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(aus: Salman Rushdie: "Die satanischen Verse")

.... Die Meldung des Ciné-Blitz besagte, dass eine neue, in London ansässige Produktionsfirma, mit dem Senkrechtstarter und Magnaten Billy Battuta an der Spitze, dessen Interesse für das Kino allgemein bekannt war, sich mit dem angesehen, unabhängigen indischen Produzenten Mr. S. S. Sisodia zusammengetan hatte in der Absicht, einen Film zu produzieren, der dem legendären Gibril, von dem exklusiv gemeldet wurde, er sei zum zweiten Mal dem Rachen des Todes entronnen, die Chance eines Comebacks bieten würde.

»Es stimmt, dass ich unter dem Namen Najmuddin für diesen Flug gebucht war«, wurde der Star zitiert. »Ich weiß, dass zu Hause große Trauer aufkam, als die nachforschenden Schnüffler herausfanden, dass dies mein Inkognito war - mein richtiger Name, genauer gesagt -, und dafür muss ich mich bei meinen Fans aufrichtig entschuldigen. Sehen Sie, es war so, dass ich, Gott sei’s gedankt, diesen Flug irgendwie verpasst habe, und da ich ohnehin vorhatte, unterzutauchen - entschuldigen Sie, das sollte kein Witz sein -, habe ich meinen angeblichen Tod nicht dementieren lassen und eine spätere Maschine genommen. Welches Glück: ein Engel muss mich wirklich beschützt haben.« Nach reiflicher Überlegung habe er sich aber gesagt, dass es nicht richtig sei, seinem Publikum auf so unfaire und schmerzhafte Weise die Wahrheit und auch seine Leinwandauftritte vorzuenthalten. »Ich habe daher dieses Angebot mit großer Begeisterung freudig angenommen.« Es sollte - was sonst - ein Theological werden, in seiner Art aber etwas Neues. Er würde in einer imaginären, sagenumwobenen Stadt aus Sand spielen und die Geschichte der Begegnung zwischen einem Propheten und einem Erzengel erzählen, auch: die Versuchung des Propheten und seine Entscheidung für den Weg der Reinheit statt für einen billigen Kompromiss. »Es ist ein Film darüber«, so Produzent Sisodia zum Ciné-Blitz, »wie das Neue in die Welt kommt.« Aber würde es nicht als Blasphemie aufgefasst werden, als Verbrechen gegen… »Aber keineswegs«, entgegnete Billy Battuta. »Phantasie ist Phantasie, und Fakt ist Fakt. Wir haben nicht vor, ein solches Machwerk wie den Film Die Botschaft zu drehen, in dem man, jedes Mal, wenn der

Prophet Mohammed (Friede seinem Namen!) sprach, nur den Kopf seines Kamels sah, das sein Maul bewegte. Das - entschuldigen Sie diese Bemerkung - hatte keine Klasse. Wir machen einen ästhetisch anspruchsvollen Qualitätsfilm. Eine moralische Erzählung: vergleichbar einer - wie sagt man - Fabel.« »Einem Traum«, sagte Mr. Sisodia.

Als Anahita und Mishal Sufyan später am Tag die Nachricht zu Chamcha in die Mansarde hochbrachten, wurde er von dem gemeinsten Zornanfall gepackt, den die beiden je erlebt hatten, von einer so unbändigen Wut, unter deren furchteinflößendem Einfluss seine Stimme, immer schriller wurde, zu zerreißen drohte, als wären Messer in seinem Hals gewachsen, die seine Schreie zerfetzten; sein pestbringender Atem hätte die beiden Mädchen fast aus dem Zimmer gefegt, und mit hoch erhobenen Armen und tanzenden Ziegenbeinen sah er, endlich, wie der leibhaftige Teufel aus, zu dessen Ebenbild er geworden war.

»Lügner«, brüllte er den abwesenden Gibril an, »Verräter, Deserteur, Abschaum! Das Flugzeug verpasst, ja? Wessen Kopf war es denn, den ich in meinem Schoß, mit meinen eigenen Händen…? Wer wurde gestreichelt, wer sprach von Alpträumen und fiel schließlich singend vom Himmel?«

»Na, na«, flehte Mishal erschrocken. »Beruhige dich. Wenn du so weitermachst, kreuzt Mama jeden Augenblick hier auf.«

Saladin fügte sich, wieder ein elendes Häuflein Ziege, drohte niemandem mehr. »Es ist nicht wahr«, wimmerte er. »Was passiert ist, ist uns beiden passiert.«

»Aber klar«, sprach ihm Anahita Mut zu. »Was in diesen Filmheftchen steht, glaubt eh niemand. Die lügen doch das Blaue vom Himmel…

Die Schwestern zogen sich mit angehaltenem Atem aus dem Zimmer zurück, überließen Chamcha seinem Elend, und ihnen entging dabei etwas äußerst Bemerkenswertes. Was man ihnen nicht anlasten kann, Chamchas grotesker Anfall hätte noch das schärfste Auge abgelenkt. Fairerweise sollte festgestellt werden, dass die Veränderung auch Saladin selbst entging.

Was war geschehen? Dies: während seines kurzen, aber heftigen Wutausbruchs waren die Hörner auf Chamchas Kopf (die - man kann es ruhig zugeben -, während er in der Dachkammer des Shaandaar Bed and Breakfast schmachtete, um einige Zentimeter gewachsen waren) eindeutig, unverkennbar etwa zwei Zentimeter kleiner geworden.

Im Interesse größter Genauigkeit sollte zudem darauf hingewiesen werden, dass weiter unten an seinem verwandelten Körper, unter der

geliehenen Hose (Feingefühl verbietet uns, Einzelheiten zu veröffentlichen), etwas anderes, wollen wir es bei dieser Formulierung bewenden lassen, ebenfalls ein wenig kleiner geworden war. ....
 

.... Manchmal, wenn er schläft, wird sich Gibril, ohne den Traum zu träumen, bewusst, dass er schläft, dass er sein eigenes Bewusstsein von seinem Traum träumt, und dann überfällt ihn Panik, O Gott, ruft er, O allgütiger Allahgott, jetzt hab’ ich ausgespielt, ich Ärmster. Hab’ nicht alle Tassen im Schrank, bin vollkommen verrückt, irrer Gesang, Affenklang. Genau das gleiche Gefühl, das er der Geschäftsmann, hatte, als er den Erzengel zum ersten Mal sah: er dachte, er sei übergeschnappt, wollte sich von einem Felsen stürzen, von einem hohen Felsen, von einem Felsen, auf dem ein verkrüppelter Lotusbaum wuchs, einem Felsen, der so hoch war wie das Dach der Welt.

Er kommt: auf dem Weg zum Gipfel des Cone Mountain, zur Höhle.

Alles Gute zum Geburtstag: heute wird er vierundvierzig.

Aber obwohl die Stadt hinter und unter ihm von Festivitäten wimmelt, steigt er hinauf, allein. Kein neuer Geburtstagsanzug, sauber gebügelt und zusammengelegt am Fußende seines Bettes. Ein Mann mit asketischen Neigungen. (Was für ein merkwürdiger Geschäftsmann ist das?)

Frage: Was ist das Gegenteil von Glaube?

Nicht Unglaube. Zu endgültig, gewiss, hermetisch. Selbst eine Art Glaube.

Zweifel.

Die menschliche Befindlichkeit, aber wie steht es mit den Engeln? Haben sie je Zweifel gehegt auf halbem Weg zwischen Allahgott und Homosap? Durchaus: Eines Tages forderten sie den Willen Gottes heraus, versteckten sich murrend unter seinem Thron, wagten es, verbotene Fragen zu stellen: Antifragen. Ist es richtig, dass. Könnte man nicht einwenden, dass. Freiheit, das alte Antistreben. Selbstverständlich beschwichtigte er sie, unter Einsatz von Managementtalent à la Gott. Schmeichelte ihnen: ihr werdet das Werkzeug meines Willens auf Erden sein, der Erlösungverdammung der Menschen, et cetera pp. Und Simsalabim, Einspruch Ende, die Heiligenscheine wieder aufgesetzt, zurück an die Arbeit. Engel sind leicht zu besänftigen; man macht sie zu Werkzeugen, und sie tanzen einem nach der Pfeife. Der Mensch ist da eine härtere Nuss, imstande, alles zu bezweifeln, sogar das, was er mit eigenen Augen sieht. Das, was hinter den eigenen Augen vor sich geht. Das, was hinter geschlossenen Glotzern ausgebrütet wird, wenn sie schwerlidrig zufallen… Engel haben nicht gerade einen eisernen Willen. Einen Willen haben, heißt widersprechen; sich nicht unterwerfen; anderer Meinung sein.

Ich weiß; hier spricht der Teufel. Schaitan fällt Gibril ins Wort. Mir?

Der Geschäftsmann: sieht aus, wie er soll, hohe Stirn, Adlernase, breite Schultern, schmale Hüften. Nicht zu groß, nicht zu klein, nachdenklich, in zwei Bahnen einfachen Tuchs gekleidet, jede vier Ellen lang, eine um den Körper drapiert, die andere über die Schulter. Große Augen; lange Wimpern wie ein Mädchen. Seine Schritte mögen zu lang scheinen für seine Beine, aber er geht leichtfüßig. Waisenkinder lernen, ein bewegliches Ziel zu sein, entwickeln einen raschen Gang, schnelle Reaktionen, Pass-auf-was-du- sagst-Vorsicht. Hinauf durch Dornbüsche und Balsambäume steigt er, krabbelt über Felsblöcke, der Mann ist fit, kein dickwanstiger Wucherer, o nein. Und um es nochmals zu betonen: es muss ein seltsamer Geschäftswalla sein, der in die Wildnis abhaut, hinauf auf den Mount Cone, manchmal für einen ganzen Monat, nur um allein zu sein.

Sein Name: ein Traum-Name, verändert durch die Vision.

Korrekt ausgesprochen, bedeutet er Der-für-den-man-Dank-sagen-soll, aber darauf reagiert er hier nicht; ebenso wenig - obwohl er sich durchaus bewusst ist, wie man ihn nennt - auf seinen Spitznamen, den man ihm unten in Jahilia anhängt: Der-den-alten-Coney-rauf-und-runter steigt. Hier ist er weder Mahomed noch MoeHammered; hat stattdessen das Teufels—Etikett angenommen, das ihm die Farangis um den Hals hängten. Um Kränkungen in Stärke zu verwandeln, haben Whigs, Torys, Schwarze sich dazu entschlossen, stolz die Namen zu tragen, die ihnen voller Verachtung gegeben wurden; auf ebendiese Weise wird unser bergsteigender, prophetenberufener Einzelgänger zum mittelalterlichen Kinderschreck, zum Synonym für den Teufel werden: Mahound.

Das ist er. Mahound, der Geschäftsmann, wie er auf seinen heißen Berg im Hidschas steigt. Die Luftspiegelung einer Stadt schimmert unter ihm in der Sonne.

Die Stadt Jahilia ist gänzlich aus Sand erbaut, ihre Strukturen von der Wüste geformt, aus der sie sich erhebt. Sie ist ein erstaunlicher Anblick: von Mauern umgeben, mit vier Toren versehen ganz und gar ein Wunder, gewirkt von seinen Bewohnern, die gelernt haben, den feinen weißen Dünensand dieser verlassenen Gegend - der Stoff aus dem die Unbeständigkeit ist, die Quintessenz der Nichtseßhaftigkeit, der Veränderung, des Verrats, des Mangels an Form -

umzuwandeln, und ihn, mittels Alchimie, zum Grundstoff ihrer neu ersonnenen Sesshaftigkeit gemacht haben.

Diese Menschen haben erst vor drei oder vier Generationen ihre nomadische Vergangenheit aufgegeben, während derer sie entwurzelt wie die Dünen waren, oder vielmehr verwurzelt in dem Wissen, dass das Umherwandern selbst das Zuhause ist.

Wogegen der Auswanderer auf die Reise verzichten kann -

es ist nicht mehr als ein notwendiges Übel; wichtig ist anzukommen.

Vor nicht allzu langer Zeit also und gemäß der Art der gewitzten Geschäftsleute, die sie waren, ließen sich die Bewohner von Jahilia am Schnittpunkt der großen Karawanenrouten nieder und unterwarfen die Dünen ihrem Willen. Jetzt dient der Sand den mächtigen Kaufleuten der Stadt. Zu Kopfsteinen gehauen, pflastert er Jahilias gewundene Straßen; nachts lodern goldene Flammen aus Kohlenpfannen aus poliertem Sand. Die Fenster, die länglichen, schlitzförmigen Fenster in den unendlich hohen Sandwänden der Kaufmannspaläste sind verglast; in den Gassen Jahilias rollen Eselskarren auf glatten Siliziumrädern dahin. Ich, in meiner Bosheit, stelle mir manchmal vor, wie sich eine riesige Woge nähert, eine hohe Wand schäumenden Wassers, die durch die Wüste braust, eine flüssige Katastrophe voll von berstenden Booten und ertrinkenden Armen, eine Flutwelle, die diese eitlen Sandburgen wieder zu dem Nichts macht, zu den Sandkörnern aus denen sie errichtet sind. Aber hier gibt es keine Wellen.

Wasser ist der Feind Jahilias. Es wird in irdenen Töpfen getragen und kein Tropfen darf verschüttet werden (das Strafgesetzbuch verfährt streng mit Zuwiderhandelnden), denn wo es hintropft, wird die Stadt in besorgniserregendem Maße ausgelöscht. Die Straßen werden löchrig, Häuser neigen sich und schwanken. Die Wasserträger von Jahilia sind eine verabscheute Notwendigkeit, Parias, auf die man nicht verzichten kann und denen deswegen nichts vergeben wird. Es regnet nie in Jahilia; keine Brunnen stehen in den Siliziumgärten. Ein paar Palmen wachsen in den von Mauern umgebenen Innenhöfen, auf der Suche nach Feuchtigkeit schlagen sie ihre Wurzeln tief in die Erde. Das Wasser der Stadt kommt aus unterirdischen Wasserläufen und Quellen; eine davon ist die sagenumwobene Quelle von Zamzam im Herzen der konzentrisch angelegten Sandstadt, neben dem Haus des Schwarzen Steins. Hier, in Zamzam, gibt es einen Beheschti, einen verachteten Wasserträger, der die

lebensnotwendige, gefährliche Flüssigkeit heraufholt. Er hat einen Namen: Khalid.

Eine Stadt der Geschäftsleute, Jahilia. Der Name des Stammes lautet Schark.

In dieser Stadt begründet der zum Propheten gewordene Geschäftsmann Mahound eine der großen Religionen der Welt; und an diesem Tag, seinem Geburtstag, beginnt die Krise seines Lebens. Eine Stimme flüstert ihm ins Ohr: Was für eine Art Idee bist du? Mann oder Maus? Wir kennen diese Stimme, wir haben sie schon einmal gehört.

Während Mahound auf den Coney steigt, feiert Jahilia ein anderes Jubiläum. Vor langer Zeit kam der Patriarch Ibrahim mit Hagar und Ismail, ihrem gemeinsamen Sohn, in dieses Tal.

Hier, in dieser wasserlosen Wildnis, verließ er sie. Sie fragte ihn, kann das Gottes Wille sein? Er antwortete, ja, das ist er.

Und machte sich davon, der Dreckskerl. Von allem Anfang an benützten die Menschen Gott, um das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen. Seine Wege sind unerforschlich: sagen die Männer. Kein Wunder also, dass sich die Frauen mir zugewandt haben. Aber ich will nicht abschweifen; Hagar war keine Hexe. ...

Salman Rushdie "Die satanischen Verse"




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