Schlüsselgewalt

 

Der Pädophile liebt das Unerwachsene, das Kind, als wäre dieses Kind ein Erwachsener und könnte wählen. Da nichts und niemand der Benutzung entgeht, der benutzbar ist, wird er auch benutzt werden, und nach marktwirtschaftlicher Logik reisen Menschen zur Nutzung der Kindlichkeit herum und kaufen es sich, dieses Recht auf Nutzung. Die Miete wird gezahlt und aus. Es kostet uns nicht viel.

Die Wissenschaft, die Universität, ist das Fremde, in das viele eingelassen werden, das viele für sich nutzen wollen. Doch sie läßt sich nicht auf jeden ein. Nicht ganz so viele sind berufen, noch weniger sind auserwählt. Auf Frauen, die Kinder der Gesellschaft (das sind sie ja lange gewesen, unmündig, hilflos gehalten, unter Kuratel ihrer Vorgesetzten in der Familie), hat sie lange nicht reagiert, die Wissenschaft. Die konnten an ihre Tür klopfen, bis ihnen die blutigen Hände abgefallen sind. Später wurden sie, falls sie ein Doktorat, eine Habilitation geschafft hatten, fortgeschafft ins Irrenhaus, wie die erste Jus-Dozentin der Schweiz, Emilie Kempin-Spyri (eine Nichte der Verfasserin der lieben Heidi) oder ins Ghetto Theresienstadt, wie Elise Richter, die berühmte österreichische Romanistin, die gemeinsam mit ihrer Schwester dort der Vernichtung zugeführt wurde; ihre akademischen Grade durfte sie nicht mitnehmen, die hätten ihr am Todesort auch nichts genutzt. Wie so vielen andren. Es nützt alles nichts: Die Menschen werden immer vernutzt, wenn sie sich nicht wehren können; die Wissenschaft soll ihnen Nutzen bringen, doch was nützt es ihnen? Was nützen ihnen die Wege der verbrauchten Stunden des Studiums, die ihnen vorausgegangen sind, am letzten Weg? Die Stunden fallen, auf keinem Feld der Ehre, sie fallen zusammen mit nichts. Und der Griff nach dem Wissen bleibt für immer in der Luft hängen.

Die Körper von Kindern kann man sich kaufen und der Benutzung zuführen. Die Wissenschaft nicht, die verschließt sich selbst gern, und da sie keinen Schlüssel zu sich hat, drehen andre, die ihn haben, diesen Schlüssel um. Schlüsselbewahrer, welche die Gegenständlichkeit der Gegenstände und die Objektivität der Objekte zu wahren haben. Da sind Frauen lange nicht reingekommen, denn sie waren ja Wesen, die selbst immer nur zur Nutzung vorgesehen waren, zur Reproduktion, zur Pflege und Betreuung andrer, zum Vernichten von Schmutz, zur Sinnlosigkeit. Um den Sinn, irgendeinen, mußte hart gekämpft werden. Um etwas, das verborgen bleibt, kämpfen, damit es sich öffnet? Da geht nichts auf, auch wenn man nach den Sternen greift, die schließlich für alle da sind, frei zur Ansicht, aber nicht zu freien Ansichten. Man muß schon springen, dann kommt man wenigstens in ihre Nähe. Man muß einen Grund haben, und das ist nicht der Grund, auf dem man steht. Das ist ein andrer Grund, den man auch nicht erfahren kann. Es ist einer, nach dem man sich eben strecken oder hochspringen muß, und er ist dennoch immer zu hoch. Höher, als man springen kann. Es geht ja immer darum, sich in etwas vorauszudenken, was einem vorher nicht denkbar erschienen ist, also im Grunde: die Zeit aufzuheben. Das, was andre fallengelassen haben. Sich vorausträumen, aber nicht in einen andren Traum, sondern aus einem Traum heraus in den Tag hinein, in das Wissen, das sich so lang den Frauen verborgen hat, das heißt: ihnen verborgen wurde (und in andren Kulturen sind die Frauen selbst das Verborgene, das sich verstecken, hinter Tüchern verbergen muß, so wie sich ihr Geschlecht, das nach innen geht, verbirgt hinter einem Gitter aus Haar, aus dem man gut ein Gefängnis basteln kann. Man sieht nichts, aber man möchte es wissen, gerade weil man nichts sieht. Freud hat ja das Handarbeiten, das Stricken, Wirken und Weben, als einzige originär weibliche Kulturtechnik bezeichnet, welche die Frauen, inspiriert von ihrem Schamhaar, erfunden haben). Man möchte also etwas wissen, das es geben könnte, das man aber noch nicht sieht. Dieser Wunsch ist bei den Frauen angekommen (aber es gibt keine Abflugzeit für sie), deren Erfahrungen sich so lange aufs Praktische zu richten hatten, und was für sie weben und walten durfte, war bestenfalls die Natur, das, was ist und was sich zeigt. Da kann ja jeder daherkommen, das Anschauen ist gratis, die Anschauung nicht. Das, was sie selbst nicht zeigen durften: Man mußte es ihnen wegreißen, den Frauen, während sie an ihrem Standort zu bleiben hatten. So wie man dem Kind seine Unschuld entreißen muß um hineinzukommen, was immer Schändung bedeutet.

Für den Mann ist Wissen, das er sich aneignet, niemals Schändung, für die Frau war das jahrhundertelang nicht denkbar, daß sie ins Wissen hineinkommen durfte, man mußte ja in sie hineinkommen, damit was weiterging. Das Sein darf ruhig kommen, das neue Sein ist meist sogar besonders willkommen, wenn auch oft nur kurz, es darf gehegt und gepflegt werden (wer soll es denn sonst machen als Frauen, die dafür vorgesehen sind, immer noch, und das ist oft?), dazu wird vieles benutzt von der Frau, Gerätschaften, der eigene Körper, der als Gerätschaft benutzt wird, das Sein, das sie fast allein erzeugt hat, aber gleichzeitig bleibt das Wesen dieses Seins hartnäckig in seinem Versteck. Darum kümmern sich andre. Die Frau hat genug zu tun. Sie ist voll ausgelastet. Sie wäre es sonst vielleicht gar nicht selbst, und sie würde Sein (vielleicht will sie ja einmal, daß nichts mehr sei?) womöglich gar nicht mehr erzeugen, wäre ihr sein Wesen, das Wesen der Natur, des Seins, nicht länger verborgen. Aber nein, sie will es untersuchen! Sie will jetzt wissen, was sie gemacht hat! Es soll sich ihr nur ja nicht zuwenden, dieses Wesen! Es könnte fürchterlich sein. Es könnte vom Herrn so nicht gewollt sein, daher: Finger weg! Wer weiß, was dabei herauskommt.

Heute ist das alles ganz anders. Es hat sich alles bereits geändert. Das Geschick der Frau hat sich von bloßer Geschicklichkeit zum Wesen des Geschicks sozusagen gedreht, gewandelt. Da ist vielleicht etwas unter ihr aufgewacht, nicht ständig nur aufgewachsen. Die Herrschaft über das Kind ist dem lebenslangen Kind, der Frau, anvertraut, die sich zeigen muß, die sich erkenntlich zeigen muß, ohne etwas erkennen zu dürfen, die ihren Dank an die Natur abstatten soll, indem sie möglichst stattlich ist, herausgeputzt, aber hallo! Durch eine Menge Löcher soll immer ihr Körper oder wenigstens ein ansehnliches Stück von ihm herausschauen und winken, nochmal hallo!, jetzt müssen Sie mich doch aber sehen, ich bin ja schon fast nackt! Durch Ausschnitte soll man sie besonders bemerken, als wäre sie selbst ein Teil, nur ein Teil, an dem sie nicht teilhaben darf, möglichst hübsch geschmückt, damit man sie nicht übersieht, der Packung, ihrer Verpackung, entnommen, um selbst Schmuck für einen anderen zu werden, nie für sich, immer für andre, wenigstens für einen einzigen anderen. Irgendwas läuft jetzt partnerschaftlich ab, wie man sagt. Da ist eine, die sich zeigt, und einer oder mehrere, die schauen. Irgendwas ist jetzt anders, keine Ahnung, was. Ich kapiers nicht. Ich habe abgebrochen, weil mir das Stück vom Kuchen zu groß war und der Ausschnitt zu klein. Die Frau darf jetzt etwas zum Vorschein bringen, ohne vorwitzig zu sein. Sie darf einen neuen Blick auf das Sein werfen, und das muß nicht unbedingt ein Sein sein, das von ihr herstammt. Der Stammvater verbietet es nicht länger. Manche kommen trotzdem nicht hinein, keine Ahnung, wieso nicht, so spreche ich, eine verkrachte Studentin, eine sogenannte Studienabbrecherin, die ohne Mühe alles hätte tun können, wenn sie sich die Mühe nur gegeben hätte. Die mußte mir kein andrer geben. Die hab ich mir schon selbst nicht genommen. Mir hat sich damals, vor vielen Jahren, nichts eröffnet, keine Tür, nicht einmal ein Briefkasten, an den mir etwas hätte zugestellt werden können. Es hat sich alles immer nur mit irgendwelchem Gerümpel zugestellt, ich habe den Weg nicht gesehen. Es hat sich mir entzogen. Das passiert Männern genauso. Es ist alles genauso wie immer. Ich habe keinen Grund zur Klage.

Fotos aus: 650-Jahr-Jubiläum: Frauen Aus/Schluss – Ein Sprechchor zum Text "Schlüsselgewalt", Veranstaltung zum Schwerpunkt Geschlechtergerechtigkeit am Mittwoch, 10. Juni 2015, 16 Uhr im Arkadenhof der Uni Wien, Der Standard






Ausschnitt aus dem Videomitschnitt der Veranstaltung

17.6.2015


Schlüsselgewalt © 2015 Elfriede Jelinek

 

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