Der
Tod und das Mädchen 5
Die Wand
  
Ingeborg
Bachmann, Marlen Haushofer, Sylvia Plath
1.
Akt
(Sylvia
und Inge schlachten zusammen ein männliches Tier (einen Widder) .
Sie reissen ihm die Hoden heraus und schmieren sich mit Blut ein. Das
muß sehr archaisch und grausam aussehen, ganz im Gegensatz zum Gesprochenen!
Im Laufe des folgenden werden ihre Kleider dann unbrauchbar und die Frauen
müssen sich umziehen. Dann zieht Ingeborg ein Dirndl und Bergschuhe
an, Sylvia einen einteiligen Badeanzug aus den 50er Jahren, aber auch
Bergschuhe dazu.)
(Was
die Aufteilung der Texte betrifft, so ist sie vorgegeben, die Personen
können sich aber auch verdoppeln oder verdreifachen, die Absätze
deuten nur Absätze im Sprechen an, sie dienen nicht der Unterscheidung
in die beiden Personen Sylvia und Ingeborg, beide stehen für viele
andere. Diesmal allerdings, Herr Chef, Frau Chefin, müssen Sie, zumindest
in den Grundzügen, die szenischen Anweisungen für die Bühnenaktionen
ausführen, die ich vorgegeben habe, denn diesmal sind sie Teil des
Textes. Tut mir echt leid.)
Reg dich ab. Das ist nicht Uranos, dem du da den Samen mitsamt seinen
Leitern wegreißt, auf denen er steht, um uns endlich fruchtbar zu
machen. Und du bist auch nicht Kronos, der das Zeugs einfach ins Meer
schmeißt oder seiner Mutter in die Fut oder was weiß ich wohin,
und du bist nicht der Schaum, in dem das unsterbliche Fleisch herumschwimmen
darf, und was du schon gar nicht bist, ist diese Aphrodite, die in ihrem
neuen Bikini da grade raussteigt, direkt ins Blitzlichtgewitter hinein,
sowas könntest du dir gar nicht leisten. Bei deiner Figur. Hoffentlich
beruhigt sich die Natur bald wieder. Keine Ahnung, wieso sie sich wieder
so aufgeregt hat. Da kann schließlich irgendwer daherkommen übers
Meer und den Samen ohne unsre Hilfe, einfach so, zerstreuen soviel er
will. Wir warens nicht. Es wird nie was draus, wenn wir es in die Hand
nehmen. Nicht einmal wenn wir eine Sichel dafür nehmen, wird was
draus. Futter für die Kaninchen vielleicht, aber sonst nichts. Und
da sind auch keine Kinder zu fressen und überhaupt. Wären wir
wenigstens geschlechtsliebend, aber warum sollten wir das sein? Nur weil
wir aus einem Geschlecht herausgetreten sind? Da, wo wir hintreten, sind
ja doch nur Steine. Und der hier, den du bearbeitest, ist nur unser Burli.
Seine Geissen warten auf ihn. Sie wissen noch nicht, was passiert ist.
Und bei Demeter warten sie auch auf ihn. Wir sollten eigentlich heute
liefern. Diesmal warten sie umsonst. Die Regale beim Spar sind und bleiben
jetzt leer. Für immer.
Ja, natürlich. Ja, natürlich. So wie er jetzt ausschaut werden
sie ihn nicht mehr nehmen.
So wie wir ihn hergerichtet haben.
So wie wir ihn hingerichtet haben. Sagt Rita immer, nein, Ria. Aber die
Grundfrage bleibt doch wirklich immer wieder nur die Frage nach dem Ding.
Haben wir es nun oder nicht?
Jetzt haben wir es, aber es ist das falsche. Welches auch immer: Es ist
nie die Welt, die aufplatzt und vor unsren gaffenden Augen ihre Eingeweide
verspritzt wie eine geborstene Wassermelone.
Also aus den Samen einer Wassermelone ist noch nie was geworden. Schau
dir hingegen einmal an, was der Samen vom Uranos alles hervorgebracht
hat! Bedeutende Persönlichkeiten. Sowas hast du noch nie gesehn!
Hundert ungeschlachte Arme an den Achseln und, pro Person, fünfzig
Häupter auf den Schultern! Alle Stuntmen geworden. Verdienen nicht
schlecht. Man hat ihn einfach nur ausstreuen müssen, den Samen, und
aus. Die Reporter haben nur noch zu warten gebraucht, bis die Strahlenden,
die Götter, zwei und zwei, in ihren widerwärtig brennenden Kostümen
ins Weihefestspielhaus geschritten sind. Beweglich ihre Wangen, gespitzt
ihre Münder, ich meine gespritzt ihre Lippen.
Heldenhafte
Persönlichkeiten? Wir nicht. Vorteilshafte Kriegsführung? Können
wir nicht. Wir sind trotzdem in jeder Hinsicht im Aufstieg begriffen,
aber wir begreifen unsren Aufstieg noch gar nicht richtig. Wir wollen
das Dings nur, um uns drüber hinauszuschwingen, das haben wir immer
geglaubt. Wir wollen es aber, weil wir zum Sterben zu schön sind.
Also los. Verabschiedung von der vordinglichen Zeit. Fingerzeig mit dem
Ding dem Ding dem Dingsbums. Ein Flic-Flac über den Zaun, rauf auf
die Wand, im Fallen dann, wie üblich, alles was der Fall ist, für
niemanden sonst ein Fall, außer für die Psychiatrie, so einfach
geht das. Das Ding, das wir so lang suchten, ist doch längst überflüssig
geworden wie die Erkenntnis an sich schon längst überflüssig
geworden ist, bevor sie stattgefunden hat. Im Schreiben haben wir Urteile
gefällt, ein Wahnsinn, ein Gericht, eine Befestigtheit von uns selbst,
aber bumm, da sind wir schon von unsrer Wand gefallen. Ehe wir oben waren.
Ehe wir noch eine Ehe oder die Tür schließen konnten. Auch
sonst haben wir nichts abgeschlossen. Weil wir nichts angefangen haben.
Die Haustür haben wir glatt vergessen. Grad hat uns noch wer hingehängt
und jetzt sind wir schon wieder unten. Die Wand ist schon ganz zersplittert
unter unsren Versuchen, unser Bild dort hinzuhängen.
Diese Wand ist meine! Mach dich wo anders wichtig! Jetzt spreche ich,
und ich sage in kleinen blutigen Fetzen: Egal, wie ich mein Schreiben
auch auf meinen Erkenntnissen aufzubauen versuche und auf welche Gegenstände,
siehe Wand, ich mich beziehe, alles, worauf ich mich beziehen kann, ist
doch das, was ich sehe. Leider habe ich noch nicht viel zu sehen gekriegt.
Ich möchte fort und endlich etwas andres sehen. Ich möchte reisen,
fremde Länder und Menschen kennenlernen.
Hör mal, da hat sich eine andre Frau als wir doch glatt eine Wand
einfallen lassen, die vollkommen unsichtbar sein soll! Da hättest
du doch endlich deinen Grund, nicht verreisen zu müssen. Du dürftest
dableiben, weil du gar nicht weg könntest. Müßtest nicht
hinaus ins Leben!
Blödsinn. Die Anschauung kann doch nur stattfinden, sobald uns ein
Gegenstand dafür gegeben ist. Und zwar nicht immer derselbe! Beziehungsweise
wenn ich den Gegenstand, die Wand, so beschreiben kann, als wäre
er vorhanden und als Gerät bereitgestellt, daß man sich ein
bissel Denken abzwacken kann, als Zweck, nein, als Reißzwecke, nein,
zum Einwecken. Da können wir uns selber einwecken gehen.
Du meinst wahrscheinlich aufwecken? Nein. Aufwecken zwecklos. Wozu auch.
Wofür.
Mit einer Reißzwecke das Eingeweckte aufwecken würde irgendeinem
neuen jungen Dichter dazu jetzt einfallen, aber er hat uns Älteren
nichts zu sagen. Ja, also da vertraut man sich einer Wand an und dann
ist sie der Riß an sich und verschluckt sich selber und wenn man
sich ranhängt, ist da keiner, der einen reinhängt, ich meine
hinhängt oder hängen läßt oder aufhängt oder
was weiß ich. Wahrscheinlich nur eine Unachtsamkeit der Wand. Nichts
weiter. Wir kommen ja auch nicht weiter.
Eine Wand mit einem Riß kann ich mir noch eher vorstellen, meinetwegen
einen, in dem du verschwindest, aber eine unsichtbare Wand, daß
man im Leben nicht weiterkommt als wenn man wegfährt aus dem Leben,
das kann ich mir nicht so gut vorstellen. Warst du es nicht, die gesagt
hat, daß du einmal in einem dieser Risse verschwunden seist? Da
hast du gelogen. Die Wand ist noch da, und du bist auch noch da. Paß
auf, also jetzt versuchst du, gegen die Wand zu rennen, bis dein Schädel
aufgeschmissen ist. Du stirbst in der Wüste, du verreckst im Sand,
der aus der unsichtbaren Wand in Jahrtausenden abgebröckelt und zu
griffigem Mehl errodiert ist. Backe backe Kuchen. Aber die Wand ist immer
noch kein anschaulich Gegebenes, sie ist und bleibt unsichtbar. Du kapitulierst
und bist selber weg. Du hast sogar mit deinem Verschwinden noch eine neue
Grundstellung bezogen, und zwar eine Grundstellung zu allem, was ist,
darunter tust dus ja nicht. Weniger genügt dir nicht, auch wenn weniger
mehr wäre, genügte es dir nicht. Die Grundstellung ist die einzige
Position, die du einnehmen kannst. Sie besteht in einer nach innen verlegten
Innerlichkeit. Sieht man genauso wenig wie die Wand, wenn du mich fragst.
Wichtig wäre noch gewesen zu erwähnen, es handle sich um eine
menschliche Erkenntnis. Aber das ginge nicht, wenn der Gegenstand der
Erkenntnis ein andrer Mensch wäre. So aber ist er eine Wand. Daneben
dein eingeschlagener Kopf, wer hat denn den dahin gelegt, du bist doch
keine gefallene Heldin! Es gibt soviel zu erkennen, und du willst nur
immer diese Wand erkennen, und du willst sie nur erkennen, um dich selber
dort hinzuschaffen. Man klimmt irgendwo empor, und dann dein grinsender
abgeschlagener Kopf, eventuell mit Knoblauch im Mund, das ist es, was
einen erwartet. Oder ein leerer Einkaufszettel. Mit Posten drauf, die
unverrückbar da stehen, bis das Papier unter Hundescheisse, Hühnerknochen
und Apfelbutzen zusammengebrochen ist. Danach mußt du selbst Wache
halten. Ob sie nun unsichtbar ist oder nicht, die Wand, in jedem Fall
bist du immer zu dicht davor und siehst gar nichts. Und glaubst, nur weil
du sie nicht siehst, wäre sie unsichtbar. Und verdrückst dich
still. Geblendet von deinem Leid. Aber wenn man verschwindet, ist man
natürlich ganz besonders sichtbar, das weißt du. Schon deswegen,
weil sowas noch nie passiert ist und jetzt natürlich in allen Zeitungen
steht. Ich denke, es ist überhaupt nur die Widerspruchslosigkeit
dieser Wand, die dich dazu gereizt hat, dich ausgerechnet dort, wo nichts
ist, hineinzustopfen. Und dann wirds plötzlich eng. Sogar diese Wand
soll dich lieben! Damit du seist! Du bist unersättlich. Es geschieht
dir recht, daß du von ihr gefressen wurdest. Wie kann man etwas
erkennen, wenn da nur Wand ist? Ich sehe schon wie. Indem du dich in die
Wand hineinzwängst und dann gleich selber zur Wand wirst. Du mußt
unbedingt dort rein, wohin du nicht gehörst, nur weil dort noch kein
andrer war. Was gefällt dir daran so? Ich höre, wie sie an dir
zu schlucken hat. Das kann doch nicht angenehm sein. Ich höre, wie
sie Stücke von dir abreißt, mit ihren Zähnen an dir nagt,
die Wand der Erkenntnis. Das ist ja so gemein von ihr. Laß mich
mal ran! Ich kann es gar nicht erwarten, daß mir ein Urteil gesprochen
wird! Du erträgst sowas ja nicht.
Halthalt! Moment mal! Als ich wieder einmal eines Tages vor mir flüchtete,
bis dahin war da immer Wald gewesen, aber diesmal eben nicht. Deshalb
das Beispiel mit der Wand. Ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ich glaubte, wie immer Bäume zu sehen, aber da war plötzlich
diese Wand, durchsichtig. Nur Frauen beschreiben sowas. Die haben doch
auch solche Angst vor dem Atom. Männer würden sich nicht aufhalten
mit etwas, das man nicht sieht. Es geht doch immer um uns, aber wir sind
es gar nicht! Sie würden die Tragweite von etwas vorher ausrechnen,
ihr Fazit: das trägt nicht sehr weit! Der Radius ist doch sehr eingeschränkt,
obwohl sich unsere Erkenntnis ausdrücklich auf das sogenannte Objekt
bezieht. Aber wie was erkennen, wenn das Objekt durchsichtig, aber angeblich
trotzdem da ist.
Ich bitte dich, gutgeputzte Fenster sind schließlich immer klar
wie unsichtbar. Das ist doch viel besser als klar wie die Nudelsuppe,
auf der wir jeden Tag unter dem Tosen und Brausen der Maggi-Gischt dahergeschwommen
kommen! Ertrinken kann man in der nicht. Unser Schicksal liegt in einem
Löffel, wenn es dem Mann nicht schmeckt. Da kennen wir uns doch aus,
erinnere dich! Erinnere dich, daß es wenigstens uns Menschen klar
sein muß, daß etwas unsichtbar sein kann.
Denken heißt, einen Gegenstand erkennen. Nein, heißt es nicht.
Der Gegenstand, seine Anschauung kommt noch, bevor wir unsere Anschauungen
vor anderen ausbreiten können. Aber wenn man eine durchsichtige Mauer
schafft, dann aus durchsichtigen Motiven: Damit man nicht warten muß
und seine Anschauung gleich ausbreiten kann, denn man sieht ja eh nichts.
Man kommt nicht drüber hinweg, egal über was, und egal, welcher
Bock da steht. Sie stellen sich sowas vor. Man sieht es nicht, aber man
kommt nicht drüber hinweg und es bereitet einem entsetzliche Qualen,
das ist sehr wichtig. Daß es eine Qual gibt, ist das wichtigste
überhaupt. Manche Helden sind in ihrem Privatleben sehr nette Menschen.
Warum die sich quälen - keine Ahnung. Die Liebe tönt und tröstet,
falls sie erwidert wird, ansonsten nur: Grund zu neuer Unruhe und Schwierigkeit
beim Schreiben, dann wird die Liebe wortreich bestritten, von irgendwas
muß man ja seinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn es sonst keine
Unterhaltung gibt. Bestritten, notfalls sogar von einer Wand, von der
einem nichts zurückkommt. Vor allem, wenn sie durchsichtig ist. Wie
soll man da mit seinem Wesensbestimmungsmeter der menschlichen Erkenntnisse
ermessen, ob der Mann menschlich ist, nein, ob die Frau menschlich ist,
nein, doch eher der Mann. Nein. Doch nicht. Der Mann ist einfach unmenschlich.
Die Frau dagegen ist menschlich. Sie ist das einzig Menschliche. Die Wand
ist eine mögliche Anschauung, das heißt, sie wäre es,
wenn man sie anschauen könnte. Sie ist jedoch durchsichtig. Kein
Echo, kein garnichts. Die Frau ist drinnen, alles andre bleibt draußen.
So stellen sich das die Schreibenden vor, die Erkenntnis suchen, ihre
Denkfähigkeit im Computertomographen überprüfen, sich glauben
machen dürfen, daß es sie gibt, was sehe ich hier auf dem bildgebenden
Verfahrenswerfer? Eine Wand. Von der ist das Bild jetzt abgeprallt. Schade.
Eine Wand ohne eigene Erkenntnis, ohne Gestalt, ohne Form, aber die Erkenntnisse
sollen ja wir haben. Das Blöde dabei ist, daß du nicht einmal
die Wand erkannt hast.
Wie soll ich denn! Wenn ich sie nicht sehen kann! Du vergißt, daß
mir das nicht eingefallen ist, mir ist diese andre Wand dort drüben
eingefallen, die mit dem Sprung in der Schüssel, nein, die mit der
Schüssel vor dem Sprung, den ich als einzige wage, nein, die mit
der Schüssel, die ich vor den Sprung gestellt habe, damit man nicht
sieht wie ich abhebe, nein, damit man den Sprung selber nicht sieht. Damit
man nicht mehr weiß, von wo man abgesprungen ist. Ich will ehrlich
sein. Ich will aber auch: erheblich sein! Wichtig! Und da ist die Wand
durchsichtig. Sie ist nicht einmal ein Bruchstück, das ginge ja noch,
sie ist Das üble Subjekt unserer Anschauung, sie ist das übliche
Subjekt unserer Anschauung. Wie unterscheiden sich aber Anschauen und
Denken? Gar nicht, wenn man nichts sieht. Heißt das, daß die
Frau ganz besonders nichts sieht? Wahrscheinlich. Sie hat ja diese Wand
geputzt, so lang, bis man sie nicht mehr gesehen hat. Tuklar und scheue
niemand. Auch Ata, Vim und Zisch, ich meine Cif nicht.
Aber drüber schreiben, das können wir allemal. Wir müssen
nichts wissen. Wir müssen nichts erfahren. Aber schreiben, das können
wir. Wir beleuchten die neue Erkenntnis mit der neuen Lampe, die wir uns
gekauft haben, schaut teurer aus als sie war, diese Erkenntnis. Die Lampe
auch. Wie sollen unsre Urteile widerspruchsfrei sein und unsere Erkenntnisse
nicht, nein, umgekehrt, nein, doch so, also wie kommen wir zu einem widerspruchsfreien
Urteil, damit wir eine ordentliche Erkenntnis erzielen, wenn wir gar nichts
erkennen können als diese Wand?
Also bitte, klau mir nicht meine Wand, ich hab sie zuerst gehabt! Ich
hab sie zuerst nicht gesehen! Und jetzt putz ich schon über eine
Stunde an ihr herum, und jetzt merke ich erst, daß sie ein Spiegel
ist. Hätte ich die Gebrauchsanweisung auf der Sprühflasche vorher
gelesen, hätte ich ja gemerkt, daß dieser Spray nur für
Glas und Spiegel ist. Für eine Wand muß man ganz was andres
nehmen. Aber wenn es ein Spiegel wäre, würde ich mich ja sehen
können. Im Glas nur, wenn ich das Dunkle dahinter wäre, beziehungsweise
wenn was andres Dunkles dahinter wäre. Es ist aber nichts dahinter.
Kein Problem. Jetzt hat der Vampir so lang geglaubt, er hätte kein
Spiegelbild, und dabei war da bloß kein Spiegel! Es war vielleicht
die bloße gekachelte Küchenwand. Wenn man sich in etwas nicht
anschauen kann, was trotzdem kein Spiegel ist, dann heißt das noch
lang nicht, daß man denkt. Leider. Man kann etwas anschauen, man
kann auch denken, von mir aus gesehen links, im Spiegel aber verkehrt,
daher in Wirklichkeit rechts, na ja, ob es wohl eine Tafel ist, zum Schreiben
und so, was du für eine Wand gehalten hast? Die Beleuchtung färbt
drauf ab, nein, das war ich, und mir ist noch kein Licht aufgegangen.
Also das, was ich da putze, ist nach wie vor durchsichtig oder es ist
gar nicht vorhanden.
Jemand Intelligenterer als jemand, der eine Frau ist, hätte das inzwischen
gemerkt.
Nein, es ist meine, die Wand, aber egal, was ich meine, ich bin ja schon
in ihr verschwunden. Ich sehe es also sozusagen, nein so, ohne zu sagen,
von innen. Da sieht man klarer. Die Frau hat so lang geputzt, bis ihr
Objekt verschwunden war. Kann man das von uns sagen? Die Frau hat das
Gegebene geputzt und dann ist es ihr weggenommen worden. Es war ihr leider
nicht gegeben. Das war eine Erfahrung, kann ich dir sagen, als ich das
rausgekriegt hatte! Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den
andern kalt, wer hat die Kokosnuß, wer hat die Kokosnuß, wer
hat die Kokosnuß geklaut?
Du machst das alles doch nur, um deine Bestimmung als schreibende Frau
über die der andren bestimmten Frauen herauszuheben. Am liebsten
überhebst du dich an den ausschließlich zur Schönheit
bestimmten Frauen. Da bist du natürlich ausgeschlossen. Ausgeschlossen,
daß du zu denen gehörst. Das sind wir doch alle, zur Schönheit
bestimmt, aber nicht jede folgt ihrer Bestimmung. Egal. Du setzt dich
über alle. Du setzt deinen Selbstprüfer an, der Griff leuchtet
rot auf, Strom drin, alles klar, und jetzt bestimmst du die Menge deines
Selbstprüfungsvermögens und du prüfst und prüfst dich
selbst. Dann wird ein Trafo eingeschaltet, und aus dem Selbstprüfungsverfahren
wird, einfältig wie du bist, es wird, ach, egal, Erkenntnis? Nein.
Urteil. Bereits Urteil. Es wird zwar gesagt, die Urteile sollen sich nicht
widersprechen, erst dann kommt die Erkenntnis. Hier steht die Erkenntnis,
welche der fünfzig Topmodels die schönsten sind und in welcher
Reihenfolge. Aber du läßt den Urteilen ja gar keine Zeit, sich
zu widersprechen. Du sprichst die Urteile, immer voreilig, aber nie eilig.
Sie sind nicht Bedingung, sie sind das, was gesprochen ist und damit ihr
eigenes Ende. Diese Urteile sprechen sich selbst, indem gerade du sie
sprichst. Ich meine, indem du sie gerade sprichst. Aber wenn du sie sprichst,
sind sie schon keine Urteile mehr. Meine fallen mir auch immer erst nachher
ein. Ach, ich weiß nicht. Was soll ich dir sagen: Wenn du das Wesen
deiner Erkenntnis, daß du in einer Wand verschwinden kannst, absolut
nimmst, dann ist es sachgemäß, daß dieser Widerspruch,
du verstehst, Wand, Verschwinden, Wand, Verschwinden, Paradox, also daß
dieser Widerspruch die eigentliche Erkenntnis wird. Sonst hättest
du dir schon lange die Stirn an der Wand eingeschlagen. Auch das hast
du schon gemacht, ich weiß, ich weiß. Du siehst eh irgendwie
eingedepscht aus. Jedoch du bist ganz anders schön als ich, aber
du bist in gewisser Weise auch schön. Natürlich bin ich die
Schönste. Da brauch ich keine Stiefmutter und keinen Spiegel, um
das zu wissen.
Was, ich bin nicht schön?
Doch, du bist auch schön, aber nur als ich. Ich bin schön wie
man sein muß. Du bist nicht so schön wie du zu sein glaubst.
Auch eine Erkenntnis, die sich aber auf kein Objekt beziehen kann, denn
du bist ja gar nicht da. Du bist in der Wand und aus. Oder davor und tot.
Wie dieser Bruder von diesem weltberühmten Bergsteiger. Oder darunter
und grade noch davongekommen. Aber keine Heldin, wie gesagt. Du wirst
uns das sicher so ausführlich wie möglich darstellen.
Doch, du bist auch schön, aber nur als ich. Du bist anders, aber
wie ich. Ich meine was die Bewegung deines Körpers gegen diese Wand
betrifft. Aber wenn wir erst auf die Wand hinaufgehen, warte ab, bis dein
Körper sich nicht mehr gleichförmig in der Ebene bewegt. Dann
wirst du die Wand rasch vergessen haben, wenn du in ihr hängst. Du
wirst dir noch wünschen, den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen
zu haben. Denn das, was du dann nicht sehen wirst, wird kein Wald sein
und du wirst dir trotzdem die Fresse dran einschlagen. Mitsamt dem neuen
Lippenstift drin. Der pickt dann in der Mauer und faßt das Gegebene
auf, nein, das Gegebene faßt den Lippenstift auf, er heißt
Terracotta aus der matten Serie von Clinique, ich meine aus der Serie
matt von Clinique.
Geh mir endlich aus der Sonne! Merkst du nicht, daß schon ich dort
liege? Bin ich etwa durchsichtig? Da lieg ich doch, siehst du das denn
nicht, da lieg ich ausgestreckt auf dem Felsen, spanne und entspanne meinen
Körper auf dem Altar und spüre, wie die Sonne mich wundervoll
schändet, ich mit der Glut des unpersönlichen und riesenhaften
Gottes der Natur erfüllt.
Nicht alles, worauf du stehst, ich meine liegst, ist gleich ein Altar!
Wenn du jetzt auch noch behaupten willst, daß der Leib deines Geliebten
warm und pervers unter dir liegt und das Gefühl seines gemeißelten
Körpers unvergleichlich sein soll, nicht weich, nicht nachgiebig,
nicht feucht von Schweiß, sondern trocken, hart, glatt, sauber und
rein, wenn du das noch ein einziges Mal sagst, dann geh ich. Dann geh
ich sofort! So! Ich warne dich: den Apoll nehme ich mit! Und dann bist
du das Trockene, das Harte, das Glatte, Saubere und Reine ein für
allemal los. Und dann kannst du auch keinen Blödsinn mehr drüber
schreiben. Ach nein, Entschuldigung, der Apoll ist ja gar nicht mehr da.
Wenn er je da gewesen wäre, wäre er längst gegangen. Kein
Wunder. Wäre der auch noch da, dann wären wir überfüllt,
wir würden aus der Wand herausplatzen, wir können ja nicht einfach
schweigen, und auch die Wand hätte jeden Grund, durchsichtig zu sein.
Sie würde dazu dienen, den Sonnengott mit seinem neuen Porsche durchzulassen.
Entschuldige.
Aber die Sonne bin natürlich ich selbst. Das was du siehst, ist nicht
jemand andrer als ich. Du siehst mich! Und wenn du selber platzt: du siehst
mich auf meinem Altar! Aber du hast es ja vorgezogen, lieber eine unsichtbare
Wand zu sehen. Und das soll sich lohnen? Na dankeschön. Du hast dir
das etwas zu allgemein vorgestellt, aber du hast es nicht begriffen. Und
du hast es nicht auf den Begriff bringen können und du hast den Begriff
nicht auf den Punkt bringen können und jetzt ist der Punkt zu einer
Wand vor deinem Kopf geworden, und nicht einmal die kannst du sehen! Das
kommt davon, wenn man zu Männern, die doch auch uns zugehören,
immer so gemein ist. Da liegen sie wie die üblichen Begriffe vor
dir, du brauchst nur zuzugreifen, aber du tust es nicht, du willst dir
lieber selber einen Begriff von etwas anderem machen. Na, viel Spaß!
Der Begriff wäre vielleicht noch ein Gegenstand gewesen, der Mann
wäre ein Gegenstand für einen Roman oder ein Hörspiel gewesen,
die Wand wärs vielleicht auch noch gewesen, aber durch deinen Putzspray
hindurch- und auf deinen Haarspray herabgesehen, na, immerhin kann man
aufgrund des Sprays überhaupt hindurchsehen bis auf den Grund, also
dadurch gesehen ist weder das Empfundene, noch das Wahrgenommene ein Gegenstand
im strengen Sinn. Sowenig wie die Sonne. Du kannst nicht schreiben, weil
du das Genannte und das Gemeinte nicht als Gegenstand von Erkenntnis beschreiben
kannst. Aber du benennst es ja schon falsch und meinst es schon falsch.
Es stimmt einfach nichts bei dir. Du zeigst auf den Mann, um ihn zu vernichten,
und dann merkst du erst: Er steht hinter der durchsichtigen Mauer, die
du stundenlang so schön geputzt hast, nur damit du ihn zum Greifen
nah siehst, den Mann, deinen lieben Papi, aber du kannst ihn nicht fassen.
Er ist nicht zu fassen. Jedenfalls für dich nicht. Es ist nicht zu
fassen.
2.
Akt und Ende
(Die beiden Frauen wringen gemeinsam den Kadaver des toten Widders
über einem Zuber aus, das Blut tropft hinein, sehr hübsche hausfrauliche
Tätigkeit. Inzwischen haben sie sich umgezogen und achten offenkundig
darauf, daß nicht noch mehr Blut auf ihre Kleidung tropft. Nur im
Gesicht sind sie noch verschmiert.)
(Sie
ächzen ein wenig vor Anstrengung, arbeiten aber sicher, mit kundigen
Griffen, sie wissen was sie tun. Sie kennen sich aus.)
1)
Ich entscheide mich für eine körperliche Beziehung, mit Geschlechtsvekehr,
als animalischen und befreienden Teil des Lebens.
2)
Ich kann mich nicht promiskuitiv befriedigen und gleichzeitig Respekt
und Unterstützung der Gesellschaft (diesem Plagegeist) behalten -
da ich eine Frau bin: ergo: die eine Wurzel des Neides auf die Freiheit
der Männer.
3)
Da ich nun mal Frau bin, muß ich klug sein und soviel Sicherheit
wie möglich für die unerträglichen Jahre des Alters ergattern,
wenn ich - mit hoher Wahrscheinlichkeit - keinen neuen Partner mehr erobern
kann. Also steht fest: Ich werde alles dafür tun, daß ich auf
dem üblichen Weg zu einem Partner komme: sprich, heiraten. Das schafft
unzählige Probleme. Da ich so erwachsen bin, daß ich mich fürs
Heiraten entschieden habe, muß ich jetzt sehr vorsichtig sein. Ich
muß die schon erwähnten Schwächen - Selbstliebe, Eifersucht
und Stolz - so intelligent wie möglich bekämpfen. Nein, mich
selbst betrügen, das kann ich nicht!
Läßt
sich durch eine solche Frage nicht beantworten. Läßt sich durch
eine solche Antwort nicht befragen. Die Helden sind alle tot. Der Rest
leckt sich gegenseitig. Was bleibt ihnen auch übrig. Geben wir ihnen
was zu tun, indem wir ihnen zum Beispiel was zu essen geben! Stecken wir
ihnen mal was andres in den Mund als ihre Schwänze! Ist das nicht
eine Idee? Das steigert die Bekömmlichkeit des Totenreichs, und das
kommt dann uns allen zugute, und wir wollen es uns und ihnen doch angenehm
machen, oder? Im Reich der Schatten, die sie sind. Übermächtige
Schatten, aus denen sie sich zwar, auf den Bock gestützt und die
Keulen geschwungen, selbst hinausheben, aber dieser Schauerbock ist ja
tot! Sie merken das erst, wenn sie schon mit gespreizten Beinen in der
Luft über ihm hängen. Das Bockspringen ist dann ziemlich rasch
beendet. Die Frau kann sich auf nichts mehr stützen. Die Helden dürfen
sich endlich selbst hinauswerfen aus ihrem da aufgepflanzten Gerät,
aber nur wenn sie zuvor von unserer Kraftsuppe gegessen haben, die gute
Suppe, hmm hmm, tönt unter dem aufgerichteten, knatternden Gaumensegel
wie Liebe, diese Suppe. So. Jetzt haben sie Blut geleckt! Ihr lieben Toten,
kommt herbei. Also diese Suppe kann Tote aufwecken, glaub ich, das müssen
wir jetzt nur noch ausprobieren. (ruft) Therese! Marlen! Du Frau, ich
weiß jetzt nicht, bist du Therese oder wer, egal wie sie heißt,
also ich meine die Blinde, die soll kommen! Die Fußlahmen warten
derweil, aber nicht mehr lange. Sogar die brennen darauf loszurennen.
Zuerst kommt aber Therese dran, die muß uns einfach die Wahrheit
sagen, damit wir sie unter abgewandelten Bedingungen überprüfen
können, ob sie es auch wirklich ist. Damit wir die dann auch noch
absiedeln können, diese Flüchtlinge, die armen Lebenslügen,
bittesehr, da rennen sie schon. Also die müssen wir erst einmal untersuchen,
die Wahrheit. So sind wir halt. Falsche Ärztinnen. Verfahrene Naturheilerinnen.
Verfahren anwendend, die sich gründlich verfahren haben, bevor sie
noch aufbrechen konnten. Und wenn wir schon keine Erkenntnisse gewinnen
können, weil wir auch keine Erfahrungen machen können und weil
wir nur selten Physik studieren können und weil wir nur selten Mathematik
studieren können und weil wir so selten die Wissenschaft verstehen
können, also bleibt uns nur die allgemein menschliche Erkenntnis.
Und die Natur. Für diese beiden sind wir Spezialistinnen (wringt
energisch den Widderkörper).
(Das Blut fließt in das Schaff)
Ich ermahne die Schatten jetzt zur Wirklichkeit. Zu Tisch bitte! Niederknien
und Tischgebet, dann fressen. Blut saufen. Blut auch in Binden und Tampons
rinnen lassen, wenn nötig mitten in einer bedeutungsvollen Äußerung.
Das lenkt die Köpfe fein ab, wie eine Fliege am Fenster. Die Äußerung
wird dann zur Entäußerung bei der Frau mit ihren süßen
Sorgen. Da eilen sie schon herbei, die toten Heldinnen, nur sehe ich sie
derzeit noch nicht. Sie haben das alles ausgelöst, und jetzt sieht
man sie nicht einmal. Wofür die ganze Mühe? Seit Stunden stehn
wir am Herd, aber erst, wenn wir abgeräumt haben werden, werden sie
sich zögernd setzen, von ihrem zusammengebrochenen hohen Roß,
Grane oder wie es halt heißt, Iltschi, nein, das nicht, das ist
das falsche, hinunterschauend in ein Tal der unvorstellbaren Ödnis,
wo sich die Schatten hoch aufrichten und wichtigmachen, damit man ihr
Geschlecht sofort sieht, die Schatten, die sie selber sind und die sie
selber sich auch noch im Fernsehn anschauen dürfen. Als wären
sie nicht einmal schon zuviel. Als wären sie nicht schon längst
viel zuviele. Der Bildschirm wirft sie sich selbst zurück, ein ewiges
Ping Pong der verlorengegangenen Bälle. Daher das Wort Bildwerfer,
das wir bereits verwendet haben, bevor es sowas gab, nur ähneln sie
ihren Bildern nicht, wenn sie endlich wieder zurückkommen. Sie sind
es und sind es auch wieder nicht. Wenn der Gegenstand, der in diese Existenz
geworfen wurde, dann endlich zum Stand gebracht ist, weil die Hand erlahmte,
nennt man ihn Verstand. Nur weil sie sich aufbäumen, diese Schatten,
sind sie noch lang nicht groß. Das heißt nur, daß die
Sonne in der falschen Position ist. Sie hat uns nichts zu befehlen. Die
Toten kommen jetzt. Aus dem Dunkel. Dem Reich der Schatten. Wir haben
sie losgeschickt, und tot kommen sie wieder zu uns zurück. Sauerei
das alles. Da steht man stundenlang in der Küche und dann das. Dieses
Geschrei, hörst du es? Sie wollen alle noch vor Therese fressen,
aber sie wollen nicht von Therese fressen, und sie trauen sich vor ihr
nicht mal zum Tisch rüber. Wer weiß, was Therese zu ihnen sagen
wird, und sie wird es sagen, noch bevor es geschehen ist, denn sonst wäre
sie ihr Honorar in Blut nicht wert. Wahrscheinlich haben sie Angst, daß
sie beim Auf- oder Abdecken helfen müssen. Aber dafür haben
wir schließlich einen eigenen Abdecker. Wird schon noch kommen.
Der hat einen Kleinlaster und nimmt sie alle mit, wenn er mit ihnen fertig
ist.
Also noch immer niemand da. Ob etwa wir die Schatten sind? Ob wir sie
selber sind, die da kommen sollen? Unser Opfertier scheint uns noch immer
anzuglotzen wie die eingeworfenen Fensterscheiben eines Hauses, in dem
längst keiner mehr wohnt. Bleibt nur die Wand für uns? Die Wand
war unser Schicksal. Kain war das Schicksal von einem anderen. Siehst
du Therese schon?
Nein. Ich stelle mir vor, wie sie sich grade über unseren Kessel
Buntes beugt und ein paar übriggebliebene Fleischfasern heraussucht
und gleich aus dem Topf frißt. Du kennst sie ja. Die stochert immer
so lang im Essen, bis sie die besten Bissen heraus hat. Sonst kriegt sie
nicht heraus, was geschehen wird. Den Rest läßt sie stehen.
So ist das mit den Seherinnen. Machen mit der Wahrheit ein Luftgeschäft
und ihre Aktien steigen trotzdem. Sehen immer nur was sie wollen. Und
wenn sie mal was Schreckliches sehen, dann bezieht es sich entweder auf
Tiere, die dem Sonnengott gehören, der auch wieder mal nicht in der
Position ist, auf die Erde zu kommen und endlich in der Landwirtschaft
mitzuarbeiten, oder es bezieht sich auf irgendwelche andren Frauen, nie
auf uns, es bezieht sich, wir kennen das doch schon, auf Frauen, die von
Freiern belagert werden und daher, um sich den Männer zu entziehen,
in eine Coverstory oder wenigstens aufs Cover kommen. Dort kann jeder
sie angreifen, aber sie spüren es nicht. O ja. Auch Frauen sterben!
Nur halt später. Ihre Bilder können sich länger halten
als sie selbst.
Weißt du, Blinde haben vielleicht nicht die Wahl, was sie sehen
wollen und was nicht.
Ich glaube, ich habe vorhin meine Mutter gesehen, wie sie versucht hat,
sich noch vor Therese an den Bottich zu schleichen und alles hinunter
zu schlingen. Damit Therese nichts und nichts andres übrig bleibt.
Wahrscheinlich wollte Mami wenigstens einmal was essen, was sie nicht
gekocht hat. Aber wenn man etwas von ihr zurückweist, ist sie gleich
beleidigt. Mutti! Ich habe gesagt, zuerst Therese, aber noch an der Haustür
hat meine Mutter mir verboten, jemanden zum Essen einzuladen. Nicht einmal
jemanden, der schon tot ist, geschweige denn jemanden, der noch lebt,
der wäre eine unerträgliche Konkurrenz für sie. Aber jedes
selbstreinigende Backrohr wäre das ja schon, eine Konkurrenz! Mami
meint, die Toten können sich nicht benehmen, sie sind kein Umgang
für mich. Entweder sie verdrücken zuviel auf einmal und kotzen
uns alles voll oder sie sind mäkelig, weil sie das Essen vielleicht
noch dafür brauchen können, ihrerseits von ihm verschlungen
zu werden. Und da kommt nun das Vieh ins Spiel. Achill oder wer andrer,
den, glaub ich, die Christa kennt. Sie wollte mir seine Telefonnummer
geben und seine e-mail-Adresse. Er darf natürlich morgen zu mir kommen
und mit ihm ein Dutzend anderer. Wenn ich ihn bis dahin erreiche. Je mehr
desto lieber.
Von der Suppe verschlungen! Aber geh, Sylvia!
Nein,
ich habe schon recht, glaub mir. Die Schatten haben vorhin behauptet,
sie hätten die ganze Nacht ihre Tür offengelassen, aber der
Bote mit dem Essen hätte mit seiner Herde, aus der wir uns was hätten
aussuchen dürfen, an der falschen geklingelt. Im Nebenhaus. Jetzt
wollen einmal wir liefern, aber keiner holt unser schönes Essen ab.
Dieses Vieh darf nicht abgeführt werden. Dieses Vieh muß noch
viele andre töten und verputzen und dann die Mauer neu weisseln und
Bilder über die Schatten hängen, damit man nichts mehr sieht.
(Sie
füllen das Blut, nachdem sie den ausgedrückten Kadaver achtlos
weggeworfen haben, in Tupperware-Geschirre, die sie in je einen Rucksack
stapeln, am Schluß nehmen sie den Rucksack auf den Rücken und
klettern die Wand hoch.)
Wenn
ich zur Sonne sage grüß Gott, dann sagt die nichts zu mir,
der Helios ist sich zu fein zum Grüßen, aber ich greife den
Stein an, der ist so warm, also muß die Sonne, die ich nicht erkennen
kann, ja da sein, wer sollte sonst einen Stein erwärmen? Ich wiederhole
die Beobachtung bei trübem Wetter: der Stein bleibt kalt. Ich drehe
an einem Schalter, stelle die Suppe auf und die Sonne erwärmt sie
mir schön. Ich drehe an einem Schalter nicht, stelle die Suppe auf
und die Sonne läßt die Suppe völlig kalt. Ich habe urteilsmäßig
bestimmt, daß Gegebenes veränderbar ist, und zwar unter verschiedenen
Bedingungen, in die ich das Gegebene bringe. Es ist doch so: die Sonne
scheint und erwärmt die Suppe, wenn ich an diesem Schalter drehe...Drehe
ich nicht, erscheint keine Sonne und die Bäume können sich gegenseitig
blöd anschauen, weil auch sie auf die Sonne gewartet haben. Ich habe
verhindert, daß sie kommt. Kann aber auch sein, der Helios steht
einfach nicht auf uns.
Bei deinem Gerede bäumen sich ja sogar die Schatten auf! Wie Flieger
aus Seidenpapier, die ins Gerede gekommen sind und jetzt müßig,
nachdem das Mikro abgeschaltet wurde, in der aufkommenden Brise herumzittern.
Raschelnd wie abgestorbene Insektenflügel wehen ihre Mäntel
nach dem Wind. Aber einen Wind schafft heute sogar schon der Song Contest.
So. Wo ist jetzt dieser Schalter für den Wind? Um den Schalter für
den Wind zu betätigen, muß ich vorher die Suppe aus der Sonne
nehmen. Ich habe nur eine einzige Platte, aber die lasse ich immer und
immer wieder ablaufen. Sie glüht schon, aber es wird mir nicht langweilig
dabei. Genau zu diesem Zweck habe ich schließlich geheiratet. Es
ist jetzt viel später. Nun habe ich diesen schönen Gasofen und
kann in Ruhe meinen Kopf hineinstecken, bis er gar wird. Nicht vergessen:
vorher die Küchenuhr einschalten! Meine Kinder können derweil
im Nebenzimmer in Ruhe vor sich hinbrutzeln, wir haben ja inzwischen den
neuen Herd mit mehr als eine Platte. Wir werden sogar vier Kochplatten
auf unsrem Herd haben, wenn wir den neuen gekauft haben, das haben wir
uns jahrelang vorgesagt! Die gehen alle auch noch drauf, die Kinder. Wie
heißt der Kollege, der seine Kinder danach auch noch gegessen hat?
Also sowas Grausames würde ich nie tun! Sowas Grausames will ich
mir nicht einmal vorstellen, obwohl das auch schon öfter gemacht
worden ist. Alles, was es gibt, ist schon ausprobiert worden. Und wenn
ich jetzt etwas andres ausprobiere, wird es morgen überall erhältlich
sein. Hallo! Da sind die Schatten ja schon.
Also die Schatten sind deshalb gekommen, weil du den Schalter nicht auf
die im Kochbuch angegebene Ziffer gestellt und die Sonne nicht eingeschaltet
hast.
Aber ich will ja, daß die Schatten kommen und uns sagen, was unsre
gefallenen Freundinnen machen!
Sie gefallen. Was sonst. Haben sie immer schon gemacht. Du mußt
übrigens den Schalter so stellen, daß die Suppe auf mittlerer
Stellung im Gleichgewicht bleibt, bei drei brennt sie leicht an. Und irgendwann
fährt die Sonne dann, schon aus Angst, sich zu verbrennen, sich in
wohliger Bewußtlosigkeit zu verlieren, die Stellung auch noch zu
verlieren und hinzuschmelzen, hallo, künftige Generationen!, hinzuschmelzen
wie Toast Hawaii, wenn den überhaupt noch jemand kennt, und sich
hinzugeben wie Britney Spears, wenn die überhaupt noch jemand kennt,
nein, die nicht, die als einzige nicht, und irgendwann fährt also
die Sonne wie ein Blitzlicht, nein, wie der Blitz selbst in die Suppe.
Elektrolyse. Aber es kommt was raus dabei! Dann kommt alles raus. Wasserstoff
und Sauerstoff. Unsichtbar wie das meiste. Thereses Spezialgebiet. Vielleicht
ist es aber endlich unser Schatten, der da rauskommt, weil wir hier sowas
Schönes gekocht haben, aber nein, er will nicht. Will nicht kommen.
Therese! (beide rufen: Therese! Marlen! Therese! Marlen!) Du mußt
uns sagen, mit wem es unsere toten Heldinnen derzeit treiben! Damit wir
es weitererzählen können. Vielleicht sogar in einer Zeitschrift,
wer weiß, vielleicht fragt uns die.
Die Therese kann dir sicher auch noch sagen, mit wem sie es treiben werden.
Kein Grund für Neid. Völlig überflüssig, was sein
wird, denn bis dahin wird es schon nicht mehr flüssig sein. Ich trete
in deine Überlegung hinein und kann sie daher als Überlegung
nicht mehr erkennen, sie ist jetzt überall um mich herum, und es
ist ganz unwichtig geworden, ob sie die Wahrheit in ihrem fließenden
Gebrauch ist, fröhlich über Kiesel hüpfend, dann wieder
ruhig dahingleitend, die Wahrheit, die uns Therese mitteilen soll, aber
die will unsre Suppe nicht. Die Sonne will die Suppe auch gar nicht erwärmen,
und das Offenbare geschieht: Masseschluß, aus dem die Masse, wie
immer, die falschen Schlüsse zieht, daß sie jetzt dran wäre.
Die Suppe stockt, ganz unwilkürlich verhält sie ihren Fuß,
verstaucht ihn sich gleich, weil sie der Vergegenständlichung dieser
gestockten Wahrheit nicht gewachsen ist. Eben noch ging sie ihr recht
flüssig von den Lippen, die Wahrheit, nun ist sie nur noch halb eingesülzter
Gatsch mit so Brocken drin. Hätte man länger rühren müssen,
wer soll denn das jetzt noch essen? Ich habe mich jetzt leider verloren,
dafür wird Therese kommen oder auch nicht. Sie sagt uns nicht, was
Sache ist. Aber sie wird es uns hoffentlich noch sagen. Uns fehlt jetzt
nur noch Therese, die uns voraussagen könnte, was sie sagen wird
und ob sie überhaupt etwas sagen wird.
Sie muß diese Suppe nur anschauen, um sie nicht essen zu wollen,
wenn du mich fragst. Mit einem Verstand, ich meine einer Verstauchung,
ich meine einer Vergegenständlichung wird diese Suppe niemals versachlicht
sein. Deshalb wird sie ja auch nicht warm, egal an welchem Schalter wir
drehen. Sie ist für die Aufnahme im menschlichen Körper überhaupt
nicht geeignet, wenn du mich fragst, und wir hätten uns nicht soviel
Mühe mit ihr geben sollen.
(Die
beiden Frauen klettern jetzt mit ihren Gefäßen voll Blut die
Wand hoch)
(Sie
rufen:) Papi! Papi!
(Sie
brüllen wahnsinnig laut:) Papi! Papi!
Dein Papi war ein Nazi und du sagst, er wäre Pazifist!
Dein
Papi war Pazifist und du behauptest, er wäre ein Nazi!
Dein
Papi war Pazifist und du behauptest, er wäre ein Jud!
Das mit der Suppe hat immer noch nicht geklappt. Die Suppe stand lang
auf der Kippe, und jetzt ist sie gekippt. Bitte um Entschuldigung. Du
hast mir erklärt warum, aber ich verstehe es immer noch nicht. Wir
sollen sie selbst auslöffeln, weil keine Kinder da sind und kein
Haus da ist und keine Herde mehr da ist und nichts mehr da ist, wovor
wir uns hüten könnten? Hast du das gemeint, meine rauschende
Freundin? Ich liege im Backofen, die Kinder liegen in ihren Pfannen, in
die ich sie reingehauen habe wie Spiegeleier. Also legen wir uns, es bleibt
uns ja nichts andres mehr übrig, die Vernunft aus, damit wir uns
wenigstens mit ihr noch auseinandersetzen können! Die ist das einzige,
das noch nicht irgendwo liegt und auf seinen Tod wartet.
Ich hab falsch gemessen, glaub ich, ich lege die Vernunft noch einmal
ordentlich aus, aber sie reicht einfach nicht für uns beide. Gut,
daß du im Backofen bist. Keine Platte, auf der ich mich präsentieren
könnte, mehr frei. Ich werde mich, glaub ich, selber anzünden
müssen. Eine Uralt-Methode. Aber bewährt.
Du hättest beim Messen den Schwund von vorneherein mitkalkulieren
müssen.
Dafür habe ich keine Urteilskraft.
Aber Urteile sprichst du andauernd.
Ja schon, aber sie sind merkwürdig kraftlos. Ist mir schon aufgefallen.
Also für einen Lebenden ist es, wie ich merke, nicht schwer, zu den
Schatten zu gelangen. Ich habe mir das schwieriger vorgestellt. Ein Herd.
Eine Zigarette. Ein Nylonnachthemd. Die bloße Haut. Man kann alles
nehmen und ein schmackhaftes Menu draus zubereiten, auch wenn es nicht
zusammenzupassen scheint. Die Schatten sind nicht zu uns gekommen, also
kommen wir zu ihnen. Damit sie wenigstens einmal wirklich Ursache zur
Klage haben. Nicht ihr Schicksal ist es, das sie beklagen, sondern daß
sie es von nun an mit uns teilen müssen. Dabei bringen wir ihnen
ihr Essen. Damit sie sich erinnern. Damit sie sich erinnern, daß
sie nicht allein sind.
Woran auch immer sie sich erinnern werden, nicht wir werden es sein. Wir
bringen immer nur das Essen, sogar dann noch, wenn wir selber das Essen
sind. Sie kommen nicht heim, also kommen wir zu ihnen und bringen es.
Das Blut. Den Schatten. Schwierig wird es erst, wenn wir als Lebende hin-
und wieder zurückkommen wollen. Dies ist ein One way-Ticket. Steht
eigens drauf, ich habs überprüft. Und beim Einchecken nochmal
überprüfen lassen. Das ist schon das schwierigste, lebend von
den Toten wiederzukommen. Nur damit einem gesagt wird: diesen Trolley
können Sie nicht in die Kabine mitnehmen! Sogar auferstehen ist noch
leichter, denn der Auferstandene ist ja nicht mehr unter den Lebenden,
er ist nicht ganz zurückgekommen, er ist in einem Zwischenbereich.
Damit niemand blöde Bemerkungen über ihn machen kann, weil keiner
ihn dort sieht. Dafür liest man eine Menge über ihn. Ganz im
Gegensatz zu uns, denn wir wollen ja gerade nach unserem Tod ganz besonders
gesehen werden! So eine unsichtbare Wand - das wäre nichts für
uns! Wir wollen sichtbar sein und mit einer entsprechend ansprechenden
Garnierung serviert werden, bei Inge das geschmolzene Nessus-Hemd, ich
meine das Narzissus-Hemd, das ihr keiner geschenkt hat. Sie hat es sich
selber beim Palmers kaufen müssen. Solche Frauen müssen sich
immer alles selber kaufen. Entschuldige, Inge. Aber ich sag wies ist.
Wirklich toll wäre es erst, wenn der Auferstandene wirklich zu den
Menschen zurückgekommen wäre. Wir Heldinnen haben es nicht ganz
so schwer wie er, wir müssen nur sehr weit nach Westen fahren, Cape
Cod würde ich mal sagen, der äußerste Punkt, weiter ist
nicht nötig, sonst stürzt man ins Meer. Weil man vergessen hat,
wo oben und unten ist. Und dann müssen wir ja immer noch unsre Blutsuppe
kochen, die dann eh wieder keiner will und die die Sonne eh nicht wärmen
will und die der Schalter eh nicht aufdrehen will und die der blinde Seher
eh nicht für uns auslöffeln will. Aber dann. Aber dann. Dann
kommen wir. Dann weiß man, daß es sich gelohnt hat, dann kommen
die Toten zu uns und wir zu ihnen. Aber zuerst kommt Vati (beide Frauen
brüllen wahnsinnig laut: Papi! Papi! Du Mann! Papi! Mann, Papi! Was
hast du da gemacht? Papi! Etc.), dann kommt Mutti, und dann kommt hoffentlich
endlich die Therese. Viel zu spät, wie immer, sodaß sie in
das, was kommt und was sie voraussagen sollte, direkt hineinrennt und
sich die Stirn zerschmettert. Aber da wird keine Heldin herauskriechen.
Die sieht, die sieht, was du nicht siehst. Mehr nicht. Wahrscheinlich
kommt sie genau dann, wenn wir eh schon alles wissen. Wer tot ist und
wer nicht. Mutti und Vati werden schon aus Höflichkeit essen, sage
ich mal, aber die Therese, die ist mäkelig. Die lacht in sich hinein
wie in ein unaufgeräumtes Zimmer, dem sie mit Hilfe einer Kinokarte
entfliehen will, anstatt wenigstens abzuwaschen. Sie lacht in sich hinein
wie in einen aufgeräumten Herrn, dem sie mit ausgebreiteten Armen
entgegeneilen will, anstatt bei sich selber aufzuräumen. Alles Einbildung.
Plötzlich hören wir auf, mit unserem Essen die Treppe herunterzukommen,
weil wir die Wand hinaufklettern, die wir nicht gesehen haben.
Doch als wir sie sahen, die Wand, da konnten wir sie schon nicht mehr
umgehen. Wir konnten mit ihr nicht umgehen. Sie war durchsichtig, völlig
durchsichtig, aber es war kein Durchkommen bei der. Also nichts wie rauf.
Anders geht's nicht. Wir bringen den toten Helden ihr Essen. Das müssen
wir. (sie brüllen: Papi! Papi!)
Mein Papi war ein Jud.
Nein, war er nicht. Er war ein Nazi.
Nein, war er nicht, er war ein Pazifist.
Der Pazifische? Nein, war er nicht, der war ein andrer. Er war der andere.
Dieser eine war nicht Okeanos, in dem die Stars baden gehen, er war nur
Otto, der eigensinnige Diabetiker. Das war dir zuwenig. Nicht einmal seinen
eigenen Diabetes wollte er erkennen. Das gilt als erwiesen. Der hätte
ruhig weiterleben können. Nicht jeder, der die toten Helden aufnehmen
will, nachdem wir sie ernährt haben, ist deswegen gleich der pazifische
Ozean. Und nicht jeder, der stirbt, ist ein Held. Der Ozean ist einer,
der tötet und dann die Toten verschlingt. Aber jeder andre nimmt
auch gern Helden. Wir wollen von jemandem verschlungen werden, aber so,
daß man uns danach noch sieht. Daß man uns sogar noch viel
mehr sieht als zuvor, bevor wir vernascht wurden. Die drei in dem kleinen
Flieger, schau nur, die hat er auch genommen. Der die Weltscheibe umfließt.
Kaum zu glauben. Kaum macht einer was, schon schauen ihm tausende schöne
Frauen dabei zu und springen dann auch noch rein. Einer ihrer Vorwände
sich auszuziehen. Trotzdem. Das mit dem Sportflieger kann sich kaum gelohnt
haben. Ein winziger Schluck, mehr nicht. Und dort drüben, fast zweihundert.
Was wird aus uns? Mit Kakerlaken auf uraltem verkrustetem Geschirr beim
Tisch sitzen? Und dann den ganzen Ozean drüberlassen? Nein. Schnell
raus aus dem Bett, bevor es noch gemacht ist, nein, raus, das Bett gemacht,
die betroffene Kleidung an sich gerissen, zerfetzt, übergestülpt,
und richtig, die Strümpfe haben wir vergessen anzuziehen. Egal. Es
ist keiner mehr da, mit dem wir uns über unser Aussehen verständigen
könnten.
Da liegt eine schmutzige Unterhose, dort ein Socken, hier hat jemand seine
Uhr hingelegt, das Armband ist ganz speckig. Dieses T-Shirt stinkt grauenhaft,
wie ein zerfetzter Sportleichnam, der im Grunde immer noch vital ist.
Sonst würde er ja nicht so stinken. Ich kann es als mein Werk bezeichnen,
daß ich feststellen kann, daß dieses Unterleiberl gewaschen
werden muß, und zwar rasch, bald, das ist die Wahrheit, die Falschheit,
die Erkenntnis, die Überschätzung, die Unterschätzung unserer
geschätzten Bestandsaufnahme. Über alles. Glaubst du, das waren
Helden, die da gewesen sind? Glaubst du, das waren Helden, die das gewesen
sind?
Hoffentlich nicht. Sonst würden wir mit unserem Essen zu spät
kommen. Und Therese kommt gleich gar nicht, wie mir scheint. Hat sich
nicht einmal entschuldigt. Glaubt wohl, bei uns hat sie das nicht nötig.
Die freundlichere Variante: sie glaubt, wir wissen ohnedies schon alles.
So. Das war Fassung eins. Fassung zwei werde ich einfach verlieren. Fassung
drei wird es nie geben. Alles, was wir fassen können, ist in unseren
Geschirren. Uns genügt es.
(Die
beiden Kletterinnen mit ihren Blutgeschirren sind oben auf dem Fels angekommen.
Sie atmen schwer.)
(Oben sitzt ein Wesen, das ganz mit Binden umwickelt ist, auch das Gesicht.
Es hat neben sich einen Schistock lehnen (oder zwei Stöcke, wie beim
Nordic Walking), und es trägt eine modische sehr dunkle Sonnenbrille.
Es ißt auf einem Puppentisch mit Puppengeschirr. Die beiden Frauen
stemmen sich, nach einem kurzen Verschnaufen, auf den Fels, packen ihre
Blutsuppe aus und füllen sie in die Puppentassen und -teller. Es
rinnt alles über, das Blut rinnt den Fels hinunter. Die Frauen halten
ihre Blut-Kinderjause)
(Das
Wesen spricht, man versteht es kaum, weil ja das ganze Gesicht fest mit
Binden umwickelt ist. Man kann hier, aber auch im folgenden, durchaus
mit laufender Schrift auf einer Repro-Leinwand arbeiten):

Teil
der Esquilinischen Fresken: Odysseus am Eingang des Hades
Leicht
ist es, was ihr mich gefragt habt, aber ich sage es euch trotzdem. Es
sind die schrecklichsten Sätze, die je gesprochen worden sind. Deshalb
bitte ich ausdrücklich um Ruhe, weil ich sie nicht nochmal sagen
könnte: Wem ihr jetzt erlaubt aus der Schar der abgeschiedenen Toten,
sich dem Blut zu nahn, der wird euch Wahres erzählen. Aber wem ihr
es verwehrt, der wird stillschweigend zurückgehn.
(Man jausnet während des folgenden gemeinsam aus dem Puppengeschirr.
Man spielt sozusagen "essen" wie Kinder es tun.)
(Aus
einem altmodischen Kofferradio hören wir, von einer eifrigen Männerstimme
gelesen)
Zwei
Gefährten hielten das Tier an den Beinen fest, sodaß der Kopf
mit durchschnittener Gurgel herabhing. Das haben Sie ja gesehen, meine
Damen und Herren. Odysseus, den Fuß auf den Aushub der Grube gestellt,
den linken Arm über den Oberschenkel gelegt, das Schwert, mit dem
er die Schatten zurückhielt, in der Rechten, lauschte der ehrfurchtgebietenden
Gestalt des gebeugten blinden Sehers. Das haben Sie ja gesehen, meine
Damen und Herren. Weißes Haar zeugte von dessen Alter, der Stab
in der Linken von seiner Blindheit. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen
und Herren. Unter den bleichen Schatten fielen uns einige Frauen in gelben
Gewändern und drei abseits stehende Gestalten auf. Das haben Sie
ja gesehen, meine Damen und Herren. Die Frauen waren Antikleia, des Odysseus
Mutter, mit der er ein schmerzliches Gespräch führte, und eine
Reihe von Heroinen, welche die Urmütter vieler Helden waren, mit
denen Odysseus vor Troja zog. Das haben Sie ja gesehen, meine Damen und
Herren. Die Männer aber waren wohl Agamemnon, Achilleus und Aias,
mit denen Odysseus die unseligen Tage ihres Endes beschwor. Das haben
Sie ja gesehen, meine Damen und Herren.
(Gleichzeitig, sehr leise, hören wir, unbedingt auf Altgriechisch!,
mit zarter Frauenstimme, vielleicht ein Kind, eine Schülerin aus
einer Stadt, toll wäre es, wenn die Schauspielerinnen, oder wenigstens
eine von ihnen, aus der Theogonie des Hesiod (155ff) die folgenden netten
Worte sprechen oder lesen könnte:)
Alle
nämlich, die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich-gewaltige
Kinder und dem Vater von Anfang an ein Greuel; kaum war eines geboren,
verbarg sie Uranos alle im Schoß der Erde, ließ sie nicht
ans Licht und freute sich noch seiner Untat. Die riesige Erde aber wurde
im Inneren bedrängt, stöhnte und ersann einen bösen, listigen
Anschlag. Rasch erschuf sie das Element des grauen Stahls, machte eine
große Sichel, wies sie ihren lieben Kindern und sprach ihnen (denn
groß war der Groll ihres Herzens) Mut zu: "Ihr, meine und eines
ruchlosen Vaters Kinder, wollt ihr mir gehorchen, so können wir die
Schandtat eures Vaters vergelten. Er hat nämlich als erster sich
die schimpflichen Werke ausgedacht." So sprach sie, doch alle ergriff
Furcht, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Der große, Krummes
sinnende Kronos jedoch faßte Mut und erwiderte gleich seiner edlen
Mutter: "Mutter, ich könnte die Tat auf mich nehmen und ausführen,
denn ich kenne nicht Schonung für unseren Vater, der seines Namens
nicht wert ist; er hat nämlich als erster sich die schimpflichen
Werke ausgedacht." So sprach er. Die riesige Erde aber freute sich.
Sie barg ihn in einem Versteck, gab ihm die scharfgezahnte Sichel in die
Hand und lehrte ihn die ganze List. Es kam aber der große Himmel,
führte die Nacht herauf, umfing die Erde voller Liebesverlangen und
breitete sich ganz über sie. Der Sohn aber griff aus dem Versteck
mit der linken Hand nach ihm, nahm die riesige, lange, scharfgezahnte
Sichel in die Rechte, mähte rasch das Geschlecht seines Vaters ab
und warf es hinter sich, daß es fortflog; doch fiel es nicht ohne
Wirkung aus seiner Hand, denn all die blutigen Tropfen, die herabfielen,
empfing Gaia und gebar im Kreislauf der Jahre die starken Erinyen, die
großen Giganten in strahlender Rüstung und mit langen Speeren
in der Hand sowie auch die Nymphen, die man auf der unendlichen Erde Melische,
also Eschennymphen nennt.
(Fotos:
Alexander von Suchenko, Peter J. Kahrl, Frankfurter Verlagsanstalt)
12.6.2002
Der Tod und das Mädchen 5 © 2002 Elfriede Jelinek
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