Singen. Tanzen.Schreien.
Ich habe lange überlegt, wie ich mich mit den Pussy Riot solidarisch erklären könnte. Ich habe sogar einen kleinen Text geschrieben, den ich in meine Homepage stellen wollte, ein Foto von mir selbst dazu, mit verklebtem Mund oder einer Papiertüte über dem Kopf. Ich habe das nicht getan, einerseits, weil mir Aktionismus überhaupt nicht (mehr) liegt, andrerseits weil mir bewußt ist, daß ich alles dürfte, um diese Frauen zu unterstützen, die das nicht dürfen sollen, was sie, als ihr ureigenstes Recht, getan haben: öffentlich aufzutreten, in einer Kirche (o Gott! Und auch du, gute Heilige Jungfrau! Wir kennen uns schon so lang, schon aus der Klosterschule, sag ehrlich: Fühlst du dich jetzt geschändet? Wie kann dich das erreichen, lieber Gott, da du doch immer warst, immer sein wirst und immer im Kommen sein wirst, während Popstars entweder im Kommen sind oder auf dem absteigenden Ast, wenn niemand mehr nach ihnen fragt. Aber nach Gott und seiner Mutter kann man fragen oder nicht, er bleibt immer gleich, Er, er kann nicht beleidigt werden, er ist das Sein selbst, dessen die Menschen bedürfen, die das Sein nicht sind, sondern ihm gehören. Was nicht bedeutet, daß sie auch Ihm, Gott, gehören würden. Sie bestimmen selbst, wem sie gehören wollen. Sie sind da hergestellt, nicht: hergestellt worden, sagen, was sie zu sagen haben, denn am Anfang war das Wort, und das Wort gehört jedem, der es sich nimmt, und dem ist es dann auch gegeben. Ein Gott schaufelt sich im Kommen den Platz frei, der er selber ist, in seiner eigenen Stille, aber seine Menschen dürfen, müssen auch laut sein dürfen, wenn und wann immer sie wollen). Die Menschen stehen mit sich selbst dafür ein, (ohne daß sie dabei geschlagen und verletzt werden dürften), daß sie dem Nichts, aus dem sie kommen (oder der Schöpfung, je nachdem) das Wort entreißen und sagen, was sie zu sagen haben. Diese drei jungen
Frauen, die Pussy Riot, haben in einer Kirche gesungen, das gehört sich dort
so, und sie haben wild getanzt, eine Art Veitstanz, eben wie es sich gehört,
wenn in einem Staat, der auf dem Weg in die Totalität ist, Menschen sich etwas
herausnehmen müssen, um gehört zu werden, was schwierig ist, denn alle
Schubladen sind schon zugesperrt, die Tür ist verrammelt, da muß man fest
dagegentreten, damit man sich seinen Raum, dieses Offene, in dem man sprechen,
singen, tanzen darf, nein: muß, freischaufeln kann, damit man vernommen (und
nicht: einvernommen) werden kann; und sie haben sich gegen ihren Präsidenten
Putin geäußert, in einer Kirche, man stelle sich vor!, sie haben die
Gottesmutter gegen ihn zu mobilisieren versucht, wen haben sie da gelästert?
Gott oder Putin? Oder sind die beiden gleichzusetzen? Wer Putin beleidigt,
beleidigt Gott? Seine Mutter? Die Kirche? Man kann ja noch nicht einmal sagen,
daß das ein legitimer Protest war und das Recht auf Protest ein Menschenrecht,
denn der Protest, jeder Protest, der sich gegen die Gefährdung von Grundrechten
richtet, ist Pflicht, nicht Recht. Die jungen Frauen mußten tanzen, singen,
schreien, es blieb ihnen gar keine andre Wahl. Es blieb ihnen nichts übrig,
damit von ihnen, von allen, etwas übrigbleiben kann. Der gefährliche Punkt ist
dann erreicht, wenn innerhalb des Systems keine Propaganda mehr nötig ist, weil
alles gleichgeschaltet wurde. Hannah Arendt unterscheidet zwischen der
Staatsdoktrin, die innerhalb der Bewegung der Propaganda gar nicht mehr bedarf,
und der reinen Propaganda für die Außenwelt. Alles Sprechen, Singen, Schreien,
Tanzen außerhalb der Propaganda soll förmlich zerquetscht werden vom Druck
einer gleichgeschalteten Außenwelt, die jederzeit in Terror umkippen kann, wo
letztlich auch Propaganda nicht mehr nötig ist, weil die Bedrohung für alle
gegeben ist, und deswegen muß da unser Druck von außen dagegenhalten, von
Regierungskritikern im eigenen Land wie auch der von kritischen Beobachtern aus
anderen Ländern, die da eben nicht zuschauen können, die das nicht dulden
können. So, und da stehen wir also und schreien ebenfalls (das Tanzen und das
Singen gehen nicht so gut, zumindest bei mir nicht), obwohl wir nicht Bürger
dieses Staats sind, der sich mit der Verfolgung von drei jungen Musikerinnen─ zwei von ihnen Mütter kleiner Kinder, was
sagst du dazu, heilige Jungfrau?, dir hat man deinen Sohn erst genommen, als er
schon erwachsen war! ─ , einen
Schritt auf den Weg des Schreckens gemacht hat, wenn er in diesen drei
singenden, schreienden, tanzenden jungen Frauen schon eine Art Kriegserklärung
sieht. Und da haben wir eine Assistentin, eine Art böse Krankenschwester, die
Kirche, die sich, ein riesiger Popanz (und leider wird auch im Westen die
Gotteslästerung als Delikt schon wieder ein Thema, ich kann es kaum glauben!
Ich fasse es nicht!) vor die, den Herrschenden schiebt, mit goldstrotzenden
Fahnen wedelt und von "Rowdytum aus religiösem Haß" spricht, das
nenne ich mal einen unheiligen Bund! Von diesem Bund bis zu den blutigen Verbänden an
Menschen, die andrer Meinung sind als ihre Herrschenden und daher
niedergeknüppelt werden, ist es nicht mehr weit. In einem Land der
Friedhofsruhe, der KZs, der Gefängnisse, der Straflager ist auch Propaganda
nicht mehr nötig, dann ist die höchste Perfektion des Terrors erreicht. In den
KZs der Nazis war Propaganda sogar verboten, vor lebenden Toten wäre sie Zeit-
und Energieverschwendung gewesen, Verschwendung von Energie, die doch dem
Schinden und Töten von Menschen vorbehalten sein sollte. Propaganda ist das
wichtigste Instrument im Verkehr mit der Außenwelt, Terror jedoch ist das
tiefste, innerste Wesen totaler Herrschaft. Herrscht der Terror einmal, so
herrscht er unabhängig von allem, auch unabhängig von Regimegegnern. Er ist
dann alles, was es gibt. Das muß verhindert werden.
Als ich das alles so
hingeschrieben habe, hatte ich mir nicht vorstellen können, daß es tatsächlich
zu einer Verurteilung dieser Frauen kommen könnte. Es war undenkbar für mich.
Da der gütige Zar Putin öffentlich erklärt hatte, er wäre auch mit einer milden
Strafe zufrieden (aber, nicht wahr, Strafe muß sein?! Es sind ja "nur"
zwei Jahre, für jede von ihnen, nicht drei!), denn er schien der Ansicht zu
sein, ihm komme es zu, auf ein Urteil Einfluß zu nehmen, das ohne ihn gar nicht
erst zustandegekommen wäre, habe ich diesen Text damals, zu Beginn des
Prozesses, nicht veröffentlicht, um den drei Frauen nicht zu schaden. Jetzt ist
ihnen geschadet worden. Jetzt kann wenigstens ich ihnen nicht mehr schaden (und
leider auch nicht mehr helfen). Ich kann das nur schreiben. Ich darf das. Die Inhaftierung
dieser drei jungen Frauen (und ihre Haftbedingungen, die offenbar an Folter
grenzen und von ihnen auch so genannt werden) bedeutet eine Art Zeitknoten.
Noch kann das Land zurück auf den Boden des Rechts, das immer erkämpft werden
muß, ja, auch durch Singen, Zucken, Tanzen, Schreien, egal, durch alles, was
gesehen und gehört werden kann. Aber wenn diese drei Pussy Riot wirklich
eingesperrt werden sollten, dann sperrt sich Rußland selber ein. Dann ist der
Tanzboden, egal, wo er sich befindet ─ er darf sich überall befinden, er soll sogar! ─ geschlossen. Und dann fängt ein andrer Tanz an, der mir jetzt schon
entsetzliche Angst macht. Keiner kann dann sagen, er hätte es nicht gewußt.
Denn was einmal war, das muß für immer gewußt werden. Und das Einmal, das
hatten wir schon. Und mehr als einmal.
Erschienen in: The New Times
und The European Magazine
Fotos: ITAR-TASS, The Guardian
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