Der Tod und das Mädchen 5

Die Wand

 

 

Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Sylvia Plath

 

1. Akt

(Sylvia und Inge schlachten zusammen ein männliches Tier (einen Widder) . Sie reissen ihm die Hoden heraus und schmieren sich mit Blut ein. Das muß sehr archaisch und grausam aussehen, ganz im Gegensatz zum Gesprochenen! Im Laufe des folgenden werden ihre Kleider dann unbrauchbar und die Frauen müssen sich umziehen. Dann zieht Ingeborg ein Dirndl und Bergschuhe an, Sylvia einen einteiligen Badeanzug aus den 50er Jahren, aber auch Bergschuhe dazu.)

(Was die Aufteilung der Texte betrifft, so ist sie vorgegeben, die Personen können sich aber auch verdoppeln oder verdreifachen, die Absätze deuten nur Absätze im Sprechen an, sie dienen nicht der Unterscheidung in die beiden Personen Sylvia und Ingeborg, beide stehen für viele andere. Diesmal allerdings, Herr Chef, Frau Chefin, müssen Sie, zumindest in den Grundzügen, die szenischen Anweisungen für die Bühnenaktionen ausführen, die ich vorgegeben habe, denn diesmal sind sie Teil des Textes. Tut mir echt leid.)

Reg dich ab. Das ist nicht Uranos, dem du da den Samen mitsamt seinen Leitern wegreißt, auf denen er steht, um uns endlich fruchtbar zu machen. Und du bist auch nicht Kronos, der das Zeugs einfach ins Meer schmeißt oder seiner Mutter in die Fut oder was weiß ich wohin, und du bist nicht der Schaum, in dem das unsterbliche Fleisch herumschwimmen darf, und was du schon gar nicht bist, ist diese Aphrodite, die in ihrem neuen Bikini da grade raussteigt, direkt ins Blitzlichtgewitter hinein, sowas könntest du dir gar nicht leisten. Bei deiner Figur. Hoffentlich beruhigt sich die Natur bald wieder. Keine Ahnung, wieso sie sich wieder so aufgeregt hat. Da kann schließlich irgendwer daherkommen übers Meer und den Samen ohne unsre Hilfe, einfach so, zerstreuen soviel er will. Wir warens nicht. Es wird nie was draus, wenn wir es in die Hand nehmen. Nicht einmal wenn wir eine Sichel dafür nehmen, wird was draus. Futter für die Kaninchen vielleicht, aber sonst nichts. Und da sind auch keine Kinder zu fressen und überhaupt. Wären wir wenigstens geschlechtsliebend, aber warum sollten wir das sein? Nur weil wir aus einem Geschlecht herausgetreten sind? Da, wo wir hintreten, sind ja doch nur Steine. Und der hier, den du bearbeitest, ist nur unser Burli. Seine Geissen warten auf ihn. Sie wissen noch nicht, was passiert ist. Und bei Demeter warten sie auch auf ihn. Wir sollten eigentlich heute liefern. Diesmal warten sie umsonst. Die Regale beim Spar sind und bleiben jetzt leer. Für immer.

Ja, natürlich. Ja, natürlich. So wie er jetzt ausschaut werden sie ihn nicht mehr nehmen.

So wie wir ihn hergerichtet haben.

So wie wir ihn hingerichtet haben. Sagt Rita immer, nein, Ria. Aber die Grundfrage bleibt doch wirklich immer wieder nur die Frage nach dem Ding. Haben wir es nun oder nicht?

Jetzt haben wir es, aber es ist das falsche. Welches auch immer: Es ist nie die Welt, die aufplatzt und vor unsren gaffenden Augen ihre Eingeweide verspritzt wie eine geborstene Wassermelone.

Also aus den Samen einer Wassermelone ist noch nie was geworden. Schau dir hingegen einmal an, was der Samen vom Uranos alles hervorgebracht hat! Bedeutende Persönlichkeiten. Sowas hast du noch nie gesehn! Hundert ungeschlachte Arme an den Achseln und, pro Person, fünfzig Häupter auf den Schultern! Alle Stuntmen geworden. Verdienen nicht schlecht. Man hat ihn einfach nur ausstreuen müssen, den Samen, und aus. Die Reporter haben nur noch zu warten gebraucht, bis die Strahlenden, die Götter, zwei und zwei, in ihren widerwärtig brennenden Kostümen ins Weihefestspielhaus geschritten sind. Beweglich ihre Wangen, gespitzt ihre Münder, ich meine gespritzt ihre Lippen.

Heldenhafte Persönlichkeiten? Wir nicht. Vorteilshafte Kriegsführung? Können wir nicht. Wir sind trotzdem in jeder Hinsicht im Aufstieg begriffen, aber wir begreifen unsren Aufstieg noch gar nicht richtig. Wir wollen das Dings nur, um uns drüber hinauszuschwingen, das haben wir immer geglaubt. Wir wollen es aber, weil wir zum Sterben zu schön sind. Also los. Verabschiedung von der vordinglichen Zeit. Fingerzeig mit dem Ding dem Ding dem Dingsbums. Ein Flic-Flac über den Zaun, rauf auf die Wand, im Fallen dann, wie üblich, alles was der Fall ist, für niemanden sonst ein Fall, außer für die Psychiatrie, so einfach geht das. Das Ding, das wir so lang suchten, ist doch längst überflüssig geworden wie die Erkenntnis an sich schon längst überflüssig geworden ist, bevor sie stattgefunden hat. Im Schreiben haben wir Urteile gefällt, ein Wahnsinn, ein Gericht, eine Befestigtheit von uns selbst, aber bumm, da sind wir schon von unsrer Wand gefallen. Ehe wir oben waren. Ehe wir noch eine Ehe oder die Tür schließen konnten. Auch sonst haben wir nichts abgeschlossen. Weil wir nichts angefangen haben. Die Haustür haben wir glatt vergessen. Grad hat uns noch wer hingehängt und jetzt sind wir schon wieder unten. Die Wand ist schon ganz zersplittert unter unsren Versuchen, unser Bild dort hinzuhängen.

Diese Wand ist meine! Mach dich wo anders wichtig! Jetzt spreche ich, und ich sage in kleinen blutigen Fetzen: Egal, wie ich mein Schreiben auch auf meinen Erkenntnissen aufzubauen versuche und auf welche Gegenstände, siehe Wand, ich mich beziehe, alles, worauf ich mich beziehen kann, ist doch das, was ich sehe. Leider habe ich noch nicht viel zu sehen gekriegt. Ich möchte fort und endlich etwas andres sehen. Ich möchte reisen, fremde Länder und Menschen kennenlernen.

Hör mal, da hat sich eine andre Frau als wir doch glatt eine Wand einfallen lassen, die vollkommen unsichtbar sein soll! Da hättest du doch endlich deinen Grund, nicht verreisen zu müssen. Du dürftest dableiben, weil du gar nicht weg könntest. Müßtest nicht hinaus ins Leben!

Blödsinn. Die Anschauung kann doch nur stattfinden, sobald uns ein Gegenstand dafür gegeben ist. Und zwar nicht immer derselbe! Beziehungsweise wenn ich den Gegenstand, die Wand, so beschreiben kann, als wäre er vorhanden und als Gerät bereitgestellt, daß man sich ein bissel Denken abzwacken kann, als Zweck, nein, als Reißzwecke, nein, zum Einwecken. Da können wir uns selber einwecken gehen.

Du meinst wahrscheinlich aufwecken? Nein. Aufwecken zwecklos. Wozu auch. Wofür.

Mit einer Reißzwecke das Eingeweckte aufwecken würde irgendeinem neuen jungen Dichter dazu jetzt einfallen, aber er hat uns Älteren nichts zu sagen. Ja, also da vertraut man sich einer Wand an und dann ist sie der Riß an sich und verschluckt sich selber und wenn man sich ranhängt, ist da keiner, der einen reinhängt, ich meine hinhängt oder hängen läßt oder aufhängt oder was weiß ich. Wahrscheinlich nur eine Unachtsamkeit der Wand. Nichts weiter. Wir kommen ja auch nicht weiter.

Eine Wand mit einem Riß kann ich mir noch eher vorstellen, meinetwegen einen, in dem du verschwindest, aber eine unsichtbare Wand, daß man im Leben nicht weiterkommt als wenn man wegfährt aus dem Leben, das kann ich mir nicht so gut vorstellen. Warst du es nicht, die gesagt hat, daß du einmal in einem dieser Risse verschwunden seist? Da hast du gelogen. Die Wand ist noch da, und du bist auch noch da. Paß auf, also jetzt versuchst du, gegen die Wand zu rennen, bis dein Schädel aufgeschmissen ist. Du stirbst in der Wüste, du verreckst im Sand, der aus der unsichtbaren Wand in Jahrtausenden abgebröckelt und zu griffigem Mehl errodiert ist. Backe backe Kuchen. Aber die Wand ist immer noch kein anschaulich Gegebenes, sie ist und bleibt unsichtbar. Du kapitulierst und bist selber weg. Du hast sogar mit deinem Verschwinden noch eine neue Grundstellung bezogen, und zwar eine Grundstellung zu allem, was ist, darunter tust dus ja nicht. Weniger genügt dir nicht, auch wenn weniger mehr wäre, genügte es dir nicht. Die Grundstellung ist die einzige Position, die du einnehmen kannst. Sie besteht in einer nach innen verlegten Innerlichkeit. Sieht man genauso wenig wie die Wand, wenn du mich fragst. Wichtig wäre noch gewesen zu erwähnen, es handle sich um eine menschliche Erkenntnis. Aber das ginge nicht, wenn der Gegenstand der Erkenntnis ein andrer Mensch wäre. So aber ist er eine Wand. Daneben dein eingeschlagener Kopf, wer hat denn den dahin gelegt, du bist doch keine gefallene Heldin! Es gibt soviel zu erkennen, und du willst nur immer diese Wand erkennen, und du willst sie nur erkennen, um dich selber dort hinzuschaffen. Man klimmt irgendwo empor, und dann dein grinsender abgeschlagener Kopf, eventuell mit Knoblauch im Mund, das ist es, was einen erwartet. Oder ein leerer Einkaufszettel. Mit Posten drauf, die unverrückbar da stehen, bis das Papier unter Hundescheisse, Hühnerknochen und Apfelbutzen zusammengebrochen ist. Danach mußt du selbst Wache halten. Ob sie nun unsichtbar ist oder nicht, die Wand, in jedem Fall bist du immer zu dicht davor und siehst gar nichts. Und glaubst, nur weil du sie nicht siehst, wäre sie unsichtbar. Und verdrückst dich still. Geblendet von deinem Leid. Aber wenn man verschwindet, ist man natürlich ganz besonders sichtbar, das weißt du. Schon deswegen, weil sowas noch nie passiert ist und jetzt natürlich in allen Zeitungen steht. Ich denke, es ist überhaupt nur die Widerspruchslosigkeit dieser Wand, die dich dazu gereizt hat, dich ausgerechnet dort, wo nichts ist, hineinzustopfen. Und dann wirds plötzlich eng. Sogar diese Wand soll dich lieben! Damit du seist! Du bist unersättlich. Es geschieht dir recht, daß du von ihr gefressen wurdest. Wie kann man etwas erkennen, wenn da nur Wand ist? Ich sehe schon wie. Indem du dich in die Wand hineinzwängst und dann gleich selber zur Wand wirst. Du mußt unbedingt dort rein, wohin du nicht gehörst, nur weil dort noch kein andrer war. Was gefällt dir daran so? Ich höre, wie sie an dir zu schlucken hat. Das kann doch nicht angenehm sein. Ich höre, wie sie Stücke von dir abreißt, mit ihren Zähnen an dir nagt, die Wand der Erkenntnis. Das ist ja so gemein von ihr. Laß mich mal ran! Ich kann es gar nicht erwarten, daß mir ein Urteil gesprochen wird! Du erträgst sowas ja nicht.

Halthalt! Moment mal! Als ich wieder einmal eines Tages vor mir flüchtete, bis dahin war da immer Wald gewesen, aber diesmal eben nicht. Deshalb das Beispiel mit der Wand. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich glaubte, wie immer Bäume zu sehen, aber da war plötzlich diese Wand, durchsichtig. Nur Frauen beschreiben sowas. Die haben doch auch solche Angst vor dem Atom. Männer würden sich nicht aufhalten mit etwas, das man nicht sieht. Es geht doch immer um uns, aber wir sind es gar nicht! Sie würden die Tragweite von etwas vorher ausrechnen, ihr Fazit: das trägt nicht sehr weit! Der Radius ist doch sehr eingeschränkt, obwohl sich unsere Erkenntnis ausdrücklich auf das sogenannte Objekt bezieht. Aber wie was erkennen, wenn das Objekt durchsichtig, aber angeblich trotzdem da ist.

Ich bitte dich, gutgeputzte Fenster sind schließlich immer klar wie unsichtbar. Das ist doch viel besser als klar wie die Nudelsuppe, auf der wir jeden Tag unter dem Tosen und Brausen der Maggi-Gischt dahergeschwommen kommen! Ertrinken kann man in der nicht. Unser Schicksal liegt in einem Löffel, wenn es dem Mann nicht schmeckt. Da kennen wir uns doch aus, erinnere dich! Erinnere dich, daß es wenigstens uns Menschen klar sein muß, daß etwas unsichtbar sein kann.

Denken heißt, einen Gegenstand erkennen. Nein, heißt es nicht. Der Gegenstand, seine Anschauung kommt noch, bevor wir unsere Anschauungen vor anderen ausbreiten können. Aber wenn man eine durchsichtige Mauer schafft, dann aus durchsichtigen Motiven: Damit man nicht warten muß und seine Anschauung gleich ausbreiten kann, denn man sieht ja eh nichts. Man kommt nicht drüber hinweg, egal über was, und egal, welcher Bock da steht. Sie stellen sich sowas vor. Man sieht es nicht, aber man kommt nicht drüber hinweg und es bereitet einem entsetzliche Qualen, das ist sehr wichtig. Daß es eine Qual gibt, ist das wichtigste überhaupt. Manche Helden sind in ihrem Privatleben sehr nette Menschen. Warum die sich quälen - keine Ahnung. Die Liebe tönt und tröstet, falls sie erwidert wird, ansonsten nur: Grund zu neuer Unruhe und Schwierigkeit beim Schreiben, dann wird die Liebe wortreich bestritten, von irgendwas muß man ja seinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn es sonst keine Unterhaltung gibt. Bestritten, notfalls sogar von einer Wand, von der einem nichts zurückkommt. Vor allem, wenn sie durchsichtig ist. Wie soll man da mit seinem Wesensbestimmungsmeter der menschlichen Erkenntnisse ermessen, ob der Mann menschlich ist, nein, ob die Frau menschlich ist, nein, doch eher der Mann. Nein. Doch nicht. Der Mann ist einfach unmenschlich. Die Frau dagegen ist menschlich. Sie ist das einzig Menschliche. Die Wand ist eine mögliche Anschauung, das heißt, sie wäre es, wenn man sie anschauen könnte. Sie ist jedoch durchsichtig. Kein Echo, kein garnichts. Die Frau ist drinnen, alles andre bleibt draußen. So stellen sich das die Schreibenden vor, die Erkenntnis suchen, ihre Denkfähigkeit im Computertomographen überprüfen, sich glauben machen dürfen, daß es sie gibt, was sehe ich hier auf dem bildgebenden Verfahrenswerfer? Eine Wand. Von der ist das Bild jetzt abgeprallt. Schade. Eine Wand ohne eigene Erkenntnis, ohne Gestalt, ohne Form, aber die Erkenntnisse sollen ja wir haben. Das Blöde dabei ist, daß du nicht einmal die Wand erkannt hast.

Wie soll ich denn! Wenn ich sie nicht sehen kann! Du vergißt, daß mir das nicht eingefallen ist, mir ist diese andre Wand dort drüben eingefallen, die mit dem Sprung in der Schüssel, nein, die mit der Schüssel vor dem Sprung, den ich als einzige wage, nein, die mit der Schüssel, die ich vor den Sprung gestellt habe, damit man nicht sieht wie ich abhebe, nein, damit man den Sprung selber nicht sieht. Damit man nicht mehr weiß, von wo man abgesprungen ist. Ich will ehrlich sein. Ich will aber auch: erheblich sein! Wichtig! Und da ist die Wand durchsichtig. Sie ist nicht einmal ein Bruchstück, das ginge ja noch, sie ist Das üble Subjekt unserer Anschauung, sie ist das übliche Subjekt unserer Anschauung. Wie unterscheiden sich aber Anschauen und Denken? Gar nicht, wenn man nichts sieht. Heißt das, daß die Frau ganz besonders nichts sieht? Wahrscheinlich. Sie hat ja diese Wand geputzt, so lang, bis man sie nicht mehr gesehen hat. Tuklar und scheue niemand. Auch Ata, Vim und Zisch, ich meine Cif nicht.

Aber drüber schreiben, das können wir allemal. Wir müssen nichts wissen. Wir müssen nichts erfahren. Aber schreiben, das können wir. Wir beleuchten die neue Erkenntnis mit der neuen Lampe, die wir uns gekauft haben, schaut teurer aus als sie war, diese Erkenntnis. Die Lampe auch. Wie sollen unsre Urteile widerspruchsfrei sein und unsere Erkenntnisse nicht, nein, umgekehrt, nein, doch so, also wie kommen wir zu einem widerspruchsfreien Urteil, damit wir eine ordentliche Erkenntnis erzielen, wenn wir gar nichts erkennen können als diese Wand?

Also bitte, klau mir nicht meine Wand, ich hab sie zuerst gehabt! Ich hab sie zuerst nicht gesehen! Und jetzt putz ich schon über eine Stunde an ihr herum, und jetzt merke ich erst, daß sie ein Spiegel ist. Hätte ich die Gebrauchsanweisung auf der Sprühflasche vorher gelesen, hätte ich ja gemerkt, daß dieser Spray nur für Glas und Spiegel ist. Für eine Wand muß man ganz was andres nehmen. Aber wenn es ein Spiegel wäre, würde ich mich ja sehen können. Im Glas nur, wenn ich das Dunkle dahinter wäre, beziehungsweise wenn was andres Dunkles dahinter wäre. Es ist aber nichts dahinter. Kein Problem. Jetzt hat der Vampir so lang geglaubt, er hätte kein Spiegelbild, und dabei war da bloß kein Spiegel! Es war vielleicht die bloße gekachelte Küchenwand. Wenn man sich in etwas nicht anschauen kann, was trotzdem kein Spiegel ist, dann heißt das noch lang nicht, daß man denkt. Leider. Man kann etwas anschauen, man kann auch denken, von mir aus gesehen links, im Spiegel aber verkehrt, daher in Wirklichkeit rechts, na ja, ob es wohl eine Tafel ist, zum Schreiben und so, was du für eine Wand gehalten hast? Die Beleuchtung färbt drauf ab, nein, das war ich, und mir ist noch kein Licht aufgegangen. Also das, was ich da putze, ist nach wie vor durchsichtig oder es ist gar nicht vorhanden.

Jemand Intelligenterer als jemand, der eine Frau ist, hätte das inzwischen gemerkt.

Nein, es ist meine, die Wand, aber egal, was ich meine, ich bin ja schon in ihr verschwunden. Ich sehe es also sozusagen, nein so, ohne zu sagen, von innen. Da sieht man klarer. Die Frau hat so lang geputzt, bis ihr Objekt verschwunden war. Kann man das von uns sagen? Die Frau hat das Gegebene geputzt und dann ist es ihr weggenommen worden. Es war ihr leider nicht gegeben. Das war eine Erfahrung, kann ich dir sagen, als ich das rausgekriegt hatte! Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andern kalt, wer hat die Kokosnuß, wer hat die Kokosnuß, wer hat die Kokosnuß geklaut?

Du machst das alles doch nur, um deine Bestimmung als schreibende Frau über die der andren bestimmten Frauen herauszuheben. Am liebsten überhebst du dich an den ausschließlich zur Schönheit bestimmten Frauen. Da bist du natürlich ausgeschlossen. Ausgeschlossen, daß du zu denen gehörst. Das sind wir doch alle, zur Schönheit bestimmt, aber nicht jede folgt ihrer Bestimmung. Egal. Du setzt dich über alle. Du setzt deinen Selbstprüfer an, der Griff leuchtet rot auf, Strom drin, alles klar, und jetzt bestimmst du die Menge deines Selbstprüfungsvermögens und du prüfst und prüfst dich selbst. Dann wird ein Trafo eingeschaltet, und aus dem Selbstprüfungsverfahren wird, einfältig wie du bist, es wird, ach, egal, Erkenntnis? Nein. Urteil. Bereits Urteil. Es wird zwar gesagt, die Urteile sollen sich nicht widersprechen, erst dann kommt die Erkenntnis. Hier steht die Erkenntnis, welche der fünfzig Topmodels die schönsten sind und in welcher Reihenfolge. Aber du läßt den Urteilen ja gar keine Zeit, sich zu widersprechen. Du sprichst die Urteile, immer voreilig, aber nie eilig. Sie sind nicht Bedingung, sie sind das, was gesprochen ist und damit ihr eigenes Ende. Diese Urteile sprechen sich selbst, indem gerade du sie sprichst. Ich meine, indem du sie gerade sprichst. Aber wenn du sie sprichst, sind sie schon keine Urteile mehr. Meine fallen mir auch immer erst nachher ein. Ach, ich weiß nicht. Was soll ich dir sagen: Wenn du das Wesen deiner Erkenntnis, daß du in einer Wand verschwinden kannst, absolut nimmst, dann ist es sachgemäß, daß dieser Widerspruch, du verstehst, Wand, Verschwinden, Wand, Verschwinden, Paradox, also daß dieser Widerspruch die eigentliche Erkenntnis wird. Sonst hättest du dir schon lange die Stirn an der Wand eingeschlagen. Auch das hast du schon gemacht, ich weiß, ich weiß. Du siehst eh irgendwie eingedepscht aus. Jedoch du bist ganz anders schön als ich, aber du bist in gewisser Weise auch schön. Natürlich bin ich die Schönste. Da brauch ich keine Stiefmutter und keinen Spiegel, um das zu wissen.

Was, ich bin nicht schön?

Doch, du bist auch schön, aber nur als ich. Ich bin schön wie man sein muß. Du bist nicht so schön wie du zu sein glaubst. Auch eine Erkenntnis, die sich aber auf kein Objekt beziehen kann, denn du bist ja gar nicht da. Du bist in der Wand und aus. Oder davor und tot. Wie dieser Bruder von diesem weltberühmten Bergsteiger. Oder darunter und grade noch davongekommen. Aber keine Heldin, wie gesagt. Du wirst uns das sicher so ausführlich wie möglich darstellen.

Doch, du bist auch schön, aber nur als ich. Du bist anders, aber wie ich. Ich meine was die Bewegung deines Körpers gegen diese Wand betrifft. Aber wenn wir erst auf die Wand hinaufgehen, warte ab, bis dein Körper sich nicht mehr gleichförmig in der Ebene bewegt. Dann wirst du die Wand rasch vergessen haben, wenn du in ihr hängst. Du wirst dir noch wünschen, den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen zu haben. Denn das, was du dann nicht sehen wirst, wird kein Wald sein und du wirst dir trotzdem die Fresse dran einschlagen. Mitsamt dem neuen Lippenstift drin. Der pickt dann in der Mauer und faßt das Gegebene auf, nein, das Gegebene faßt den Lippenstift auf, er heißt Terracotta aus der matten Serie von Clinique, ich meine aus der Serie matt von Clinique.

Geh mir endlich aus der Sonne! Merkst du nicht, daß schon ich dort liege? Bin ich etwa durchsichtig? Da lieg ich doch, siehst du das denn nicht, da lieg ich ausgestreckt auf dem Felsen, spanne und entspanne meinen Körper auf dem Altar und spüre, wie die Sonne mich wundervoll schändet, ich mit der Glut des unpersönlichen und riesenhaften Gottes der Natur erfüllt.

Nicht alles, worauf du stehst, ich meine liegst, ist gleich ein Altar! Wenn du jetzt auch noch behaupten willst, daß der Leib deines Geliebten warm und pervers unter dir liegt und das Gefühl seines gemeißelten Körpers unvergleichlich sein soll, nicht weich, nicht nachgiebig, nicht feucht von Schweiß, sondern trocken, hart, glatt, sauber und rein, wenn du das noch ein einziges Mal sagst, dann geh ich. Dann geh ich sofort! So! Ich warne dich: den Apoll nehme ich mit! Und dann bist du das Trockene, das Harte, das Glatte, Saubere und Reine ein für allemal los. Und dann kannst du auch keinen Blödsinn mehr drüber schreiben. Ach nein, Entschuldigung, der Apoll ist ja gar nicht mehr da. Wenn er je da gewesen wäre, wäre er längst gegangen. Kein Wunder. Wäre der auch noch da, dann wären wir überfüllt, wir würden aus der Wand herausplatzen, wir können ja nicht einfach schweigen, und auch die Wand hätte jeden Grund, durchsichtig zu sein. Sie würde dazu dienen, den Sonnengott mit seinem neuen Porsche durchzulassen.

Entschuldige. Aber die Sonne bin natürlich ich selbst. Das was du siehst, ist nicht jemand andrer als ich. Du siehst mich! Und wenn du selber platzt: du siehst mich auf meinem Altar! Aber du hast es ja vorgezogen, lieber eine unsichtbare Wand zu sehen. Und das soll sich lohnen? Na dankeschön. Du hast dir das etwas zu allgemein vorgestellt, aber du hast es nicht begriffen. Und du hast es nicht auf den Begriff bringen können und du hast den Begriff nicht auf den Punkt bringen können und jetzt ist der Punkt zu einer Wand vor deinem Kopf geworden, und nicht einmal die kannst du sehen! Das kommt davon, wenn man zu Männern, die doch auch uns zugehören, immer so gemein ist. Da liegen sie wie die üblichen Begriffe vor dir, du brauchst nur zuzugreifen, aber du tust es nicht, du willst dir lieber selber einen Begriff von etwas anderem machen. Na, viel Spaß! Der Begriff wäre vielleicht noch ein Gegenstand gewesen, der Mann wäre ein Gegenstand für einen Roman oder ein Hörspiel gewesen, die Wand wärs vielleicht auch noch gewesen, aber durch deinen Putzspray hindurch- und auf deinen Haarspray herabgesehen, na, immerhin kann man aufgrund des Sprays überhaupt hindurchsehen bis auf den Grund, also dadurch gesehen ist weder das Empfundene, noch das Wahrgenommene ein Gegenstand im strengen Sinn. Sowenig wie die Sonne. Du kannst nicht schreiben, weil du das Genannte und das Gemeinte nicht als Gegenstand von Erkenntnis beschreiben kannst. Aber du benennst es ja schon falsch und meinst es schon falsch. Es stimmt einfach nichts bei dir. Du zeigst auf den Mann, um ihn zu vernichten, und dann merkst du erst: Er steht hinter der durchsichtigen Mauer, die du stundenlang so schön geputzt hast, nur damit du ihn zum Greifen nah siehst, den Mann, deinen lieben Papi, aber du kannst ihn nicht fassen. Er ist nicht zu fassen. Jedenfalls für dich nicht. Es ist nicht zu fassen.

 

 

 

 

 

2. Akt und Ende

(Die beiden Frauen wringen gemeinsam den Kadaver des toten Widders über einem Zuber aus, das Blut tropft hinein, sehr hübsche hausfrauliche Tätigkeit. Inzwischen haben sie sich umgezogen und achten offenkundig darauf, daß nicht noch mehr Blut auf ihre Kleidung tropft. Nur im Gesicht sind sie noch verschmiert.)

(Sie ächzen ein wenig vor Anstrengung, arbeiten aber sicher, mit kundigen Griffen, sie wissen was sie tun. Sie kennen sich aus.)

 

 

1) Ich entscheide mich für eine körperliche Beziehung, mit Geschlechtsvekehr, als animalischen und befreienden Teil des Lebens.

2) Ich kann mich nicht promiskuitiv befriedigen und gleichzeitig Respekt und Unterstützung der Gesellschaft (diesem Plagegeist) behalten - da ich eine Frau bin: ergo: die eine Wurzel des Neides auf die Freiheit der Männer.

3) Da ich nun mal Frau bin, muß ich klug sein und soviel Sicherheit wie möglich für die unerträglichen Jahre des Alters ergattern, wenn ich - mit hoher Wahrscheinlichkeit - keinen neuen Partner mehr erobern kann. Also steht fest: Ich werde alles dafür tun, daß ich auf dem üblichen Weg zu einem Partner komme: sprich, heiraten. Das schafft unzählige Probleme. Da ich so erwachsen bin, daß ich mich fürs Heiraten entschieden habe, muß ich jetzt sehr vorsichtig sein. Ich muß die schon erwähnten Schwächen - Selbstliebe, Eifersucht und Stolz - so intelligent wie möglich bekämpfen. Nein, mich selbst betrügen, das kann ich nicht!

Läßt sich durch eine solche Frage nicht beantworten. Läßt sich durch eine solche Antwort nicht befragen. Die Helden sind alle tot. Der Rest leckt sich gegenseitig. Was bleibt ihnen auch übrig. Geben wir ihnen was zu tun, indem wir ihnen zum Beispiel was zu essen geben! Stecken wir ihnen mal was andres in den Mund als ihre Schwänze! Ist das nicht eine Idee? Das steigert die Bekömmlichkeit des Totenreichs, und das kommt dann uns allen zugute, und wir wollen es uns und ihnen doch angenehm machen, oder? Im Reich der Schatten, die sie sind. Übermächtige Schatten, aus denen sie sich zwar, auf den Bock gestützt und die Keulen geschwungen, selbst hinausheben, aber dieser Schauerbock ist ja tot! Sie merken das erst, wenn sie schon mit gespreizten Beinen in der Luft über ihm hängen. Das Bockspringen ist dann ziemlich rasch beendet. Die Frau kann sich auf nichts mehr stützen. Die Helden dürfen sich endlich selbst hinauswerfen aus ihrem da aufgepflanzten Gerät, aber nur wenn sie zuvor von unserer Kraftsuppe gegessen haben, die gute Suppe, hmm hmm, tönt unter dem aufgerichteten, knatternden Gaumensegel wie Liebe, diese Suppe. So. Jetzt haben sie Blut geleckt! Ihr lieben Toten, kommt herbei. Also diese Suppe kann Tote aufwecken, glaub ich, das müssen wir jetzt nur noch ausprobieren. (ruft) Therese! Marlen! Du Frau, ich weiß jetzt nicht, bist du Therese oder wer, egal wie sie heißt, also ich meine die Blinde, die soll kommen! Die Fußlahmen warten derweil, aber nicht mehr lange. Sogar die brennen darauf loszurennen. Zuerst kommt aber Therese dran, die muß uns einfach die Wahrheit sagen, damit wir sie unter abgewandelten Bedingungen überprüfen können, ob sie es auch wirklich ist. Damit wir die dann auch noch absiedeln können, diese Flüchtlinge, die armen Lebenslügen, bittesehr, da rennen sie schon. Also die müssen wir erst einmal untersuchen, die Wahrheit. So sind wir halt. Falsche Ärztinnen. Verfahrene Naturheilerinnen. Verfahren anwendend, die sich gründlich verfahren haben, bevor sie noch aufbrechen konnten. Und wenn wir schon keine Erkenntnisse gewinnen können, weil wir auch keine Erfahrungen machen können und weil wir nur selten Physik studieren können und weil wir nur selten Mathematik studieren können und weil wir so selten die Wissenschaft verstehen können, also bleibt uns nur die allgemein menschliche Erkenntnis. Und die Natur. Für diese beiden sind wir Spezialistinnen (wringt energisch den Widderkörper).

(Das Blut fließt in das Schaff)

Ich ermahne die Schatten jetzt zur Wirklichkeit. Zu Tisch bitte! Niederknien und Tischgebet, dann fressen. Blut saufen. Blut auch in Binden und Tampons rinnen lassen, wenn nötig mitten in einer bedeutungsvollen Äußerung. Das lenkt die Köpfe fein ab, wie eine Fliege am Fenster. Die Äußerung wird dann zur Entäußerung bei der Frau mit ihren süßen Sorgen. Da eilen sie schon herbei, die toten Heldinnen, nur sehe ich sie derzeit noch nicht. Sie haben das alles ausgelöst, und jetzt sieht man sie nicht einmal. Wofür die ganze Mühe? Seit Stunden stehn wir am Herd, aber erst, wenn wir abgeräumt haben werden, werden sie sich zögernd setzen, von ihrem zusammengebrochenen hohen Roß, Grane oder wie es halt heißt, Iltschi, nein, das nicht, das ist das falsche, hinunterschauend in ein Tal der unvorstellbaren Ödnis, wo sich die Schatten hoch aufrichten und wichtigmachen, damit man ihr Geschlecht sofort sieht, die Schatten, die sie selber sind und die sie selber sich auch noch im Fernsehn anschauen dürfen. Als wären sie nicht einmal schon zuviel. Als wären sie nicht schon längst viel zuviele. Der Bildschirm wirft sie sich selbst zurück, ein ewiges Ping Pong der verlorengegangenen Bälle. Daher das Wort Bildwerfer, das wir bereits verwendet haben, bevor es sowas gab, nur ähneln sie ihren Bildern nicht, wenn sie endlich wieder zurückkommen. Sie sind es und sind es auch wieder nicht. Wenn der Gegenstand, der in diese Existenz geworfen wurde, dann endlich zum Stand gebracht ist, weil die Hand erlahmte, nennt man ihn Verstand. Nur weil sie sich aufbäumen, diese Schatten, sind sie noch lang nicht groß. Das heißt nur, daß die Sonne in der falschen Position ist. Sie hat uns nichts zu befehlen. Die Toten kommen jetzt. Aus dem Dunkel. Dem Reich der Schatten. Wir haben sie losgeschickt, und tot kommen sie wieder zu uns zurück. Sauerei das alles. Da steht man stundenlang in der Küche und dann das. Dieses Geschrei, hörst du es? Sie wollen alle noch vor Therese fressen, aber sie wollen nicht von Therese fressen, und sie trauen sich vor ihr nicht mal zum Tisch rüber. Wer weiß, was Therese zu ihnen sagen wird, und sie wird es sagen, noch bevor es geschehen ist, denn sonst wäre sie ihr Honorar in Blut nicht wert. Wahrscheinlich haben sie Angst, daß sie beim Auf- oder Abdecken helfen müssen. Aber dafür haben wir schließlich einen eigenen Abdecker. Wird schon noch kommen. Der hat einen Kleinlaster und nimmt sie alle mit, wenn er mit ihnen fertig ist.

Also noch immer niemand da. Ob etwa wir die Schatten sind? Ob wir sie selber sind, die da kommen sollen? Unser Opfertier scheint uns noch immer anzuglotzen wie die eingeworfenen Fensterscheiben eines Hauses, in dem längst keiner mehr wohnt. Bleibt nur die Wand für uns? Die Wand war unser Schicksal. Kain war das Schicksal von einem anderen. Siehst du Therese schon?

Nein. Ich stelle mir vor, wie sie sich grade über unseren Kessel Buntes beugt und ein paar übriggebliebene Fleischfasern heraussucht und gleich aus dem Topf frißt. Du kennst sie ja. Die stochert immer so lang im Essen, bis sie die besten Bissen heraus hat. Sonst kriegt sie nicht heraus, was geschehen wird. Den Rest läßt sie stehen. So ist das mit den Seherinnen. Machen mit der Wahrheit ein Luftgeschäft und ihre Aktien steigen trotzdem. Sehen immer nur was sie wollen. Und wenn sie mal was Schreckliches sehen, dann bezieht es sich entweder auf Tiere, die dem Sonnengott gehören, der auch wieder mal nicht in der Position ist, auf die Erde zu kommen und endlich in der Landwirtschaft mitzuarbeiten, oder es bezieht sich auf irgendwelche andren Frauen, nie auf uns, es bezieht sich, wir kennen das doch schon, auf Frauen, die von Freiern belagert werden und daher, um sich den Männer zu entziehen, in eine Coverstory oder wenigstens aufs Cover kommen. Dort kann jeder sie angreifen, aber sie spüren es nicht. O ja. Auch Frauen sterben! Nur halt später. Ihre Bilder können sich länger halten als sie selbst.

Weißt du, Blinde haben vielleicht nicht die Wahl, was sie sehen wollen und was nicht.

Ich glaube, ich habe vorhin meine Mutter gesehen, wie sie versucht hat, sich noch vor Therese an den Bottich zu schleichen und alles hinunter zu schlingen. Damit Therese nichts und nichts andres übrig bleibt. Wahrscheinlich wollte Mami wenigstens einmal was essen, was sie nicht gekocht hat. Aber wenn man etwas von ihr zurückweist, ist sie gleich beleidigt. Mutti! Ich habe gesagt, zuerst Therese, aber noch an der Haustür hat meine Mutter mir verboten, jemanden zum Essen einzuladen. Nicht einmal jemanden, der schon tot ist, geschweige denn jemanden, der noch lebt, der wäre eine unerträgliche Konkurrenz für sie. Aber jedes selbstreinigende Backrohr wäre das ja schon, eine Konkurrenz! Mami meint, die Toten können sich nicht benehmen, sie sind kein Umgang für mich. Entweder sie verdrücken zuviel auf einmal und kotzen uns alles voll oder sie sind mäkelig, weil sie das Essen vielleicht noch dafür brauchen können, ihrerseits von ihm verschlungen zu werden. Und da kommt nun das Vieh ins Spiel. Achill oder wer andrer, den, glaub ich, die Christa kennt. Sie wollte mir seine Telefonnummer geben und seine e-mail-Adresse. Er darf natürlich morgen zu mir kommen und mit ihm ein Dutzend anderer. Wenn ich ihn bis dahin erreiche. Je mehr desto lieber.

Von der Suppe verschlungen! Aber geh, Sylvia!

Nein, ich habe schon recht, glaub mir. Die Schatten haben vorhin behauptet, sie hätten die ganze Nacht ihre Tür offengelassen, aber der Bote mit dem Essen hätte mit seiner Herde, aus der wir uns was hätten aussuchen dürfen, an der falschen geklingelt. Im Nebenhaus. Jetzt wollen einmal wir liefern, aber keiner holt unser schönes Essen ab. Dieses Vieh darf nicht abgeführt werden. Dieses Vieh muß noch viele andre töten und verputzen und dann die Mauer neu weisseln und Bilder über die Schatten hängen, damit man nichts mehr sieht.

(Sie füllen das Blut, nachdem sie den ausgedrückten Kadaver achtlos weggeworfen haben, in Tupperware-Geschirre, die sie in je einen Rucksack stapeln, am Schluß nehmen sie den Rucksack auf den Rücken und klettern die Wand hoch.)

Wenn ich zur Sonne sage grüß Gott, dann sagt die nichts zu mir, der Helios ist sich zu fein zum Grüßen, aber ich greife den Stein an, der ist so warm, also muß die Sonne, die ich nicht erkennen kann, ja da sein, wer sollte sonst einen Stein erwärmen? Ich wiederhole die Beobachtung bei trübem Wetter: der Stein bleibt kalt. Ich drehe an einem Schalter, stelle die Suppe auf und die Sonne erwärmt sie mir schön. Ich drehe an einem Schalter nicht, stelle die Suppe auf und die Sonne läßt die Suppe völlig kalt. Ich habe urteilsmäßig bestimmt, daß Gegebenes veränderbar ist, und zwar unter verschiedenen Bedingungen, in die ich das Gegebene bringe. Es ist doch so: die Sonne scheint und erwärmt die Suppe, wenn ich an diesem Schalter drehe...Drehe ich nicht, erscheint keine Sonne und die Bäume können sich gegenseitig blöd anschauen, weil auch sie auf die Sonne gewartet haben. Ich habe verhindert, daß sie kommt. Kann aber auch sein, der Helios steht einfach nicht auf uns.

Bei deinem Gerede bäumen sich ja sogar die Schatten auf! Wie Flieger aus Seidenpapier, die ins Gerede gekommen sind und jetzt müßig, nachdem das Mikro abgeschaltet wurde, in der aufkommenden Brise herumzittern. Raschelnd wie abgestorbene Insektenflügel wehen ihre Mäntel nach dem Wind. Aber einen Wind schafft heute sogar schon der Song Contest. So. Wo ist jetzt dieser Schalter für den Wind? Um den Schalter für den Wind zu betätigen, muß ich vorher die Suppe aus der Sonne nehmen. Ich habe nur eine einzige Platte, aber die lasse ich immer und immer wieder ablaufen. Sie glüht schon, aber es wird mir nicht langweilig dabei. Genau zu diesem Zweck habe ich schließlich geheiratet. Es ist jetzt viel später. Nun habe ich diesen schönen Gasofen und kann in Ruhe meinen Kopf hineinstecken, bis er gar wird. Nicht vergessen: vorher die Küchenuhr einschalten! Meine Kinder können derweil im Nebenzimmer in Ruhe vor sich hinbrutzeln, wir haben ja inzwischen den neuen Herd mit mehr als eine Platte. Wir werden sogar vier Kochplatten auf unsrem Herd haben, wenn wir den neuen gekauft haben, das haben wir uns jahrelang vorgesagt! Die gehen alle auch noch drauf, die Kinder. Wie heißt der Kollege, der seine Kinder danach auch noch gegessen hat? Also sowas Grausames würde ich nie tun! Sowas Grausames will ich mir nicht einmal vorstellen, obwohl das auch schon öfter gemacht worden ist. Alles, was es gibt, ist schon ausprobiert worden. Und wenn ich jetzt etwas andres ausprobiere, wird es morgen überall erhältlich sein. Hallo! Da sind die Schatten ja schon.

Also die Schatten sind deshalb gekommen, weil du den Schalter nicht auf die im Kochbuch angegebene Ziffer gestellt und die Sonne nicht eingeschaltet hast.

Aber ich will ja, daß die Schatten kommen und uns sagen, was unsre gefallenen Freundinnen machen!

Sie gefallen. Was sonst. Haben sie immer schon gemacht. Du mußt übrigens den Schalter so stellen, daß die Suppe auf mittlerer Stellung im Gleichgewicht bleibt, bei drei brennt sie leicht an. Und irgendwann fährt die Sonne dann, schon aus Angst, sich zu verbrennen, sich in wohliger Bewußtlosigkeit zu verlieren, die Stellung auch noch zu verlieren und hinzuschmelzen, hallo, künftige Generationen!, hinzuschmelzen wie Toast Hawaii, wenn den überhaupt noch jemand kennt, und sich hinzugeben wie Britney Spears, wenn die überhaupt noch jemand kennt, nein, die nicht, die als einzige nicht, und irgendwann fährt also die Sonne wie ein Blitzlicht, nein, wie der Blitz selbst in die Suppe. Elektrolyse. Aber es kommt was raus dabei! Dann kommt alles raus. Wasserstoff und Sauerstoff. Unsichtbar wie das meiste. Thereses Spezialgebiet. Vielleicht ist es aber endlich unser Schatten, der da rauskommt, weil wir hier sowas Schönes gekocht haben, aber nein, er will nicht. Will nicht kommen. Therese! (beide rufen: Therese! Marlen! Therese! Marlen!) Du mußt uns sagen, mit wem es unsere toten Heldinnen derzeit treiben! Damit wir es weitererzählen können. Vielleicht sogar in einer Zeitschrift, wer weiß, vielleicht fragt uns die.

Die Therese kann dir sicher auch noch sagen, mit wem sie es treiben werden. Kein Grund für Neid. Völlig überflüssig, was sein wird, denn bis dahin wird es schon nicht mehr flüssig sein. Ich trete in deine Überlegung hinein und kann sie daher als Überlegung nicht mehr erkennen, sie ist jetzt überall um mich herum, und es ist ganz unwichtig geworden, ob sie die Wahrheit in ihrem fließenden Gebrauch ist, fröhlich über Kiesel hüpfend, dann wieder ruhig dahingleitend, die Wahrheit, die uns Therese mitteilen soll, aber die will unsre Suppe nicht. Die Sonne will die Suppe auch gar nicht erwärmen, und das Offenbare geschieht: Masseschluß, aus dem die Masse, wie immer, die falschen Schlüsse zieht, daß sie jetzt dran wäre. Die Suppe stockt, ganz unwilkürlich verhält sie ihren Fuß, verstaucht ihn sich gleich, weil sie der Vergegenständlichung dieser gestockten Wahrheit nicht gewachsen ist. Eben noch ging sie ihr recht flüssig von den Lippen, die Wahrheit, nun ist sie nur noch halb eingesülzter Gatsch mit so Brocken drin. Hätte man länger rühren müssen, wer soll denn das jetzt noch essen? Ich habe mich jetzt leider verloren, dafür wird Therese kommen oder auch nicht. Sie sagt uns nicht, was Sache ist. Aber sie wird es uns hoffentlich noch sagen. Uns fehlt jetzt nur noch Therese, die uns voraussagen könnte, was sie sagen wird und ob sie überhaupt etwas sagen wird.

Sie muß diese Suppe nur anschauen, um sie nicht essen zu wollen, wenn du mich fragst. Mit einem Verstand, ich meine einer Verstauchung, ich meine einer Vergegenständlichung wird diese Suppe niemals versachlicht sein. Deshalb wird sie ja auch nicht warm, egal an welchem Schalter wir drehen. Sie ist für die Aufnahme im menschlichen Körper überhaupt nicht geeignet, wenn du mich fragst, und wir hätten uns nicht soviel Mühe mit ihr geben sollen.

(Die beiden Frauen klettern jetzt mit ihren Gefäßen voll Blut die Wand hoch)

(Sie rufen:) Papi! Papi!

(Sie brüllen wahnsinnig laut:) Papi! Papi!

Dein Papi war ein Nazi und du sagst, er wäre Pazifist!

Dein Papi war Pazifist und du behauptest, er wäre ein Nazi!

Dein Papi war Pazifist und du behauptest, er wäre ein Jud!

Das mit der Suppe hat immer noch nicht geklappt. Die Suppe stand lang auf der Kippe, und jetzt ist sie gekippt. Bitte um Entschuldigung. Du hast mir erklärt warum, aber ich verstehe es immer noch nicht. Wir sollen sie selbst auslöffeln, weil keine Kinder da sind und kein Haus da ist und keine Herde mehr da ist und nichts mehr da ist, wovor wir uns hüten könnten? Hast du das gemeint, meine rauschende Freundin? Ich liege im Backofen, die Kinder liegen in ihren Pfannen, in die ich sie reingehauen habe wie Spiegeleier. Also legen wir uns, es bleibt uns ja nichts andres mehr übrig, die Vernunft aus, damit wir uns wenigstens mit ihr noch auseinandersetzen können! Die ist das einzige, das noch nicht irgendwo liegt und auf seinen Tod wartet.

Ich hab falsch gemessen, glaub ich, ich lege die Vernunft noch einmal ordentlich aus, aber sie reicht einfach nicht für uns beide. Gut, daß du im Backofen bist. Keine Platte, auf der ich mich präsentieren könnte, mehr frei. Ich werde mich, glaub ich, selber anzünden müssen. Eine Uralt-Methode. Aber bewährt.

Du hättest beim Messen den Schwund von vorneherein mitkalkulieren müssen.

Dafür habe ich keine Urteilskraft.

Aber Urteile sprichst du andauernd.

Ja schon, aber sie sind merkwürdig kraftlos. Ist mir schon aufgefallen.

Also für einen Lebenden ist es, wie ich merke, nicht schwer, zu den Schatten zu gelangen. Ich habe mir das schwieriger vorgestellt. Ein Herd. Eine Zigarette. Ein Nylonnachthemd. Die bloße Haut. Man kann alles nehmen und ein schmackhaftes Menu draus zubereiten, auch wenn es nicht zusammenzupassen scheint. Die Schatten sind nicht zu uns gekommen, also kommen wir zu ihnen. Damit sie wenigstens einmal wirklich Ursache zur Klage haben. Nicht ihr Schicksal ist es, das sie beklagen, sondern daß sie es von nun an mit uns teilen müssen. Dabei bringen wir ihnen ihr Essen. Damit sie sich erinnern. Damit sie sich erinnern, daß sie nicht allein sind.

Woran auch immer sie sich erinnern werden, nicht wir werden es sein. Wir bringen immer nur das Essen, sogar dann noch, wenn wir selber das Essen sind. Sie kommen nicht heim, also kommen wir zu ihnen und bringen es. Das Blut. Den Schatten. Schwierig wird es erst, wenn wir als Lebende hin- und wieder zurückkommen wollen. Dies ist ein One way-Ticket. Steht eigens drauf, ich habs überprüft. Und beim Einchecken nochmal überprüfen lassen. Das ist schon das schwierigste, lebend von den Toten wiederzukommen. Nur damit einem gesagt wird: diesen Trolley können Sie nicht in die Kabine mitnehmen! Sogar auferstehen ist noch leichter, denn der Auferstandene ist ja nicht mehr unter den Lebenden, er ist nicht ganz zurückgekommen, er ist in einem Zwischenbereich. Damit niemand blöde Bemerkungen über ihn machen kann, weil keiner ihn dort sieht. Dafür liest man eine Menge über ihn. Ganz im Gegensatz zu uns, denn wir wollen ja gerade nach unserem Tod ganz besonders gesehen werden! So eine unsichtbare Wand - das wäre nichts für uns! Wir wollen sichtbar sein und mit einer entsprechend ansprechenden Garnierung serviert werden, bei Inge das geschmolzene Nessus-Hemd, ich meine das Narzissus-Hemd, das ihr keiner geschenkt hat. Sie hat es sich selber beim Palmers kaufen müssen. Solche Frauen müssen sich immer alles selber kaufen. Entschuldige, Inge. Aber ich sag wies ist. Wirklich toll wäre es erst, wenn der Auferstandene wirklich zu den Menschen zurückgekommen wäre. Wir Heldinnen haben es nicht ganz so schwer wie er, wir müssen nur sehr weit nach Westen fahren, Cape Cod würde ich mal sagen, der äußerste Punkt, weiter ist nicht nötig, sonst stürzt man ins Meer. Weil man vergessen hat, wo oben und unten ist. Und dann müssen wir ja immer noch unsre Blutsuppe kochen, die dann eh wieder keiner will und die die Sonne eh nicht wärmen will und die der Schalter eh nicht aufdrehen will und die der blinde Seher eh nicht für uns auslöffeln will. Aber dann. Aber dann. Dann kommen wir. Dann weiß man, daß es sich gelohnt hat, dann kommen die Toten zu uns und wir zu ihnen. Aber zuerst kommt Vati (beide Frauen brüllen wahnsinnig laut: Papi! Papi! Du Mann! Papi! Mann, Papi! Was hast du da gemacht? Papi! Etc.), dann kommt Mutti, und dann kommt hoffentlich endlich die Therese. Viel zu spät, wie immer, sodaß sie in das, was kommt und was sie voraussagen sollte, direkt hineinrennt und sich die Stirn zerschmettert. Aber da wird keine Heldin herauskriechen. Die sieht, die sieht, was du nicht siehst. Mehr nicht. Wahrscheinlich kommt sie genau dann, wenn wir eh schon alles wissen. Wer tot ist und wer nicht. Mutti und Vati werden schon aus Höflichkeit essen, sage ich mal, aber die Therese, die ist mäkelig. Die lacht in sich hinein wie in ein unaufgeräumtes Zimmer, dem sie mit Hilfe einer Kinokarte entfliehen will, anstatt wenigstens abzuwaschen. Sie lacht in sich hinein wie in einen aufgeräumten Herrn, dem sie mit ausgebreiteten Armen entgegeneilen will, anstatt bei sich selber aufzuräumen. Alles Einbildung. Plötzlich hören wir auf, mit unserem Essen die Treppe herunterzukommen, weil wir die Wand hinaufklettern, die wir nicht gesehen haben.

Doch als wir sie sahen, die Wand, da konnten wir sie schon nicht mehr umgehen. Wir konnten mit ihr nicht umgehen. Sie war durchsichtig, völlig durchsichtig, aber es war kein Durchkommen bei der. Also nichts wie rauf. Anders geht's nicht. Wir bringen den toten Helden ihr Essen. Das müssen wir. (sie brüllen: Papi! Papi!)

Mein Papi war ein Jud.

Nein, war er nicht. Er war ein Nazi.

Nein, war er nicht, er war ein Pazifist.

Der Pazifische? Nein, war er nicht, der war ein andrer. Er war der andere. Dieser eine war nicht Okeanos, in dem die Stars baden gehen, er war nur Otto, der eigensinnige Diabetiker. Das war dir zuwenig. Nicht einmal seinen eigenen Diabetes wollte er erkennen. Das gilt als erwiesen. Der hätte ruhig weiterleben können. Nicht jeder, der die toten Helden aufnehmen will, nachdem wir sie ernährt haben, ist deswegen gleich der pazifische Ozean. Und nicht jeder, der stirbt, ist ein Held. Der Ozean ist einer, der tötet und dann die Toten verschlingt. Aber jeder andre nimmt auch gern Helden. Wir wollen von jemandem verschlungen werden, aber so, daß man uns danach noch sieht. Daß man uns sogar noch viel mehr sieht als zuvor, bevor wir vernascht wurden. Die drei in dem kleinen Flieger, schau nur, die hat er auch genommen. Der die Weltscheibe umfließt. Kaum zu glauben. Kaum macht einer was, schon schauen ihm tausende schöne Frauen dabei zu und springen dann auch noch rein. Einer ihrer Vorwände sich auszuziehen. Trotzdem. Das mit dem Sportflieger kann sich kaum gelohnt haben. Ein winziger Schluck, mehr nicht. Und dort drüben, fast zweihundert. Was wird aus uns? Mit Kakerlaken auf uraltem verkrustetem Geschirr beim Tisch sitzen? Und dann den ganzen Ozean drüberlassen? Nein. Schnell raus aus dem Bett, bevor es noch gemacht ist, nein, raus, das Bett gemacht, die betroffene Kleidung an sich gerissen, zerfetzt, übergestülpt, und richtig, die Strümpfe haben wir vergessen anzuziehen. Egal. Es ist keiner mehr da, mit dem wir uns über unser Aussehen verständigen könnten.

Da liegt eine schmutzige Unterhose, dort ein Socken, hier hat jemand seine Uhr hingelegt, das Armband ist ganz speckig. Dieses T-Shirt stinkt grauenhaft, wie ein zerfetzter Sportleichnam, der im Grunde immer noch vital ist. Sonst würde er ja nicht so stinken. Ich kann es als mein Werk bezeichnen, daß ich feststellen kann, daß dieses Unterleiberl gewaschen werden muß, und zwar rasch, bald, das ist die Wahrheit, die Falschheit, die Erkenntnis, die Überschätzung, die Unterschätzung unserer geschätzten Bestandsaufnahme. Über alles. Glaubst du, das waren Helden, die da gewesen sind? Glaubst du, das waren Helden, die das gewesen sind?

Hoffentlich nicht. Sonst würden wir mit unserem Essen zu spät kommen. Und Therese kommt gleich gar nicht, wie mir scheint. Hat sich nicht einmal entschuldigt. Glaubt wohl, bei uns hat sie das nicht nötig. Die freundlichere Variante: sie glaubt, wir wissen ohnedies schon alles.

So. Das war Fassung eins. Fassung zwei werde ich einfach verlieren. Fassung drei wird es nie geben. Alles, was wir fassen können, ist in unseren Geschirren. Uns genügt es.

(Die beiden Kletterinnen mit ihren Blutgeschirren sind oben auf dem Fels angekommen. Sie atmen schwer.)

(Oben sitzt ein Wesen, das ganz mit Binden umwickelt ist, auch das Gesicht. Es hat neben sich einen Schistock lehnen (oder zwei Stöcke, wie beim Nordic Walking), und es trägt eine modische sehr dunkle Sonnenbrille. Es ißt auf einem Puppentisch mit Puppengeschirr. Die beiden Frauen stemmen sich, nach einem kurzen Verschnaufen, auf den Fels, packen ihre Blutsuppe aus und füllen sie in die Puppentassen und -teller. Es rinnt alles über, das Blut rinnt den Fels hinunter. Die Frauen halten ihre Blut-Kinderjause)

(Das Wesen spricht, man versteht es kaum, weil ja das ganze Gesicht fest mit Binden umwickelt ist. Man kann hier, aber auch im folgenden, durchaus mit laufender Schrift auf einer Repro-Leinwand arbeiten):

 

Teil der Esquilinischen Fresken: Odysseus am Eingang des Hades

 

Leicht ist es, was ihr mich gefragt habt, aber ich sage es euch trotzdem. Es sind die schrecklichsten Sätze, die je gesprochen worden sind. Deshalb bitte ich ausdrücklich um Ruhe, weil ich sie nicht nochmal sagen könnte: Wem ihr jetzt erlaubt aus der Schar der abgeschiedenen Toten, sich dem Blut zu nahn, der wird euch Wahres erzählen. Aber wem ihr es verwehrt, der wird stillschweigend zurückgehn.

(Man jausnet während des folgenden gemeinsam aus dem Puppengeschirr. Man spielt sozusagen "essen" wie Kinder es tun.)

(Aus einem altmodischen Kofferradio hören wir, von einer eifrigen Männerstimme gelesen)

Zwei Gefährten hielten das Tier an den Beinen fest, sodaß der Kopf mit durchschnittener Gurgel herabhing. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren. Odysseus, den Fuß auf den Aushub der Grube gestellt, den linken Arm über den Oberschenkel gelegt, das Schwert, mit dem er die Schatten zurückhielt, in der Rechten, lauschte der ehrfurchtgebietenden Gestalt des gebeugten blinden Sehers. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren. Weißes Haar zeugte von dessen Alter, der Stab in der Linken von seiner Blindheit. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren. Unter den bleichen Schatten fielen uns einige Frauen in gelben Gewändern und drei abseits stehende Gestalten auf. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren. Die Frauen waren Antikleia, des Odysseus Mutter, mit der er ein schmerzliches Gespräch führte, und eine Reihe von Heroinen, welche die Urmütter vieler Helden waren, mit denen Odysseus vor Troja zog. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren. Die Männer aber waren wohl Agamemnon, Achilleus und Aias, mit denen Odysseus die unseligen Tage ihres Endes beschwor. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und Herren.

(Gleichzeitig, sehr leise, hören wir, unbedingt auf Altgriechisch!, mit zarter Frauenstimme, vielleicht ein Kind, eine Schülerin aus einer Stadt, toll wäre es, wenn die Schauspielerinnen, oder wenigstens eine von ihnen, aus der Theogonie des Hesiod (155ff) die folgenden netten Worte sprechen oder lesen könnte:)

Alle nämlich, die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich-gewaltige Kinder und dem Vater von Anfang an ein Greuel; kaum war eines geboren, verbarg sie Uranos alle im Schoß der Erde, ließ sie nicht ans Licht und freute sich noch seiner Untat. Die riesige Erde aber wurde im Inneren bedrängt, stöhnte und ersann einen bösen, listigen Anschlag. Rasch erschuf sie das Element des grauen Stahls, machte eine große Sichel, wies sie ihren lieben Kindern und sprach ihnen (denn groß war der Groll ihres Herzens) Mut zu: "Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder, wollt ihr mir gehorchen, so können wir die Schandtat eures Vaters vergelten. Er hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht." So sprach sie, doch alle ergriff Furcht, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Der große, Krummes sinnende Kronos jedoch faßte Mut und erwiderte gleich seiner edlen Mutter: "Mutter, ich könnte die Tat auf mich nehmen und ausführen, denn ich kenne nicht Schonung für unseren Vater, der seines Namens nicht wert ist; er hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht." So sprach er. Die riesige Erde aber freute sich. Sie barg ihn in einem Versteck, gab ihm die scharfgezahnte Sichel in die Hand und lehrte ihn die ganze List. Es kam aber der große Himmel, führte die Nacht herauf, umfing die Erde voller Liebesverlangen und breitete sich ganz über sie. Der Sohn aber griff aus dem Versteck mit der linken Hand nach ihm, nahm die riesige, lange, scharfgezahnte Sichel in die Rechte, mähte rasch das Geschlecht seines Vaters ab und warf es hinter sich, daß es fortflog; doch fiel es nicht ohne Wirkung aus seiner Hand, denn all die blutigen Tropfen, die herabfielen, empfing Gaia und gebar im Kreislauf der Jahre die starken Erinyen, die großen Giganten in strahlender Rüstung und mit langen Speeren in der Hand sowie auch die Nymphen, die man auf der unendlichen Erde Melische, also Eschennymphen nennt.

 

(Fotos: Alexander von Suchenko, Peter J. Kahrl, Frankfurter Verlagsanstalt)

12.6.2002

 


Der Tod und das Mädchen 5 © 2002 Elfriede Jelinek

 

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