Der
tausenjährige Posten
oder
Der
Germanist
Musik: Franz Schubert
aus: Der vierjährige Posten (D 190),
Singspiel in einem Aufzug von Theodor Körner und: Die Zwillingsbrüder,
Singspiel in einem Aufzug, nach dem Französischen von Hoffmann.
Neue Texte: Irene Dische, Elfriede Jelinek
Rowohlt Theaterverlag
Reinbek
bei Hamburg
Die Personen:
Prof.
Dr. Hans Schall / SS Hauptsturmführer Schaal
ein
aufrechter alter Mann, Tenor
Lieschen
Schall, seine Frau, Sopran
Prof.
Dr. Walther Spieß, ein älterer Herr, berstend vor Tatendurst,
Baß
Ulrich
Viet, ein etwas lethargisch wirkender Journalist, typischer Veteran
der Studentenbewegung, hält äußerlich immer noch an
den alten Gebräuchen der 68er fest, Tenor
Prof.
Dr. Schulze, ein Freund in mittleren Jahren, Baß
ein
paar Nebenfiguren, z.B. Trude, Frau Schalls Freundin, etc.
Chor
Die
Musik folgt im Ablauf den ursprünglichen Opern, nur daß "Der
vierjährige Posten" (hier 1. Akt) vor dem Finale von "Die
Zwillingsbrüder" unterbrochen wird (hier 2.Akt), minus Finale.
Nach Akt 3 (ohne Arien) folgt das Finale des vierjährigen Postens.
Wo an einigen Stellen von diesem Prinzip abgewichen wird, ist das jeweils
angegeben.
1.
Akt
(Ouvertüre:
der vierjährige Posten)
1.
Szene
Prof.Dr.
Schall (Er ist gekleidet wie
ein typischer Alt-68er, Cordsamthosen, ausgebeultes Jackett, etc. Er
hält eine Medaille in der Hand und spricht in wehmütig sentimentalem
Ton zu seinen Studenten)
Falls
Sie nicht wissen sollten, wer ich bin (Gelächter unter den Studenten, die es
natürlich wissen), gestatten Sie mir ein paar Worte in eigener
Sache.
Ich
bin ein zufriedener Mensch. Diese Zufriedenheit verdanke ich ein paar
Dingen, die heutzutage nicht mehr viel zu zählen scheinen. Manchmal
glaube ich sogar, diese Wörter gelten inzwischen als schmutzig.
Four letter words, wie der Lateiner sagt. Zum ersten ist da natürlich
meine Frau Lieschen. Lieschen, erhebe dich, damit auch jeder dich sehen
kann! Gut. Setzen! (Applaus)
Dann das Wort "Buch". Wie Sie sehen haben diese Wörter
auch im Deutschen vier Buchstaben, aber auf denen sollte man sich nie
ausruhen (lacht). Buch also. Ja, ich habe mein Leben
den Büchern geweiht. Sie haben mich durch meine besten wie durch
meine schlimmsten Jahre hindurch treu begleitet, wie ein Hund. Auch
vier Buchstaben. Ich und meine Bücher, wir sind miteinander durch
Dick und Dünn gegangen. Es waren fette Jahre darunter und magere.
Ich bin gewohnt, alles so zu nehmen wie es kommt. Wenn ich nur meine
lieben Bücher habe! Ich mag daheim zwar Lieschens Bester sein,
aber meine besten Freunde sind doch meine Bücher. Ach ja, Bücher!
Wie sie uns doch immer wieder in ihren Bann ziehen! Für mich bergen
sie das ganze Universum. Und wo findet man das Universum? Richtig, auf
der Universität! Ich hatte die große Ehre, nach dem Kriege
einer der ersten Wächter der Bücher an dieser Universität
zu sein. Damals wurden mir die kümmerlichen Reste der Universitätsbibiothek
anvertraut, ein paar Kisten mit schimmligem Papier, ein paar Wände,
die noch die Brandmale des Krieges trugen, ein paar verstörte Studenten,
die um ihre Ideale betrogen worden waren, ein paar Ideen, die ihre Gültigkeit
verloren hatten. Armut war alles, was übriggeblieben war, Armut
für alle, denn von diesem Artikel gab es reichlich. Ja, Armut war
wirklich für jeden erschwinglich, und wir an dieser Universität
hatten davon mehr als wir je verbrauchen konnten. Als ich im Jahre 1955
zum ersten Mal hier ankam, da wars in Deutschlands Winter. Was wir auch
anpackten, nichts wollte gedeihen. Ja, wir zitterten vor Kälte,
und deshalb mußten wir alle tüchtig mit anpacken. Wir bauten
aus Ruinen neue Mauern, wir schrieben neue Bücher, wir pflanzten
neue Ideen, diesmal über Freiheit und Demokratie, in die Köpfe
jener, die uns anvertraut waren, und endlich wurde es auch wieder Frühling.
Ihr, meine Studenten, könnt jetzt ernten, was wir damals gesät
haben. Ich bin nun ein alter Mann, und ich werde mit Ende des Semesters
emeritieren. Ich werde dann eine Menge Zeit haben, um über alles
nachzudenken, daher will ich mich heute kurz fassen, bevor man noch
mich faßt! Man soll mich nicht von Katheder tragen müssen.
Einmal muß Schluß sein. Ich danke Ihnen sehr für diese
Auszeichnung, die ich stets in Ehren halten werde
(er hält die Medaille hoch), und ich danke Ihnen auch dafür,
daß Sie mitgeholfen haben, aus mir einen zufriedenen Menschen
zu machen. (Applaus)
1.
Chor, Prolog:
Heiter
strahlt der neue Morgen,
Luft
und Himmel webt sich klar,
und
der Tag verscheucht die Sorgen,
die
die dunkle Nacht gebar.
Draußen
stürmt das Kriegsgetümmel
durch
die seufzende Natur
aber
friedlich liegt der Himmel
über
unsrer stillen Flur.
Frisch
zur Arbeit! Auf dem Felde
sei
die Arbeit zugeteilt.
Wohl
dem, der die Saat bestellte,
eh
der Krieg ihn übereilt!
etc.
2.
Duett: die Schalls.
Hans
Schall im Glück. Prof. Schall räumt seinen Schreibtisch in
seinem Büro aus, seine Frau hilft ihm dabei. Sie packen alles in
einen Koffer.
Frau
Schall: Wie bescheiden du immer bist! Alle waren sie gerührt!
Und deinen Neidern hast du ein paar Brocken hingeworfen, an denen sie
noch lange zu kauen haben werden. Du darfst den goldenen Füller
nicht vergessen, den dir die Studenten geschenkt haben!
Schall:
Diese jungen Ignoranten! Die können sich ja nicht vorstellen, was
wir alles durchgemacht haben! Manchmal konnte ich mich kaum zurückhalten,
es ihnen ins Gesicht zu schreien.
Frau
Schall: Bitte konzentriere dich, Schatz! Du darfst nichts vergessen!
Schall:
Und wenn ich sie mir dann so anschaue, wie sie sich vor den Hörsälen
herumdrücken, kein Mumm in den Knochen, nichts lassen sie wirklich
an sich herankommen. Nichts geht ihnen nahe. Da sage ich mir dann: Ihr
wißt ja nicht was Liebe ist!
Frau
Schall (öffnet eine Schublade): Hier, das Manuskript zu deinem Buch! Schau! Das Original! Ein
kostbares Dokument. "Ursprung der deutschen...." du liebe
Güte... was für ein langer Titel! Wenn Du das hier läßt,
wird es noch einer deiner Assistenten einstecken, und in ein paar Jahren
läßt er es dann womöglich auf einer Auktion teuer versteigern...
man stelle sich vor... das Originalmanuskript dieses epochalen Werks!..
Er würde ein Vermögen damit verdienen!
Schall:
Ist doch bloß Papier! Mir wäre das egal. (er
lacht) So lange sie nicht versuchen, es unter ihrem Namen zu publizieren...Jedes
Wort heute noch genauso aktuell wie vor vierzig Jahren! Es ist der Vorteil
einer wahrhaft großen Werks, daß es niemals altert.
Frau
Schall: Aber unsere Liebe ist doch auch nie gealtert, oder?
Schall:
Vorsicht! Wahre Liebe erregt den Neid der Götter. Sie belohnen
solche Dinge nur selten. Aber Liebe trägt ja zum Glück ihren
Lohn in sich selbst.. doch du hast recht, Lieschen. Unsere Liebe ist
frisch wie am ersten Tag. Da können die Götter uns zürnen
soviel sie wollen. (Sie tanzen
eng aneinandergeschmiegt)
Duett:
Du
gutes Hänschen (du süßes Kind)!
Ach
was wir beide doch glücklich sind!
Nein
nein, es läßt sich nicht erzählen,
diese
Seligkeit.
Unter
freundlichem Gekose
der
Natur in blüh'ndem Schoße
eilt
sie fort, eilt sie fort,
die
goldne Zeit, eilt sie fort
die
goldne Zeit.
Doch
für Herzen, die sich lieben,
ist
das Leben jung geblieben,
ist
der Himmel nicht mehr weit.
Du
gutes Hänschen (du süßes Kind)!
Ach
was wir beide doch glücklich sind!
etc.
Auftritt
Prof. Walther Spieß.
Spieß:
Hans. Hans. Alles ist aus. Wir sind aufgeflogen!
Frau
Schall (scharf):
Willst du mir bitte erklären, wovon du sprichst, Walther? Wir brechen
hier unsere Zelte ab, so lustig ist das auch wieder nicht!
Spieß:
50 Jahre haben wir jetzt hinter uns gebracht. Alles ohne den leisesten
Anflug von Ärger. Von den Studenten wirst du als aufrechter Demokrat
geliebt und bewundert, na ja, immerhin war das alles ja meine Idee!
Für deine Kollegen bist du eine Quelle der Inspiration. Ein anregender
Gesprächspartner. Auch das war meine Idee! Professor Schall und
sein Kollege Professor Spieß, beides Männer mit Rückgrat!
Kein Wunder - so wie du aussiehst! Du bist immer mühelos damit
durchgekommen. Du bist für die Bewunderung der Menschen geradezu
geschaffen. Ich selber bin dafür leider zu dick (oder
zu klein, zu dünn etc.) Trotzdem. Irgendwann fing das an mit
den Gerüchten... natürlich, wie immer, von außen hereingetragen!
Feindliche Elemente haben das in die Welt gesetzt. Und jetzt werden
sie dich bloßstellen: Als den SS Hauptsturmführer Schaal.
Hier, schau, sie haben sogar schon deine Mitgliedskarte bei der Gestapo
abgedruckt... und deinen ersten Gestellungsbefehl in Lemberg, wo du
damals für die Abwicklung der Bücherfrage zuständig warst...
(liest vor) "Schaal hat
sich in grauem Anzug mit dieser Gestapo-Mitgliedskarte unverzüglich
im Hauptquartier SS zu melden".. und weiter.. "In seine Verantwortung
wird die Auflösung der Bibliotheken gegeben." (Schall schaut es sich an)
Schall:
Ich muß doch sehr bitten, Walther, was hat das alles mit mir zu
tun? Das da auf dem Bild, das ist nur irgendein junger Mann. Sieht übrigens
gar nicht schlecht aus. Aber das heißt noch lange nicht, daß
ich es bin. Und du machst Lieschen Angst!
Frau
Schall: Ich möchte sofort nach Hause. Vorwärts, Hans!
Laß alles stehen und liegen! Sollen sich doch die Studenten nehmen
was sie wollen. Wir brauchen nichts. (sie leert die Aktentasche, das Manuskript
flattert zu Boden.) So. Sollen sie es doch verbrennen! Laßt
uns gehen!
Schall
(ruhig): Ich habe Hans Schaal gekannt.
Natürlich. Er hatte am selben Tag Geburtstag wie ich, er ist imselben
Dorf wie ich auf die Welt gekommen, und beide erhielten wir den Namen
Hans. Aber Hans Schaal ist tot. Er starb am letzten Kriegstag. Man hat
sogar gesehen, wie er erschossen wurde. Sein Leichnam wurde niemals
gefunden, aber er ist tot. Wir sollten die Toten in Frieden ruhen lassen,
Lieschen. Ich bin fertig, wir können gehen. Walther, du erzählst
ihnen, daß du Hans Schall damals gekannt hast und daß er
kein Freund der Nazis gewesen ist. Innere Emigration und so weiter und
so fort. Namen sind ohnehin Schall und Rauch.
Walther:
Nein, nein. Jetzt müssen wir schon eine neue Taktik finden, mein
lieber Hans. Du mußt dich zu allem bekennen. Du mußt dich
dem stellen. Du mußt Bedauern zeigen. Wolle den Wandel, wie Rilke
sagt! Aus dem SS- Mann Schaal wurde der Demokrat Schall. Du bist ein
anderer geworden! Das ist wie mit dem guten und dem bösen Zwilling.
Es war Schaal, der es war! Nicht du! Er wars! Und von all den Brutalitäten
wollen wir heute auch nichts mehr hören. Diese Zeiten sind zum
Glück vorbei! Nichts mit zertrümmerten Fensterscheiben und
eingetretenen Türen! Oder eingeschlagenen Schädeln. Neinnein,
einfach nur Planung und Konsolidierung, das war deine Aufgabe, nichts
weiter. Nur kein Bedauern! Der Krieg war verloren. Neue Erkenntnisse
sprossen aus den Ruinen. Du mußt immer den Schmerz herausstreichen,
den deine Läuterung dir bereitet hat! Wie du deinen Fehler erkannt
hast! Wie du mit dir gerungen hast! Du bist verführt worden! Dein
Idealismus wurde mißbraucht! Und dann mußtest du auch noch
deine Uniform verbrennen, die du doch mit soviel Stolz getragen hattest.
Lieschen:
Ich hatte gehört, er sei tot. Die Roten hätten ihn erschossen.
Ich zog ein schwarzes Kleid an. Ich verlor jedes Interesse an meinem
Kind. Ich verwandelte mich in eine Säule aus salzigen Tränen.
Und dann klopfte es an der Tür. Ich öffnete. "Darf ich
mich vorstellen: Hans Schall", sagte er. Er war in Zivil. Mein
Liebster! Sein Haar hatte er tagelang nicht mehr gekämmt. Wir mußten
uns eben daran gewöhnen. Schalll, nicht Schaaal! Ja, seine Identität
zu wechseln, das ist wahrlich kein Honiglecken.
3.Szene:
Terzett:
Mag
dich die Hoffnung nicht betrügen!
An
diesen Glauben halte dich!
Das
Glück war gar zu schön gestiegen!
Die
Wende war zu fürchterlich,
die
Wende war zu fürchterlich!
Mag
dich die Hoffnung nicht betrügen!
An
diesen Glauben halte dich!
etc.
(Schüchternes
Klopfen an der Tür. Eintritt der Journalist Ulrich Viet.)
Viet:
Gestatten: Viet, Ulrich. Ich komme vom Lokalblatt. Ich hätte gerne
ein Interview.
Spieß:
Solln Sie haben. Ihr Interview. Er wird für Sie die Hosen runterlassen.
Ich kann mir vorstellen, daß Sie schon darauf brennen! Der letzte
aus der Herrenrasse der Übermenschen. Sie sind allen anderen überlegen.
Sie besitzen Tugenden, über die eure schlappe Generation nicht
mehr verfügt. Bevor wir fortfahren, sagen doch Sie uns einmal,
was Ihr Vater im Krieg so alles gemacht hat, Bürschchen!
Viet
(selbstmitleidig): Als mein Vater starb,
ist er mir diese Erklärung schuldig geblieben.
Spieß:
Gar nichts schuldet er Ihnen! Verzeihen Sie mir, Professor Schall, aber
ich an Ihrer Stelle würde mit diesem jungen Mann kein Wort sprechen.
Viet:
Aber... (reißt sich zusammen) Professor Schaal-Schall,
Sie sind einer der raren letzten Zeugen einer Zeit, die immer weniger
Zeugen hat. Sie schulden der jüngeren Generation eine Erklärung!
Außerdem sind bereits zwanzig meiner Kollegen auf Ihren Fall angesetzt.
Sie können also genausogut Ihre Geschichte mit mir absprechen,
bevor die andren über Sie herfallen.
Prof.
Spieß (zum Journalisten): Sind Sie überhaupt qualifiziert, Prof. Schall auch nur
irgend etwas zu fragen? Haben Sie das Buch gelesen, das der Herr Professor
geschrieben hat? Der Ursprung der deutschen Komödie. Haben Sie
es gelesen? Nein?! Wie können Sie es dann wagen, über ihn
zu urteilen? Dieses Buch erhebt ihn himmelhoch über alle Politik.
Er ist ein Genie!
Schall:
Das ist also der Dank. Man stellt mich an den Pranger, man lacht mich
aus, vielleicht schleppt man mich sogar wegen Mordes vor Gericht oder
nimmt mir mein Bundesverdienstkreuz ersten Grades weg. Aber mich kümmert
es nicht, solange meine Frau und ich nur zusammenbleiben können.
Frau
Schaal: Als wir zum ersten Mal heirateten, waren wir noch Kinder.
Hans Schaal - er war klug und sah so gut aus! Hansens Mutter war gegen
unsere Ehe. Sie war Witwe und wollte einen Mann im Haus haben. Meine
Eltern richteten uns zu unserer Hochzeit ein Fest aus, mit Zelt im Garten
und Lagerfeuer. Wir haben Würstchen gebraten. Seine Mutter fiel
in die glühenden Kohlen. Als wir sie wegtrugen, war ihr ganzer
Rücken geröstet. Mit einem Mal stand das ganze Zelt in Flammen,
und alle, alle Hochzeitsgäste verbrannten. Ich war erst zwanzig
und hatte schon keine Familie mehr. Hans brachte seine Mutter nach Hause,
dann kam er zu mir zurück, nahm mich in seine Arme und küßte
mich. Seine Haut roch versengt. Das war unsere Hochzeitsnacht. (schluchzt.
Der Journalist ist entsetzt.)
Viet:
Wie furchtbar!
Alle:
Wie furchtbar!
Herr
Schall: Sie sehen, wir haben überlebt, weil es uns so bestimmt
war.
Frau
Schall: Unsere zweite Hochzeit fand dann in weit bescheidenerem
Rahmen statt.
4.
Auftritt ("der vierjährige Posten"), Nr.4: Quartett
Freund,
eilet euch zu retten!
Der
Presse Regiment kommt jetzt zu euch gezogen,
fort,
fort! Ihr seid verloren, man hat ihn ja erkannt!
Ach
Gott,er ist verloren, man hat ihn ja erkannt!
Schall:
Die
Presse weiß? Unmöglich!
Spieß:
Glaub
mir, ich kenn das gut!
Frau
Schall:
Es
ist um dich geschehen!
Spieß:
Nun
gilt es List und Mut.
Schall:
Still,
laßt mich überlegen...
mag
Rettung möglich sein?
Alle:
Der
Himmel mag dich (mich) schützen,
mag
dein (mein) Erretter sein.
Frau
Schall:
Wie
soll er der Gefahr entspringen?
Wie
wählt er sich den kühnen Plan?
Wird
ihm die Rettung wohl gelingen?
Was
soll er tun, was fängt er an?
etc.
Schall(zu Spieß):
Freund,
ich glaub, ich habs gefunden!
Bald
kehr ich erneut euch zurück!
(zu
Frau Schall): Was Gott zur Liebe verbunden,
trennt
selten ein widrig Geschick...
Frau
Schall und Spieß:
Was
hast du dir listig erkoren,
wodurch
du gerettet bist?
Schall:
So
kommt, keine Zeit sei verloren
Die
Presse schreibt immer nur Mist!
Frau
Schall:
Mein
Hänschen!
Schall:
Vertraue
der Stunde und vertraue dem Glück!
Frau
Schall:
Mein
Hänschen! Ich wills!
Alle:
Was
Gott zur Liebe verbunden,
trennt
selten ein widrig Geschick.
Etc.Etc.
Was
Gott zur Liebe verbunden,
trennt
selten ein widrig Geschick.
Etc.Etc.
Prof.
Spiess (hält Schall am Ärmel fest): Augenblick noch! Also, Kinder, jetzt
wollen wir diesem Herrn mal sein Interview geben! (zu Viet) Sie sind ein Mann von Ehre. Sie werden der einzige sein,
der dies je zu hören bekommt. Sie sollen Ihre Schlagzeile haben.
Eine Sensation! Das wird Ihrer Karriere förderlich sein! Und Sie
verdienen es auch, gefördert zu werden. Ich bin sicher, Sie werden
sich Professor Schaals Geschichte anhören, ohne vorschnell zu urteilen.
Sie werden nicht urteilen, Sie werden objektiv und sachlich berichten.
Meine Herren, bitte setzen Sie sich! Dies ist eine gute Gelegenheit,
den Abschiedskuchen anzuschneiden, den die Sekretärinnen für
mich gebacken haben.
Prof.
Schall: Nein nein Walther! Hier bin ich einmal ganz entschieden
nicht deiner Meinung. Ich habe da eine bessere Lösung! (überlegt
verzweifelt) Ich habs! Was einmal funktioniert hat, könnte
doch auch ein zweites Mal funktionieren! Ich könnte verschwinden
und als ein andrer wieder zurückkommen! Na, ist das nichts? Ich
könnte diesmal zum Beispiel Jude werden! Ich sage einfach, ich
komme von der Ostküste und gehöre dort zu gewissen Kreisen!
Das wird ihnen erst mal das Maul stopfen!... Viele sind doch schon Juden
geworden, die vorher keine waren!
(Frau
Schall gießt Kaffee ein und schneidet Kuchen auf)
Arie
Nr. 5 ("der vierjährige Posten")
Frau
Schall:
Gott!
Gott! höre meine Stimme, höre gnädig auf mein Flehn!
Sieh,
ich liege hier im Staube, Gott! Gott!
höre
meine Stimme! Höre gnädig auf mein Flehn!
Sieh,
ich liege hier im Staube!
Allegretto:
Soll
die Hoffnung, soll der Glaube an dein
Vaterherz
vergehn?
Soll
er büßen mit seiner Rente,
nur
wegen einer Zeitungsente?
Er
hats für mich und die Liebe getan!
Sind
all die Wünsche nur eitles Träumen,
zerknickt
die Hoffnung die zarten Keime,
ist
Lieb und Seligkeit nur ein Wahn?
Sind
all die Wünsche nur eitle Träume,
zerknickt
die Hoffnung die zarten Keime,
ist
Lieb und Seligkeit nur ein Wahn?
Allegro
affettuoso:
Nein,
nein, das kannst du nicht gebieten,
das
wird dein Vaterherz verhüten,
Gott,
du bist meine Zuversicht!
Nein,
nein, das kannst du nicht gebieten,
das
wird dein Vaterherz verhüten,
Gott,
du bist meine Zuversicht!
Du
wirst zwei Herzen so nicht trennen,
die
nur vereinigt schlagen können!
Nein,
Vater, nein, das kannst du nicht!
Mein,
Vater, nein, der bist du nicht!
Nein,
Vater, nein, du kannst es nicht!
etc.
(der
Journalist ist bereits tief bewegt)
Schall:
Sieh,
liebes Weib, was ich ersonnen.
Jetzt
nehm ich meinen Posten ein,
Und
glaube mir, ich hab gewonnen,
gelingt
es mir, ein Jud zu sein!
Frau
Schall: Versteh ich dich recht? Das glaubt dir doch kein Mensch!
Niemals! Früher vielleicht. Jetzt nicht mehr.
Schall:
Doch,
es muß glücken!
Ich
stelle mich, mit Hut am Kopf,
und
mein Bündel auf dem Rücken
Dorthin,
wo ich sie einst stellte an die Wand.
Mein
Haus, das mußte ich verlassen,
durch
böser Menschen Strafgericht!
Damit
man vergaß mich umzubringen,
spielt
ich den Nazi und wankte nicht.
Ich
sagte damals, ich sei ein andrer,
nämlich
ein SS-Mann mit Namen Schaal!
Heut
hofft' ich wieder, ich wär ein andrer,
am
besten ein Jud mit seinem Schal.
Frau
Schall:
Ach,
Hänschen! Kann die List gelingen?
Ich
glaube nicht, zuwenig plausibel scheint es mir.
Lieber
der Höll' als der Presse entspringen!
Komm,
flüchte lieber, ich folge dir!
Schall:
Das
müßte erst recht Verdacht erregen.
Die
Unschuld muß verwegen sein!
Man
sucht mich sicher auf allen Wegen,
und
holt gewiß den Flüchtling ein!
Nur
als ein Jude kann man Verdacht nicht erregen,
so
einer will ich jetzt sein, so einer will ich jetzt sein!
Nur
ein Jude kann in Deutschland Verdacht nicht erregen,
ich
will einer sein! Ich will einer sein!
(seine
Frau und Prof. Spieß eilen zu ihm und versuchen pantomimisch,
ihn von seiner Idee wieder abzubringen, während Schall schon beginnt,
die Vorhänge herunterzureißen, um sich einen Kaftan zu machen
und sich zu verkleiden.)
(Inzwischen
hört man im Hintergrund das anschwellende Gemurmel wütender
Studenten und Journalisten. Armee!).
6.
Marsch und Soldatenchor aus "der vierjährige Posten"
(in
der Ferne beginnend und immer näher kommend..., während des
Duetts Prof.Schall/Frau Schall:)
Prof.Schall:
So. Sie kommen. Ich muß mich verkleiden! Fort, Liebste, ich
bin jetzt ein andrer!
Frau
Schall: Du darfst jetzt nicht kriechen, bleib immer nur du! Nur
als er selbst lebt ein Mann doch in Ruh.
Prof.Schall
(läßt sich überzeugen):
Du hast ja so Recht, mein Herz, fort mit dem Zeug! (wirft
den Vorhang weg) Mutig voran nun, mit dir an meiner Seit'!
Frau
Schall: Wohlan, ich trau auf dich und die Liebe und bete für
dich!
Prof.
Schall: Nur einen Augenblick, meine Liebste, adieu! Frau Schall:
Ich vertraue dir, Liebster! Und eins steht für mich fest: Was auch
passiert, du wirst immer wieder zu mir zurückkommen!
Beide:
(eng umschlungen) Schicksal, komm! Wir
erwarten dich!
7.Auftritt,
(Soldaten-)Journalistenchor aus: "der vierjährige Posten)
Lustig
in den Kampf,
lustig
aus dem Kampf!
Frisch
durch Sturm und Pulverdampf!
Leser
schäumen, Menschen träumen,
Leser
schäumen, Menschen träumen,
frisch
durch Blei und Pulverdampf!
Geld
und Lieb'und Freude,
junges
Weib mit altem Schwein,
das
ist all unsre Beut'!
Mädchen,
schenkt die Gläser ein,
laßt
die Alten grämlich sein!
(Die
Meute strömt zur Tür herein.)
Schall:
Wer ruft mich?
Journalist:
Verräter! Herab mit dir!
Schall:
Ich
stehe Wacht.
Und
gehe nicht von meinem Platze,
den
ich seit mehr als fünfzig Jahren treu bewacht.
Zuerst
war kurz ich ängstlich noch und feige,
doch
nun steh brav ich wieder hier habt acht.
Als
Opfer wollt ich feig mich drücken,
doch
vor der Presse werd ich mich nicht bücken.
Journalist:
Tollkühner Bube! Auf, nehmt ihn gefangen!
Schall:
Mein Ruf ist heilig, wagt es nicht!
Journalist
und Journalistenchor:
Er
hat seinen Adler treulos verlassen,
und
hat gesagt, er sei Demokrat.
Nun
macht die Presse, daß alle ihn hassen,
weil
er seinen Fehler nie zugegeben hat.
Journalist:
Packt ihn! Wenn nötig, an seiner Ehre!
Schall:
Ihr
wißt, Kameraden,
daß
ich erst abgelöst werden muß.
Meine
Uni hab nie ich verraten,
ein
Germanist blieb ich bis zum Schluß.
Journalist:
Trotze
nur, es erwarten dich Schlagzeil'n,
Dich
erwartet ein grausam Gericht!
Schall:
Verkleidet
als Jud wollt feig ich mich retten,
doch
mein Name hat immer noch Gewicht.
Jetzt
gilt es meine ganze Karriere!
Nun
wanke und weiche ganz sicher ich nicht.
6.Szene
(Quintett mit Chor, Nr.9 aus "Die Zwillingsbrüder"):
Packt
ihn, führt ihn vor Gericht,
Schall:
Haltet,
mich bezwingt ihr nicht!
Packt
ihn, uns entkommt er nicht!
Schall:
Haltet,
hört, was Klugheit spricht!
Laßt
ihn ungeschoren wandeln,
gibt
er zu, was er geschaut.
Nach
Gefallen mög er handeln,
Lieschen
bleibt ihm angetraut.
Nach
Gefallen mög er handeln,
Lieschen
bleibet seine Braut.
Schall:
Alle
Wetter, wollt ihr schweigen!
Fest
bestimmt bleibt meine Wahl.
Über
Berge soll ich steigen,
laufen
soll ich noch einmal?
Niemals!
Leugnen will ich nicht!
Chor:
Nicht?
Nicht? So führt ihn vor Gericht!
etc.etc.
2.
Akt
Rückblende:
fünfziger Jahre. 7. Ouverture: Die Zwillingsbrüder
(Vorbereitungen
für ein kleines Fest bei den Schalls. In einem der westlichen Vororte
von Berlin. Ein kleiner Junge, Michael, läuft herum. Hinter dem
Haus kommt Walter Spieß, er beobachtet, wie die Gäste eintreffen.
Er ist schlampig gekleidet. Die Braut, Frau S., in Lockenwicklern und
Bademantel, hält gerade ihr Schönheitsschläfchen. Ein
Tisch ist für den Nachmittagskaffee gedeckt. Die Gäste spähen
herein zu dem Paar, während Herr Schall versucht, seine Frau mit
Introduction Nr.1 (1.Szene aus "Die Zwillingsbrüder")
zu wecken (Chor im Hintergrund dazu).
Verglühet
sind die Sterne, der Morgen graut
Die
Sonne ist nicht ferne, erwache, o Braut!...
Ihr
Glanz wird bald bescheinen das hochentzückte Paar,
auf
ewig sie vereinen am festlichen Altar.
Und
Lieschen kann noch säumen, beglückte Liebe wacht
Entsage
nun den Träumen, da Wirklichkeit Dir lacht.
etc.
etc.
Schall
(seine Frau an sich drückend): Und jetzt wird es Zeit, unserem
Michael ein paar kleinere und größere Wahrheiten zu eröffnen,
meinst du nicht auch? Na los, Mädchen, zieh dich endlich an! Die
Gäste sind schon alle versammelt.
(Sie
nimmt die Lockenwickler heraus. Der kleine Bub kommt herein.)
Schall:
Michael, wie du weißt, habe ich gerade deine Mutter geheiratet.
Gleichzeitig habe ich aber auch einen Adoptionsantrag für dich
gestellt. Von jetzt an darfst du mich ganz offiziell Papa nennen.
Gäste:
Wie reizend, ein dreifaches Hoch!
(Das
Kind läuft schreiend hinaus.)
Schall
(zur Braut) wenn er 18 ist, werden wir
ihm die ganze Wahrheit sagen. Daß ich nämlich wirklich sein
Vater bin. Das wird ein Schock für ihn sein, aber er wird darüber
hinwegkommen. Und jetzt laß uns feiern, daß wir endlich
eine richtige Familie sind!
Die
Gäste: Wie romantisch, wie wundervoll!
Schall
(zur Braut): ...Außerdem... Ach, Liebste, zum Teufel mit deiner Witwenpension!
Frau
Schall (weinerlich): Zum Teufel mit 57 Mark?
Schall:
Bald wird sich meine Position deutlich verbessern, du wirst schon sehen!
Ich habe so viele Freunde, die nur darauf warten, mir helfen zu können.
Gäste:
Wunderbar... alle ihre Sorgen und Nöte scheinen sich in Luft aufzulösen!
Schall:
Mein liebes Kind, du mußt dir jetzt keine Sorgen mehr machen!
Unsere Zukunft liegt schnurgerade und übersichtlich vor uns. Wie
eine deutsche Autobahn. Los, zieh dich an! Ich habe gerade einen kleinen
Artikel über diese Ratte, diesen Feigling geschrieben, der sein
Vaterland in dessen dunkelster Stunde verließ. Als es ihn doch
am dringendsten gebraucht hätte. Und jetzt fällt er unserem
Deutschland auch noch in den Rücken, dieser Thomas Mann. Er verdient
seinen Zunamen nicht. Die Zeitschrift zahlt nicht viel. Aber jeder Pfennig
bringt uns unserem eigenen Wagen näher.
9.
(nr 2, Duett aus: "die Zwillingsbrüder")
Vor
dem Busen möge blühen
Was
die Liebe dir verehrt
aber
in des Herzens Tiefe
sei
ein Plätzchen mir gewährt!
Wenn
schon lange welkt das Sträußchen
vor
der ewig treuen Brust,
lebe
noch im Herzensgrunde
der
Geliebte, meine Lust.
Liebe
trotzt den Elementen,
sie,
die eine Welt sich schafft.
Freude
lehrt sie, neue Freude lehrt sie,
Leiden
gibt sie Riesenkraft.
Seufzend
zählte ich die Tage
Seufzend
zählte ich die Stunden
Ach!
Die böse Zeit, sie schlich
Tage
wurden mir zu Jahren,
denn
nach Stunden zählte ich...
etc.etc.
Tage
wuchsen mir zu Jahren
denn
nach Stunden zählte ich,
etc.
Doch
wohl, wohl uns, wir sind am Ziele,
wohl
uns. Sie verstrich, die lange Zeit.
O
Himmel, jetzt gib unsern Tage Dauer einer Ewigkeit
wohl
uns, wir sind am Ziele..
etc.
(Walter
Spieß ist in den Vordergrund der Bühne getreten. Er stört
die Gäste, die dem Paar gerührt zuschauen.)
Spieß:
Ich bitte um Verzeihung, wohnt hier die Witwe Schaal?
Prof.
Schulz: Jetzt nicht mehr.
Spieß
(enttäuscht): Oh! Sie ist fortgezogen! Ich habe in Sibirien die ganze Zeit von
ihr geträumt. Ihr Bild hat mich zehn Winter lang gewärmt.
Ich habe gehört, ihr Mann sei gestorben. War einfach zum Anbeißen,
die Frau! Er hat mich gebeten, mich um sie zu kümmern, falls ihm
etwas zustoßen sollte. Ich versprach es. Ein Mann, ein Wort! Nun
bin ich aus der Gefangenschaft entlassen, und mein erster Weg führt
mich zu ihr.
(Inzwischen
ist Frau Schulz hereingekommen, um ihre beste Freundin, Frau Schall,
zu sehen. Sie knöpft ihre Bluse auf, hebt ihr Unterhemd hoch und
zieht etwas Feuchtes in durchweichtem papier heraus.)
Frau
Schulz: Für dich, Liesl! Ein Geschenk.
Frau
Schall: Ilse! Koteletts! Aus dem Osten? Du bist ein Engel!
Frau
Schulz: Und zu einem guten Preis. Die haben ja kaum noch was. Eins
kann ich dir sagen - die Kommunisten sind bankrott!
Frau
Schall: Wir haben doch auch nicht viel. Früher wußte
ich, wie man gut wirtschaftet. Aber heute? Die Miete muß bezahlt
werden, da hilft nichts. Da läßt sich nicht viel auf die
hohe Kante legen.
Frau
Schulz: Warum eßt ihr denn nicht Margarine anstatt Butter?
Frau
Schall: Nein, das ginge denn wirklich zu weit! Das kann ich meinem
Hans nicht zumuten! (zu ihrem Sohn) Michael, du legst das Fleisch
auf das hintere Fensterbrett! Mein Herzensschatz nennt mich manchmal
Kind, aber ich bin kein Kind. Ich bin eine schon etwas ältliche
Braut.
10,
(Nr.3 aus "die Zwillingsbrüder") Arie
Mein
Liebster mag wohl immer Kind mich nennen.
Ich
weiß, daß ich kein Kind mehr bin.
Wo
wäre denn mein kindlich froher Sinn?
Der
Busen glüht,
die
Wange fühlt ich brennen
Ich
weiß, ich weiß, daß ich kein Kind mehr bin.
Sonst,
flog ich,
kaum
von Vögeln zu erreichen
und
sang mein Lied wie sie aus froher Brust.
Doch
jetzt, doch jetzt, der Schnecke gleich
sieht
man mich schleichen,
und
Seufzer schwellen mir die Brust;
Ich
weiß, daß ich kein Kind mehr bin.
Sonst
hörte ich mein Taubenpärchen girren,
ich
sah die Zärtlichen und freute mich.
Doch
jetzt, ihr süßes Spiel kann mich verwirren
Ich
fühle... oh was fühle ich?
Diese
Sehnsucht dieses Ahnen dieses Brennen,
Dies
Wohl und Weh fühlt nicht des Kindes froher Sinn.
Mein
Liebster mag wohl Kind mich nennen.
Ich
weiß, daß ich kein Kind mehr bin
etc.
(Spieß
lauscht gerührt)
Prof.Schulz:
Jaja, Sie hören ganz richtig, das ist sie! Aber ich muß Sie
enttäuschen. Sie hat sich gerade wieder verheiratet. Die Zeiten
sind nicht mehr romantisch, jedenfalls nicht mehr so wie früher.
Wir haben jetzt so viele Sorgen und Probleme. Unser Deutschland blutet
aus so vielen Wunden. Allerdings, wenn Frau Schall dort in Sibirien
ein bißchen Wärme in Ihr Leben gebracht hat, dann haben Sie
doch alles, was Sie sich nur wünschen konnten, von ihr bekommen.
Hier ist ihr neuer Mann. Ein gewisser Herr Schaal. Er ist ein guter
Mensch. Sie ist sehr glücklich.
Spieß
(verblüfft, da er Herrn Schalls ansichtig
wird): Na, das freut mich aber zu sehen, daß der neue Ehemann
sogar in jeder Einzelheit noch genau so gut ist wie der alte.
Schulz:
Wie haben Sie Herrn Schaal denn kennengelernt?
Spieß:
Wir waren imselben Gewerbe.
Schulz:
Ein Gelehrter sind Sie? Willkommen! Das sind wir alle hier. Auch Herr
Schaal ist Gelehrter. Ein glänzender Kopf! Er hat gerade einen
eindrucksvollen Artikel über Thomas Mann geschrieben. (die
übrige Gesellschaft hört ihnen jetzt zu) Haben Sie schon
gelesen, Eduard? (wild) Er gibt ihm Saures!
Spieß:
Ihr erster Ehemann war auch schon ein hervorragender Gelehrter. Wir
haben zusammengearbeitet. Und dann hatte ich leider Pech. Jedenfalls
mehr als er, seinen Tod mit eingeschlossen. Das Schicksal hat mich herumgeschleudert
wie ein leckes Boot auf den Wellen. Ich landete im weißen Permafrost
Sibiriens.
Nr.11
(Nr.4 aus "Die Zwillingsbrüder") Arie:
Mag
es stürmen, donnern, blitzen
öffnen
mag die See den Schlund.
Auf
der Wasserberge Spitzen
und
des Meeres tiefstem Grund
zeigt
der Schiffer hohen Mut
trotzend
der erzürnten Flut
(etc.)
(Die
Gesellschaft schweigt, sehr gerührt. Wann immer Schulz spricht,
stimmen sie ihm zu, murmeln manchmal auch zustimmend mit..)
Schulz:
Jetzt müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen, Herr... Herr...äh...
Alle:
keine Sorgen mehr... keine Sorgen mehr...
Spieß:
Gestatten.. Walter Spieß mein Name.
Prof.Schulz:
Herr Professor Spieß! Es ist mir eine Ehre! Willkommen daheim.
Bessere Zeiten können wir Ihnen allerdings nicht anbieten.
Spieß:
Ja. Wie ich höre, muß man sich jetzt mit den Besatzungsmächten
arrangieren. Die haben keine Ahnung von Deutschland und werden mir gewiß
jede Menge idiotischer Fragen stellen. Die Amerikaner sind ja von Natur
aus nicht sehr helle. Das kommt vom Kaugummikauen. Das erzeugt eine
permanente Gehirnerschütterung, habe ich mir sagen lassen.
Schulz
(aufgeregt): Sie sagen es! Können Sie sich das vorstellen... Ich muß
meine Stelle mit einem Juden teilen, den ich 1933 persönlich entfernt
habe, und dessen Bibliothek unter unsere Kollegenschaft aufzuteilen
ich dann 1937 die Freude und das Vergnügen hatte. Dann, ohne einen
Funken von Scham, kam dieser Mensch 1946 einfach wieder zurück,
können Sie sich so etwas vorstellen? Verlangt der doch glatt seine
alte Stelle wieder, und die Amis, die über keinerlei natürliches
Taktgefühl zu verfügen scheinen, haben sie ihm auch noch gegeben!
Und nur weil ich mir während der Nazizeit nichts zu Schulden kommen
ließ, - immerhin habe ich keinen persönlich erschossen! -
haben sie mir zugemutet, der Kollege dieses Juden zu werden. Dr.Spieß,
falls Sie in Ihrem Sibirien geglaubt haben sollten, Deutschland sei
immer noch das Paradies wie früher, dann haben Sie sich aber gründlich
getäuscht. Sie können sich auf etwas gefaßt machen!
Aber immerhin, die Heimat hat uns wieder: schauen Sie nur, der Tisch
ist schon für Kaffee und Torte gedeckt! (er geht ab, läßt Spieß allein zurück)
13
Nr.6 (Achtung: wechselt zwischen 12 und 13!)
Arie
Spieß:
Liebe
teuere Mutter Erde,
sieh
dein Kind, es kehrt zurück.
Nur
am heimatlichen Herde
fühlt
man ganz das Lebensglück.
Hütten,
Hügel, Sträuche, Bäume,
alte
Freunde steht ihr hier
Himmels
Wonne, süße Träume,
meine
Jugend zeigt ihr mir.
Schall
(tritt ein, entsetzt, erschrocken): Spieß!
Du lebst!
Spieß:
(drohend) Hans. Ich muß schon sagen:
sehr tot siehst du mir aber nicht aus. Ich bin den ganzen weiten Weg
hierher gekommen, um deine Witwe zu heiraten. Und jetzt scheine ich
vollkommen fehl am Platze zu sein.
Schall:
(zu Schulz) Den wollen wir hier nicht!
Der wird uns alle noch unsre Jobs kosten! (flehend
zu Spieß) Spieß! Du bist doch einer von uns! Ein Mann
mit Prinzipien. Zerstöre unser Glück nicht, ich flehe dich
an!
(Inzwischen
hat auch Frau Schall den Besucher gesehen)
Frau
Schall (entsetzt): Er wird meine Ehe zerstören. Als er mir die Nachricht brachte,
daß Hans im Kampf um Berlin gefallen sei, da habe ich darauf reagiert
wie jede Frau, die nach Zuneigung hungert.
12.
(nr.5 aus: "Die Zwillingsbrüder". Quartett) Spieß,
Schall, Schulze, Frau
Schall
Spieß:
Zur
rechten Zeit bin ich gekommen.
Zu
spät vielleicht, so scheint es mir.
Schulze:
Er
deute sich zu seinem Frommen,
was
warnend ihm vor Augen steht.
Lieschen/Frau
Schall:
Ich
stehe wie vom Blitz getroffen, der böse Spieß,
weh
uns, er kam, weh uns, er (kam) ist...
Schall:
Verzage
nicht, o lass uns hoffen, er ist doch auch ein
Germanist!
(dein Hänschen bleibt dein Bräutigam)
Schall,
Lieschen/Frau Schall:
Im
Sturme laß uns mutig stehn
Spieß:
wie
wird es mit der (Hochzeit) Zukunft gehn?
Schall,
Lieschen/Frau Schall:
Wer
trennt treue Herzen?
Spieß:
(Bin
ich der Bräutigam, ists er?) Ich bin ein Germanist.
Und
er? Wie zärtlich dort die Täubchen stehn.
Schulze:
Ist
jener dort (der Bräutigam) der Germanist? Ists er?
Wie
wird es (mit der) in der (Hochzeit) Zukunft gehn?
Lieschen/Frau
Schall, Schall:
Wer
trennt treue Herzen? Daß wir uns lieben, mag er ja sehen.
Der
Störenfried! Der Satan der!
Daß
wir uns lieben, mag er ja sehen
Spieß:
Wie
mitleidsvoll sie auf mich sehn, die Schelmin,
der
Satan der...
Schulze:
In
Luft und (Meer) Schnee kann er bestehen
(aus
Algier kommt er glücklich, kommt er glücklich her),
Sibirien
bringt er, Kälte bringt er zu uns her... (etc.)
Werter
Herr Professor Spieß, ich muß Sie dringlich bitten, uns
die Stimmung wenigstens an einem solchen Tage nicht zu verderben! Wir
werden Ihnen natürlich eine Stellung verschaffen. Sie sehen mir
ganz nach einem erstklassigen Akademiker aus. Und jetzt lasset uns essen
und unsere Gläser auf das glückliche Paar erheben!
Prof.Spieß:
Abgemacht! Kompliment angenommen. Die Stelle auch. Aber Hans (er zieht ihn beiseite) dieser Artikel,
den du da gerade über Thomas Mann schreibst... hast du da nicht
noch'nen Trumpf im Ärmel? Mensch, es wird langsam Zeit, daß
du endlich ein Buch schreibst! Das Buch zur Zeit. Etwas, tja, etwas,
wie soll ich sagen, also etwas, äh... Demokratisches vielleicht.
So schlimm ist das nun auch wieder nicht...! Wir müssen jetzt leider
unsere Taktik ändern, Hans!
Hans:
Wer ja sagt zur Demokratie, der sagt auch ja zur Demagogie! Aber was
soll uns das noch kümmern? Uns hat das schon genug Ärger eingebracht!
Spieß:
Und dem sollte man in Zukunft doch lieber aus dem Weg gehen, meinst
du nicht? Jetzt müssen wir den aufrechten Gang üben. Die Demokratie
braucht Leute mit Rückgrat. Sie braucht jemand wie dich, Hans!
Und wenn du dabei auf einem dicken Buch stehst, wirst du sogar noch
viel größer aussehen!
Hans
(kapiert noch nicht): Wenn die Zeiten so hart sind, ist es schon hart, lange Artikel zu
schreiben. Aber ein Buch! Mensch!... Das ist etwas, das ich mir aufhebe,
wenn ich mal etwas freie Zeit habe...
Spieß:
Sei doch nicht so entsetzlich bescheiden, Hans! Veröffentliche
was du hast! Ich erinnere mich, einmal ein dickes Manuskript auf deinem
Schreibtisch liegen gesehen zu haben.
Hans:
Spieß, du hast schon immer gute Ideen gehabt! Was waren wir damals
doch für ein gutes Gespann! Und gemeinsam werden wir den Karren
auch wieder aus dem Dreck ziehen! Spieß: Laßt uns also auf
das neue, bessere Deutschland trinken! Auf Treue und Loyalität!
14.
(Nr. 7 aus: "Die Zwillingsbrüder") Duett mit vielen Männerstimmen,
die mit Spieß und Schulz mitsingen.
Nur
dir will ich gehören,
bestehen
soll der Schwur.
Und
unser Glück nicht stören
des
kleinsten Zweifels Spur.
Den
Schützer treuer Seelen
sei
süßer Dank geweiht,
bei
dir, was kann mir fehlen?
Was
fehlt der Seligkeit? (etc.)
3.
Akt
(Stille)
(Ein
Salon mit vielen Büchern, ein Klavier. Die Tür wird krachend
eingetreten. Eintritt SS Obersturmführer Schaal in Uniform. Er
schlendert im Zimmer umher und betrachtet die Bilder. Macht hier und
da etwas wie beiläufig kaputt. Er sieht einen Phonographen, eine
Schallplatte darauf, bereit abgespielt zu werden. Er stellt das Gerät
an. Adagio aus Schuberts C-Dur-Quintett. Es gefällt Schaal sichtlich.
Er mustert ein Bild an der Wand, nimmt es ab. Er studiert die Bücher,
notiert sich Titel. Papiere liegen auf einem Tisch. Er hebt sie auf.
Ein Manuskript. Die Platte bleibt hängen, wiederholt immer wieder
dieselbe Stelle. Er dreht den Phonographen ab, studiert die Papiere.
Liest laut den Titel: "Der Ursprung der deutschen Komödie".
Er steckt das Manuskript achselzuckend in seine Schultertasche.)
(Die
Bühne verwandelt sich.)
1995,
Salon bei den Schalls. Schall sehr elegant gekleidet, trägt alle
seine Orden. Sieht sehr jung und auch gut aus für sein Alter.
13.
(aus: "der vierjährige Posten", Nr 6, Marsch und Soldatenchor)
(Die
Journalistenmeute strömt zur Tür herein. Sie umringen Schall
an einer Seite, an der anderen die Professoren.)
Chor
der Journalisten (leise im Hintergrund, und zwar wie 7.Auftritt, 1.Akt,
nur eben p! Nicht f!):
Lustig
in den Kampf! lustig in den Kampf!
Frisch
durch Sturm und Pulverdampf!
Leser
schäumen, Menschen träumen,
frisch
durch Blei und Pulverdampf!
etc.
etc.
Währenddessen
laut, im Vordergrund, von jeweils einzelnen gemeinsam gesprochen:
Chor
der Professoren:
Er
wußte nichts. Er wußte nichts.
Und
wenn doch, was hätte er tun solln?
Und
wenn doch, was hätte er tun solln?
Journalisten:
Dreist
ist er. Und kalt ist er. Eben ein Unbelehrbarer.
Professoren:
Jetzt
ist er alt. Er hat bezahlt.
Journalisten:
Aber
nicht in der alten Gestalt.
Jetzt
ists mit seiner Karriere aus.
Alle:
Jetzt
weiß es jeder. Jetzt ist es raus.
Professoren:
Wer
zuletzt lacht, lacht am besten.
Und
das Schicksal lacht immer am lautesten.
Journalisten:
Ja,
wir haben alle das Schicksal lachen gehört!
Es
lacht immer denselben.
Schall:
Ich
gebe mich, wie ich versprochen.
Doch
seh ich nicht, was ich verbrochen.
Da
ich nicht von der Fahne lief.
Da
trat ich gern auch Türen ein,
zum
Glück war keiner mehr daheim,
als
der Befehl nach Osten rief.
Meine
Pflicht habe nie ich vergessen,
mir
war kein Fehler beizumessen.
Nur
ein paar Bücher wollt ich dort holen,
Das
Wissen gehört allen, ich habs nicht gestohlen!
Und
als ich mich herunter wagte,
Und
spät nach meinen Brüdern fragte,
war
von Soldaten nichts mehr zu sehn,
daher
konnt auch ich nach Hause gehn.
Das
habe ich also gern getan,
traf
Frau und Kind dort munter an.
Hab
statt der Pistole ein Buch genommen
und
mich nie mehr danebenbenommen.
Frau
Schall:
Und
weil er fleißig war und treu,
ist
er heute wieder wie neu.
Prof.Schall:
Was
mal üblich war, tut man nicht mehr, nein,
ungebeten
geht man nicht in eine Wohnung hinein.
Nie
wieder! Ich versprech's!
Von
gestern wollen wir schweigen,
uns
als anständige Demokraten zeigen.
Nur
noch die Zukunft zählt für uns heute
Vergeßt
was vergangen, hört auf mich, Leute!
Alle:
Und
weil er fleißig war und treu,
ist
er heute wieder wie neu. Frau Schall:
Tausend
Jahre erscheinen mir wie ein einziger Tag.
Es
ist vorbei. Drum laßt ihn jetzt frei!
Es
ist vorbei. Drum laßt ihn jetzt frei!
Alle:
Es
sei!
(Journalisten
ab)
14.
(Finale vierjähriger Posten) Ensemble:
Schöne
Stunde, deine Worte lügen nicht.
Schöne
Stunde, die uns blendet,
Glück,
wie hast du dich gewendet.
Deine
Wörter lügen nicht!
Der
nur kennt des Lebens Freude,
der
nach wild empörtem Streite
ihre
schöne Blüte bricht!
Schöne
Stunde die uns blendet
Glück,
wie hast du dich gewendet,
deine
Wörter lügen nicht!
Bild
aus: "Der Spiegel" 48/2003
1.12.2003