Sprech-Wut

(ein Vorhaben)

An den Schiller'schen Dramen interessiert mich am meisten diese Sprech-Wut der Personen. Ich will ihnen sofort meine eigene Wut dazulegen, es ist ja, als warteten sie nur darauf, immer noch mehr Wut aufzusaugen. Die Figuren Schillers sind immer sozusagen aufgeladen. Ihre Armut kann noch verarmen, ihr Reichtum verreichern, er verrichtet dann Entsetzliches, weil er zu Mißbrauch einlädt. Ich möchte mich so gern in Schillers "Maria Stuart" hineindrängen, nicht um sie zu etwas andrem aufzublasen wie einen armen Frosch, der dann platzt, sondern um mein eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen. Bis man mit vollem Mund spricht, alles davonsprüht, und man endlich weiß, warum man eben nicht mit vollem Mund sprechen sollte. Es ist unpraktisch. Diese wunderbaren Streitereien zwischen den beiden, von denen jede ihr Ich auf unerträglichste, uneinträchtigste Weise zum Fenster der Bühne in die Zuschauer hinausschmeißt! Ich möchte da gleich mitfliegen. Ich denke mir, daß zwei Frauen wie sagen wir mal Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin diese Aufgabe für mich übernehmen könnten. Ulrike wäre Maria, Gudrun Elisabeth. Und sie könnten den Abgrund im Theater, in dem sonst die Leute sitzen, den Zuschauerraum, mit ihrem Flug auffüllen. Es wird geredet und geredet in meinen Theater-Vorstellungen. Es wird nichts als geredet, und die Redenden warten sofort, kaum haben sie ausgesprochen (nicht: sich ausgesprochen),  darauf, daß noch mehr Rede ankommt, die sie gleich weitergeben können. Was sollte auch sonst kommen? Sie haben ja nichts zu erwarten. Sie bestehen ja nur aus Sprechen, diese Menschenblasen. Ich bediene mich an der Ankunft von Schillers Personal, es ist geschultes Personal, daher kann ich mich immer an ihm bereichern, wenn ich ihm nur sein Trinkgeld gebe. Dieses Personal schafft mir gewiß Mehrwert. Je mehr Schiller getan hat, desto weniger muß ich tun. Ich nehme mir sein Schweigen genauso, ich schmücke mich damit, nur kommt das seltener vor. Daher: als Schmuck besonders geeignet. Sogar das Schweigen entspringt jedoch den Figuren, kaum daß sie es über die Lippen gebracht haben. Dieses manische Sprechen, das die Weite eines Text-Auslaufraums erst erzeugt! Wohin sollen denn die Figuren mit ihrer Wut, mit ihrer Wucht? Schiller habe ich mir ausgesucht als, nein, nicht als Hirten, als Führer schon gar nicht, denn wie könnte er mich irgendwohin führen, in irgendeinen Raum, den er selbst ja durch Sprechen erst geschaffen hat? Und selbst in dieser Leere, in die unaufhörlich hineingesprochen wird, nicht, damit sie gefüllt werde, wieder mit Sprechen natürlich, nein, auch nicht mit widernatürlichem Schweigen, weil mir Schweigen auf der Bühne sofort auf den Geist geht, also gegen meine Natur, sondern damit diese Leere sich als Leere überhaupt erst konstituieren kann. Und in dieser Leere tritt dann, als Hauptdarstellerin, die Ruhe auf, die nie eintritt, sondern eben: auf. Ich meine damit, daß nicht die Ruhe das Ziel dieses unaufhörlichen Sprechens ist, daß dieses Sprechen nicht gestillt werden soll wie eine Blutung aus einem lebenswichtigen, verzweifelt um Sauerstoff pulsierenden Organ, sondern die Ruhe soll erreicht werden, indem sie gerade: nicht erreicht wird, sondern immer nur fast. Man spürt, das Schweigen, endlich, ist das Ziel, aber es wird immer nur fast erreicht. Nicht daß es verfehlt würde, daß man am Ziel vorbeischießen würde, das vielleicht auch, denn wenn soviel gesprochen wird wie in meinen Texten, dann schießt das meiste ohnehin gezwungenermaßen am Ziel vorbei; die Ruhe ist vielleicht ein ersehnter Zustand, der aber mehr als ersehnt wird, eben ganz nüchtern: angestrebt. Aber das Schweigen kann nicht erreicht werden, auch wenn man mit lautem Trara in die Stille einzieht, damit sich die Stille von dem dauernden Gerede schön abhebt. Es herrscht also nur selten Schweigen,  was ich auch einfacher hätte sagen können; die Figuren sprechen aufeinander ein, als gälte es ihr Leben. Und dieses Sprechen bedeutet ja auch, daß es ihr Leben gilt. Sie reden aber auch um ihr Schweigen, diese Figuren, sie schweigen nur selten. Daher sind sie lebende Tote. Sie haben umsonst um ihr Leben geredet. Das Reden ist umsonst wie das Schweigen. Es ist egal. Sie fechten es miteinander aus, sie kriechen förmlich ineinander hinein. Sogar über das Schweigen reden sie noch, nein, sie sprechen eher das Schweigen, das, weil es eben auch ein Sprechen ist, irgendwann hell wird, ohne daß einem dabei etwas klar würde. Ein Spiegel wird vor einen Mund gehalten: da ist noch ein Hauch. Der Patient lebt also. Reden wir weiter, der Patient wird das hoffentlich auch bald wieder tun. Alles redet. Alles schweigt. Wie gesagt, es ist egal. Es wird nicht erst etwas erhellt (denn auch das Schweigen kann ja erhellend sein), es wird hell, weil etwas ausgesprochen wird, und zwar diesmal als Schweigen. Treten Sie ein, diesmal hören Sie etwas im Schweigen. Sie hören die Stille, also redet Etwas. Ich würde auch wieder  nicht behaupten, durch die Stille entstünde erst das Sprechen, bzw. erst wenn es still wird, merkt man, daß die ganze Zeit gesprochen wurde. Das Schweigen wird vom Sprechen gebildet und hergestellt. Es wird das Bleibende und das Vorläufige gleichzeitig, und das Vorläufige erzeugt das Bleiben. Beides ist Sprechen. Das Schweigen ist auch Sprechen. Es gibt kein dunkles Schweigen zwischen den Figuren, sondern, weil es eben ein gesprochenes ist, ein helles Schweigen. Schiller zieht da immer alle Register, damit die Personen der Stücke in ihr aufbereitetes, beredtes  Schweigen nicht hineinfallen (weil sie "davon" nicht sprechen können und daher "darüber" schweigen müßten), sondern das Schweigen mit dem Sprechen aufgefüllt wird. Es wird den Personen der Dramen nicht überlassen, ob sie über etwas sprechen oder schweigen wollen, ob sie etwas ahnen, andeuten oder skizzieren wollen. Sie sprechen über alles, auch wenn sie nicht sprechen, fortwährend. Die Wesen, die nach Wahrheiten tasten, greifen ineinander, das Getriebe treibt es mit sich selbst, indem es sich in den Widerpart, den Anderen, hineinschraubt. Diese Personen sind Getriebene, weil sie sprechen müssen. Sie haben nicht die Wahl. Wie das Tier, das auch nicht die Wahl hat und schweigen muß. Die Figuren haben die Wahl. Daher müssen sie sprechen und auch noch das Schweigen sprechen. Es geht nicht anders. Die Natur fürchtet die Leere und trachtet sofort danach, sie wieder aufzuzfüllen. Sie haben keine andre Möglichkeit, diese Figuren. Und die, die sie vielleicht haben könnten, nehme ich ihnen jetzt und sage: Sprechen Sie nach dem Signalton, aber sprechen Sie auch sonst immer, damit Sie den Signalton nicht hören müssen oder damit Sie ihn besonders deutlich hören können, weil er sich abhebt von allem. Es ist ja sonst keiner da, der abheben könnte.

Friedrich Schiller (Quelle: Württembergische Landesbibliothek)

 

Abgedruckt im Heft 1/2005 von Literaturen .

19.1.2005

 


Sprech-Wut © 2005 Elfriede Jelinek

 

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