel, das Schubert ist. Ein Rätsel, das uns aufgegeben wird, indem einer sich selbst aufgegeben hat, und wir stehen jedenfalls nicht auf dem Adreßaufkleber. Diese Selbstaufgabe ist allerdings auch keine Form der Resignation oder Preisgabe oder Lethargie. Es wird nicht sorgenvoll geblickt. Wunden werden nicht gezeigt. Verletzungen nicht verbunden, überhaupt wird eine Verbundenheit mit uns zwar hergestellt, aber auch geleugnet, sobald man den Ländler mit-schnaderhüpfeln möchte. Ähnlich wie bei der in ihrer scheinbaren Selbstgewißheit doch gleichzeitig dem Zuhörer buchstäblich unter den Händen zerbrechenden Rustikalität Mahlers (die aber andre Ursprünge hat, die Brüchigkeit der bürgerlichen Klasse und die Verweigerung, den Juden je zu integrieren), sind auch diese Schubertiaden-Volksweisen nicht dazu da, daß man in ihnen zuhause ist, weil man sie so oder so ähnlich schon oft gehört hat und daher mitsingen kann. Im Gegenteil, diese Komponisten des brüchigen Bodens, den sie doch immer wieder beschwören - es ist der sogenannte Heimatboden, der brü chigste von allen also, weil natürlich jeder ausgerechnet von ihm Tragfähigkeit erwartet - schreiben über das, worauf sie gewachsen sind, um sich zu vergewissern, überhaupt da zu sein, und dabei fällt es ihnen unter den Füßen ins Nichts; und schon das Bemühen, es zu fassen, wird zu einer endlosen Erniedrigung, die einen zum Hund macht, der etwas bellend umkreist, das er nicht kennt. Das liegt daran, daß die Angaben, die gemacht werden, um die Töne in ihrem Koordinatensystem zu verorten, damit sie etwas Zusammenhängendes zum Hören ergeben sollen, immer nur dem entnommen sein können, das wieder aus diesem Ton-System kommt. Daher meint Musik ja immer nur sich selbst, weil sie nur durch sich selbst zu erklären ist. Doch bei Schubert ist es anders. Auch bei ihm sehen wir, wie das und das beschaffen ist und wie er es gemacht hat, damit es so und so klingt. Aber auch wenn all diese Eigenschaften benannt werden können, das was entsteht, ist trotzdem nichts was einen Namen hat. Ist jedenfalls nicht die Summe beschreibbarer musikalischer Parameter. Das was fehlt und gleichzeitig dazukommt, ist nicht nur die Aura, die jedes Kunstwerk hat und die es erst ausmacht, sondern es ist die Tatsache, daß etwas da ist, das uns gleichzeitig weggenommen ist, weil auch der Zuhö rer, indem er hört, sich selber enteignet wird, selbst wenn er seiner selbst noch so sicher sein mag. Der Hörer wird sozusagen verschlungen von dem Schubert'schen Vakuum, das ihn, als die nichtsgewisseste Musik, die ich kenne, danach zwar immer wieder hergibt (er hat auch alles brav gehört, ja er gehört sich selbst auch noch, er hat sich gut festgehalten und vielleicht sogar angeschnallt!), ihn aber für Bruchteile von Sekunden, da die Zeit, relativ, rückwärts gelaufen ist, mit dieser Zeitpeitsche aus Klang zerbrochen und sich für immer entfremdet hat, ohne daß es es gemerkt hätte.

Und diese Erniedrigung, etwas suchen zu müssen, das für die meisten andren einfach da ist, einleuchtend, selbstverständlich, dauert fort, weil sich für Schubert die Dinge selbst schließlich auch nicht in dieser und dieser Abmessung gezeigt haben, damit er sie aufschreiben konnte. Und sie dauert fort, indem man Schubert, und auch, wie ich finde, Mahler, bis heute etwas zuschreibt, dessen sie selbst nie gewiß sein durften und konnten. Wir zwingen Schubert heute, etwas zu sein, das er nicht ist, weil wir uns nicht vorstellen können, daß einer zwar jemand sein möchte und etwas schaffen, daß er sich aber dammit gar nicht selber meint (von "Selbstverwirklichung" in der Kunst müssen wir überhaupt schnell wieder schweigen!), vielleicht auch nicht weiß, was oder wen sonst er damit meint. So wie man unmittelbar nach einer großen Freude sofort in Verzweiflung oder Ungnade fallen kann, so hat Schubert geahnt, daß er in der Ungnade immer schon gewesen ist, und, was sie von ihm gedacht haben, was heute von ihm gedacht wird - und heute bitten wir ihn natürlich herein und bieten ihm etwas an, auch wenn wir uns immer nur selbst bedienen wollen - gemeint ist etwas ganz anderes. Etwas in Grenzen, das es nicht kennen will, weil es sie nicht anerkennen würde. Ohne sich von selbst zu ergeben, aber es ergibt sich auch sonst niemandem. Unser Instrumentarium ist immer eine Waffensammlung, aber sie nützt uns nichts. Der später Schumann in der Irrenanstalt fällt mir noch dazu ein: Verdämmern ohne sich selbst zu meinen.

Da findet einer, und das gerade in seinen stärksten Momenten, nicht mehr aus sich heraus und nicht mehr aus dem, was er schreibt. Weil er eben nicht weiß, was er tut, obwohl er es besser weiß als jeder. Am stärksten ausgeprägt ist das vielleicht im ersten Satz der letzten Sonate (B-Dur, D 960) und im zweiten Satz der vorletzten (A-Dur, D 959). Das Thema irrt herum und findet sich nicht mehr und findet kein Ende. Es erinnert sich immer wieder an seine Ausgangsstellung, trifft, wie zufällig, ein Seitenthema, das kurz zum Fenster hinausschaut, ob da noch etwas ist, aber gleich wieder zurückkommt und weiter im Kreis herumirrt. Ist das ein Fragen oder ein Anklopfen, daß man herein darf? Sicher ist inzwischen: Es ist nicht kontrapunktisches Ungeschick in der Verarbeitung. Es wird hin- und hergefragt, und, obwohl Schubert sich vom Thema entfernt, bleibt er doch immer dort, ohne, und das ist seltsam, ihm je näherzukommen. Obwohl er ja schon dort ist, denn es taucht ja ununterbrochen auf. Will er es nur aus Scheu nicht? Will er es nicht, weil er eigentlich wo andershin will? Will er nicht sagen, wohin er will (Zensur!)? In der großen A-Dur Sonate (zweiter Satz) findet es, das da auftaucht, manchmal nicht einmal in den Grundton zurück, es erreicht ihn zwar fast, nein, ist eigentlich schon da, es kennt ihn doch!, aber im Baß stellt sich etwas auf, ein Stachel, der den Sitz unbrauchbar macht, ja, oder da bleibt etwas hängen, hält es am Knöchel im letzten Augenblick zurück, fragt zögernd weiter nach der Adresse, obwohl es jetzt schon so viele gefragt und immer wieder dieselbe Antwort erhalten hat: hier sind Sie ja schon dort wo Sie sein wollen! Je mehr das Thema also angefragt und angespielt ist, umso weniger ist es sich oder gar seinem Erzeuger nähergekommen. Und das führt in den Bereich aller Dinge und wie sie einem begegnen. Zuerst wird etwas gezeigt, dann begegnet es uns, um uns, inmitten des Gezeigten, als Subjekte konstituieren zu können, ohne daß wir zuvor wüßten, wer oder was wir überhaupt sind. Und weil wir es nicht wissen, kann es das uns Gezeigte naturgemäß auch nicht tun. Wir selbst aber wissen es nicht. So führt die Musik, speziell diese Musik, über die Gegenstände hinaus in den eigenen Bereich, und der Bereich der Musik ist die Zeit, der aber, in Schuberts Fall, ihr Raum verlorengegangen ist, auch wenn der Raum heute wieder ein schöner Konzertsaal ist. Wenn ein Zeit-Raum Begegnungen ermöglicht, dann erlaubt diese Zeit ohne Raum solche Begegnungen eben gerade nicht, weil diesem Komponisten, wie wenigen anderen, während er die Zeit angehalten hat, um selber kurz anzuhalten, der Raum davongelaufen ist, das heißt: alles was um die Dinge so herumliegt. Notgedrungen muß, um etwas zu bestimmen, ja Raum und Zeit angeführt werden, Biedermeier, Metternich'sche Zensur, Verschlüsselung, Verschleierung, etwas meinen ohne es zu sagen, etwas sagen ohne es zu meinen, aber daß etwas von vorneherein ein Ding ist, über das nichts zu erfahren wäre, weil es zwar ein Gewolltes und Gemachtes (und das sehr bewußt!) ist, aber nicht ein wollig Umstricktes und nicht ein Eingemachtes, das man behalten könnte, in die Sammlung legen und anschauen bzw. anhören, wann immer man möchte. Das was fehlt ist die Hauptsache, und es ist nicht etwas ausgespart, sondern gerade daß es fehlt, macht es ja aus!

Jeder Weg hat Anspruch darauf, auch begangen zu werden, und der Künstler geht ihn als erster. Manche gehen, und da ist kein Weg. Sie gehen trotzdem und fallen für uns, und nicht einmal ein Feld der Ehre haben sie dafür bekommen. Die Tür ist geschlossen, der Grundriß ist da, ohne Grund ist da aber trotzdem immer dieser Riß.




Zu Franz Schubert © 1998 Elfriede Jelinek

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