Im Prater

(für Ulrike Ottinger und ihren Film)

Das Erstaunliche an der Kindheit ist, daß sie nur vergehen kann. Vorher genießt sie noch ihr Leben und geht und schaut fleißig herum, weil das von ihr so verlangt wird. Dem Kind soll sich etwas einprägen, aber den Stempel dazu kriegt es nie in die Finger, auch später nicht. Dann lernt das Kind, in einem bestimmten Sinn zu denken, nur die Kindheit ist sinnlos, vorausgesetzt, man hat überhaupt eine. Später, das Erwachsenwerden, zwingt einen, das, was man als Kind gesehen und erlebt hat, unter einen Sinn zu stellen, es dann wieder unter einem anderen Sinn zu sehen, und, bis einem die Sinne irgendwann ausgehen, werden die vergangenen Dinge ununterbrochen einem Sinn untergeordnet, immer einem andren, weil sie letztlich eben gar keinen haben. Meine Sinne sind, als ich ein Kind war, vom Prater geschärft worden, und kaum war ich zu Hause, sind sie wieder gelöscht worden. Der Prater ist in mir ununterbrochen wieder ausradiert worden. Dort war ich mit meinem Vater und meinen Tanten, den Schwestern meines Vaters, sie haben ganz in der Nähe des Praters gewohnt, am Max Winter-Platz, und zuerst habe ich mit meinem Onkel mikroskopiert, und dann sind wir in den Prater gegangen, wo ich mich selbst von der Leine meiner an diesem Ort immer abwesenden Mutter lassen konnte. Meine Mutter konnte sich mich nur als ein Wesen vorstellen, das so lange da war, als sie es beherrscht hat. Wenn die Gefahr bestand, ich könnte die Beherrschung verlieren, ihre wie jede andre auch, schreiend vor Vergnügen auf dem Ringelspiel mit den Topferln – meinem Lieblingsringelspiel – oder auf andren Vergnügungsmaschinen, inmitten all der Buntheit des Praters und all der Vielfältigkeit, die sich ohnehin jeder Beherrschung zu entziehen schien, wie jede Vielfalt, die es jedem Herrschen schwermacht (daher duldet man sie ja so selten!), wenn ich also außer Rand und außerhalb ihre Herrschafts-Bande zu geraten drohte wie eine verirrte Billardkugel, mußte ich, gleichsam am Schnürl, wieder zurückgeholt werden. Da waren also die Buntheit und Vielfachheit all der Pratergeräte,  nur dazu da, benützt zu werden, als Geräte, dazu vorhanden, um den Benutzern etwas zu eröffnen, das die Benutzer, Menschen, Kinder, Erwachsene, immer wieder wie neu erscheinen lassen konnte, auch wenn sie immer wieder die Alten waren, wenn sie davon herunterstiegen oder daraus hervorkamen, diese Vervielfältigungsmöglichkeiten – und mehr als Möglichkeiten sind sie ja nicht -  also die machen aus den Menschen vorübergehend etwas, denke ich, das sie auf alle anderen Menschen bezieht, indem eine Vergnügungsmaschinerie sie, die Menschen, sich selbst abnimmt, sie ihrer selbst enthebt, bloß vorübergehend, wie gesagt, aber diese Erlustigungsmaschinen, Spiegelkabinette, Geisterbahnen, Hochschaubahnen, immer das Neueste vom Neuen, das gehört zur Technik ja dazu, daß sie immer das Neueste ist und bietet, diese Maschinen (und auch das kleinste Ringelspiel ist ja eine Maschine, in die man sich begibt, und wenn man dabei klein ist, kann man sich vorübergehend groß vorkommen, mit Hilfe der Technik, die einen liebevoll aufnimmt), diese Maschinen also zeigen, daß wir nicht allein aus uns heraus leben und nicht deshalb wir sind, weil wir sind, von uns aus, von mir aus, na, von mir aus schon, von uns aus aber nicht, das heißt, wir sind immer zu mehreren, zu vielen, aber nicht: zuviele.  Indem wir uns in, auf diesen Maschinen, die nur dem Vergnügen dienen, zur Schau stellen, aus ihnen herausschauen auf die Umstehenden, die uns dabei zuschauen, geben wir etwas von uns her, wir geben es fort, ja, indem wir uns zeigen, schenken wir uns her. Wir zeigen, daß wir nicht aus uns heraus etwas sind, sondern daß wir zu etwas gemacht werden können, ohne daß uns dabei etwas weggenommen wird. Der Prater allerdings ist mir, als ich Kind war, von meiner Mutter weggenommen worden, weil mein Wille, diese Vergnügungsmaschinen mit meinem kleinen Körper zu bändigen, ein Wille war, der auf etwas anderes gerichtet war und letztlich der Zähmung, der Dressur durch die Mutter mit einem Atom Willenskraft Widerstand geleistet hätte. Aber das Ziel war ja: Ich sollte gemeistert werden. Ich sollte nicht Maschinen mit mir bestücken und damit eine Art Herrschaft über sie erlangen. Da hätte ich ja etwas über Herrschaft lernen können, und das war nicht erlaubt. Der einem fremden Willen Unterworfene treibt, wie Stückgut, Papierln, Äste, am Wesen des Lebens vorbei. Der Prater hätte nichts als ein Kescher sein können, der einen hätte herausholen können.


"Calafatti"

18.8.2006
für Ulrike Ottinger und ihren Film
Bilder aus Wikipedia

 


Im Prater © 2006 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com