Schlingensief
Bei
der Zusammenarbeit mit Christoph, in den ich augenblicklich und für immer
Vertrauen gesetzt hatte, ist es mir vorgekommen, als wären wir einander
immer mehr aus dem Gesichtskreis verschwunden, ohne einander aber aus
den Augen zu lassen. Was uns gegenseitig am Werk des anderen in die Augen
gestochen ist, konnte aber vom jeweils anderen nicht direkt benutzt werden.
Aber das Wort Inspiration (also er hat mich natürlich inspiriert, umgekehrt
weiß ich es nicht) ist auch nicht das richtige, im Gegenteil, denn bloße
Anregung war es ja auch nicht. Ich sah und sehe Christoph ja als Bildenden
Künstler, seine Theaterarbeit ist immer mehr in diese Richtung gegangen,
in Richtung von etwas Prozessualem, das im Fortgang etwas entstehen läßt,
das sich zwar immer auf dem Theater realisieren ließ, aber Theater nicht
war, sondern etwas anderes. Da ich mich ihm aber nicht nähern, sondern
ihm nur Textteile wie Sterntaler hinschmeißen kann, weiß ich nicht genau,
was dieses Andere ist. Was ich weiß, ist, daß er meine Texte direkt nicht
gebraucht hat, nicht einmal in der „Bambiland“-Uraufführung. Er hätte
dasselbe Stück auch ohne einen einzigen Satz von mir, mit ganz anderen
Sätzen, egal von wem, genauso realisiert. Davon bin ich überzeugt. Meine
Sätze, die wenigen, die er verwendet hat, sind aber auf andre Weise wirksam
geworden als Theatertexte, die von einem Regisseur realisiert werden.
Sie haben etwas zugelassen, was aber („zulassen“, schon das Wort kann
bedeuten, daß der Stier sich auf die Kuh stürzt, oder daß etwas erlaubt
wird) gleichzeitig, in diesem Prozess, gezeigt hat, daß es sich dabei
um etwas anderes handelt. Man weiß aber nicht, was handelt und was das
Andere ist, um das es sich handeln könnte. Ich kann nur von außen herumsprechen,
als würde man ein Stück Brot von den Rändern her aufessen, indem man ringsherum
abbeißt, bis es weg ist.
Der
Animatograph ist der Übersetzer, in und auf ihm ist alles möglich und
daher alles unmöglich, indem es geschieht. Eine sich drehende Fotoplatte,
auf die alles draufkann, was da ist, alles einsteigen! Er stellt, gerade
in dieser permanenten Drehung als ein sich ständig bewegender „Transformationskörper“
(also einer, der alles aufnimmt und widergibt, gerade darin, daß er einem
nichts wiedergibt, was er einmal hat, denn er gibt es ständig her, er
nimmt und gibt, unaufhörlich, alles, was möglich ist, nimmt er und gibt
er, Schlingensief nennt ihn einen „Seelenschreiber“, er schreibt auf,
was da ist, was es aber nicht gibt), eine Art Mittelpunktskoordinate
dar, die aber nur von einem einzigen Ort aus als Mittelpunkt gesehen werden
kann, von einem anderen schon wieder nicht mehr, ja, nur eine Koordinate,
also eigentlich auch wieder: keine, denn Koordinatensysteme entstehen
ja immer aus mehreren (keine und gleichzeitig unendlich viele, denn dieses
Schlingensief-Animatographengebilde ist wie ein schwankendes Mobile, alles
bewegt sich, die Mittelpunkte verrutschen, es gibt eine Sekunde einen
Mittelpunkt und dann schon wieder keine mehr, doch sie bleiben Mittel-Punkte,
aber die Texte müssen trotzdem auch noch drauf, egal welche, nein, nicht
egal, aber die entscheidenden Texte kommen ja immer aus seiner, des Regisseurs
eigener Erfahrung, egal, wer sie letztlich geschrieben hat, meist er selber.
Alles er. Alles seins. Das macht es zur Kunst, im Gegensatz zum Theater,
das fremde Erfahrungen klappernd und ruckend und ächzend irgendwie in
einen Bühnenraum wirft und das in jedem Zuschauer etwas anderes entstehen
läßt) Parametern. Was Christoph aber schafft, ist ein Koordinatensystem
ohne bzw. mit unendlich vielen Parametern. Da stehen welche herum, ja,
da sind sie, ein paar Meter Parameter, aber sie sind alle Teil von etwas,
und dieses Etwas ist nicht ein Theaterstück, das realisiert wird, sondern
Teil eines Kunstwerks. Der Animatograph läuft los, indem er stehenbleibt.
Im Stehen dreht er sich. Was läuft, ist das, was auf ihm abläuft. Man
kann auf eine Person, die Schlingensief auf die Bühne gestellt hat (und
die das und das machen soll, aber manchmal nicht macht, und während sie
es eben: nicht macht, entsteht schon etwas ganz Anderes. Ich glaube, daß
Schingesiefs Arbeit mit Behinderten, mit einer Gruppe, die ja immer mit-wirken
in seinen Kunstwerken, genau auf diese Aleatorik hinzielt. Die Unberechenbarkeit
dieser Darstellerinnen und Darsteller, die, wären sie Linien, die sich
bewegen, genausogut Mikadostäbe wie Kreissegmente sein könnten. Eine Linie
definiert ja noch nichts. Sie wird definiert durch das, was über sie ausgesagt
wird und abgemessen werden kann, je nach Krümmungsgrad oder Geradheit,
und beides kann man nachmessen, aber es bedeutet jedesmal etwas anderes,
denn Kreis oder Linie werden gar nicht angestrebt. Mal sehn, ob sie sich
in den unendlich vielen Möglichkeiten ergeben oder nicht. ), alles projizieren,
denn sie sind selbst alle Projektionen. Es sind Projektionen auf Projektionen
auf Projektionen. Und die Auftretenden, die einen eben mehr ihrer Laune
und Eingebung überlassen, die andren in strengere Choreographie gefaßt
(die Lieblingsschauspieler, die immer mit dabei sind), ändern ihre Form,
da sie sie nicht ändern. Sie sind ja nicht Plastillin oder Gips, aus dem
man etwas formen kann. Aber sie sind auf andre Weise flüchtige, noch amorphe
Körper, die selbst etwas formen und dabei jedesmal etwas anderes sind,
schon bevor etwas aus ihnen gemacht wird, auch wenn sie gleich bleiben,
sie selbst bleiben oder außer sich geraten. Was war das, was da war? Man
kann es eingrenzen, aber im Kunstwerk kann man es nicht. Wittgenstein
meint, falls jemand frage: „War DAS Donner oder ein Schuß“, könne man
in diesem Falle nicht fragen „war das ein Lärm“
Ich
frage mich also, was ist es, das meine Texte, die das nicht mehr sind,
sobald sie in die Hand des Künstlers Schlingensief gekommen sind, zu Lärm,
zu weißem Rauschen machen, daß sie das nicht mehr sind, was sie, von mir
gewollt, ursprünglich sein sollten. Was soll der Lärm? Ich sehe doch längst,
daß es kein Lärm mehr ist, sondern etwas Gestaltetes, das aber mit der
ursprünglichen Lärmquelle, meinem Text, so wie er gedacht war, nichts
mehr zu tun hat! Indem dieser Künstler das in die Hand nimmt, was ich
geschrieben habe, ist es etwas anderes geworden. Und am Ende braucht er
es gar nicht mehr, und hätte ich ein ganzes Stück für ihn geschrieben,
es muß nicht mehr da sein, weil es auf andre Weise DA und definiert ist,
aber so, daß man nicht mehr fragen kann: Ist das ein Lärm. Der Lärm war
schon, jetzt ist es eine Projektion auf den Animatographen, auf den man
allerdings alles projizieren kann, und man selbst, ist man dabei, verschwindet
darin spurlos. Es ist also zuerst etwas da, das verschwindet. Und es ist
etwas nicht da, was hergeholt wird. Aber trotzdem weg ist. Diese Interferenz
zwischen meinen (dann am Ende nicht mehr vorhandenen) Texten und dem,
was der Künstler draus macht, obwohl sie ja gar nicht mehr da sind, vielleicht
einmal da waren, nein, sogar sicher, aber als Texte haben sie keine Bedeutung
für ihn, sondern als etwas anderes (und worin unterscheiden sich eigentlich
Texte, die da sind und doch nicht und solchen, die nicht da sind, aber
doch wieder da, nur eben anders? Aber dieses WIE ANDERS kann ich nicht
fassen, ich kann es nur einengen auf das, was aber auch schon wieder nicht
mehr ist), und diesem Anderen, also die Interferenz der Interferenz, die
würde mich interessieren. Man kann es aber kaum herausarbeiten, weil man
sich dazu aus sich selbst erst mal herausarbeiten müßte, und das ist schwierig
für eine, die eh nie ganz da ist und wenn, dann nur von sich selber wegkommen
möchte. Insofern hat mir Schlingensief natürlich einen großen Gefallen
getan (er weiß es nicht, vielleicht aber doch), er hat mich von mir selber
weggebracht, indem er das von mir Geschriebene weggedrückt hat in eine
andre Dimension, in der es kein Ding mehr darstellen kann, aber dennoch
durch seine Schöpfer-Hände gegangen ist. Ich habe nun nicht mehr die Möglichkeit
zu erfahren, was die Verschiedenheit der Ansätze, seiner und meiner, ausmachen
könnte, denn meine sind ja gar nicht mehr da. Das Andere, das vom Künstler
Geschaffene, ist da. Aber ohne mich. Aber mit mir. So wie man sagt, wenn
man bei etwas nicht dabeisein will: Ja, mach das, aber ohne mich! Ich
kann auch nicht die Permutationen, die zwischen meinen Texten und dem,
was aus ihnen in Schlingensiefs Händen wird, indem es: nicht wird, definieren
oder auch nur fassen und eingrenzen. Ich kann nicht, wie bei anderen Regisseuren
sagen: Das habe ich so und so gemeint, aber der macht ja was ganz andres
draus! (aus genau diesen hier sehr vage ausgeführten Gründen würde ich
eben genau das nicht sagen, denn es soll ja etwas ganz andres draus werden,
nicht, damit ich fortkommen, sondern damit ich VON MIR endlich fortkomme!)
.
Schlingensief
ist mein Assistent des Verschwindens. Während er etwas von mir nimmt,
das dann weg ist, bin ich selber weg, aber gleichzeitig auch wieder da.
Das macht die Kunst ja auch: Fortschaffen und etwas andres Herholen, das
keine Spur dessen mehr trägt, der ursprünglich seinen kleinen Beitrag
geleistet hat. Demjenigen, der da sein wollte, indem er etwas geschrieben
hat, bringt er zur Geltung, indem er ihn verschwinden läßt. Indem er alle
Permutationen, die mit einem Bühnen-„Stoff“ möglich wären, verwirft und
einen aus sich selbst herauswirft, bis jede Absicht verschwunden ist,
die man noch hätte haben können. Man steht also mit offenem Mund und schaut
und verschwindet gleichzeitig, aber nicht in dem Sinn, in dem vollendete
Meister in ihren eigenen Werken verschwinden (und nur mehr die Werke sind
das Bleibende), sondern indem man da war und dann eben fort ist. Das ist
gut. Das geschieht, denke ich, nicht, indem der Künstler jede Wirklichkeit,
die ich in meinen Sätzen geschaffen zu haben glaube, als eine Möglichkeit
zu ihrer Realisation sieht, und aucn nicht, indem er eine Möglichkeit
von vielen, die vielleicht in einem Text schlummern mögen (und da können
sie schlafen, bis sie schwarz werden), sondern indem er KEINE Möglichkeit
nimmt und sie dann beschreibt und überschreibt. Mit sich selbst. Und das,
was entsteht, und von dem ich kein Teil mehr bin, ist erst der Übergang
des Künstlers zu seinen eigenen Sätzen, die er wieder von ganz woanders
herholt, auch aus sich selbst, aber auch nicht aus sich selbst. Das ist
alles eins: nicht von mir. Nicht mit mir. Aber ich bin trotzdem da, keine
Ahnung, wie und in welcher Form, das heißt, die Form sehe ich ja, aber
mich sehe ich zum Glück nicht mehr; ich kann mich aus dem, was ich sehe,
nur extrahieren, indem ich mein Fortsein bejahe und als das sehe, was
eben da ist, nämlich das, was übriggeblieben ist, also präzise definiert:
nichts. Ich mag, was meine Texte betrifft, mit dem Künstler Schlingensief
nicht einverstanden sein, aber es ist keinesfalls so, daß wir einander
mißverstehen. Wir verstehen einander, indem ich aus mir verschwinden muß,
was ich allerdings schon vorher gewußt habe, verschwinden nicht, um anders
wieder aufzutauchen, sondern um gar nicht mehr aufzutauchen, um eingegangen
zu sein, nicht im Sinn von sterben, sondern im Sinn von Sich Auflösen.
Ich kann nicht mehr kontrollieren, ob ich in etwas, in dem ich nicht mehr
vorkomme, noch vorhanden bin oder schon ganz weg. Aber selbst, wenn ich
ganz verschwunden wäre, wäre das ein wunderbares Gefühl, das ich gar nicht
beschreiben kann. Und vielleicht liegt in diesem Nicht-Beschreibenkönnen
die Lehre des Künstlers, der alles Beschriebene und Beschreibende ablehnen
muß, um sich in Stellung zu bringen, das Gewehr im Anschlag. War das ein
Lärm? Nein, das kann man dann nicht mehr sagen, wenn man den Schuß hört.
Möglicherweise wäre das ein Vorhandensein: ein sehr lauter sehr kurzer
Augenblick, der dann aber definiert werden könnte, doch nicht von mir,
mich gibt es ja nicht mehr. Denn von außen geht schon einmal gar nichts
in dieser Kunst, in der alles nach außen drängt und nach außen hin zu
sehen ist. Die Permutationen, zahllose, könnten auch mich enthalten, wenigstens
die eine oder andre davon, aber sie enthalten mich nicht. Sie sind ich,
weil ein andrer Ich gesagt hat.
Foto:
Hamburger Abendblatt
1.6.2010
Schlingensief © 2010 Elfriede Jelinek

zur
Startseite von www.elfriedejelinek.com |