oh mein PapaIch sage kaum jemals Ich, wenn ich mich in meinen Texten meine. Aber jetzt bevölkere ich diejenigen, die das lesen, mit Freunden, solange bis alle Freunde sind (keine Angst, das wird nicht passieren!), und sage ihnen etwas von mir. Um die Körper ist leider Fleisch gewachsen, und das hält unglaublich viel aus, das hält ja nichts aus. Hunger und Kälte können in ihm herumgehen, und irgendein Maß sagt, wann es voll ist. Es gibt natürlich die vielen, die sich selbst respektlos nennen und unabhängige Denker, die das Ergebnis ihres Denkens nicht erkennen würden, jedenfalls nicht vorher, erst wenn es ihnen über die Zehen fährt (jeder ein ganzer Verband der Unabhängigen für sich allein!), und nicht fortwährend von diesen Dingen sprechen oder hören wollen, sie wollen lieber auf sich selber stolz sein, indem sie denen, die dauernd davon sprechen, die Sicherheit ihrer Existenz nicht zugestehen wollen (wie moralisch verwerflich es doch sei, sagen diese Unabhängigen, von dem hohen Roß der Sicherheit herunter, an dessen Mähne wir uns alle klammern, Zensuren auszuteilen, da man selber doch nicht gefährdet sei). Na ja, runterfallen kann man immer. Man steht ja niemandem, und es steht einem niemand mit einer Pistole, einem Beil, einer MP, einem Prügel gegenüber, daher soll man besser stillschweigen und in aller Ruhe auf die nächste Gefährdung warten (alles Große steht schließlich im Sturm), da man endlich sein Sein, damit es ordentlich beschäftigt ist, in Frage stellen und diesen Sturm wieder mal so richtig wehen lassen darf, an der Haltestelle, wo die Gefahren einfahren und uns mit einbringen wollen, als "Ernte", wie ein schöner Paula-Wessely-und- Attila-Hörbiger-Film geheißen hat. Aber selber einfahren sollten wir besser nicht. Nur das gefährdete Sein darf offenbar, in Ernst, Härte und Schwere, die dem Sein von Geburt an im Matador-Baukasten dazuge legt worden sind, damit man sie irgendwo mühsam hineinstecken muß und die Hand dann schön zittert, über Gefährdung sprechen. Das Ungefährdete spricht Kreide, das ist leicht wegzuwischen, außer irgendein Politiker hat sie gegessen, um sie vor Publikum publikumswirksam von sich zu geben. Was habe ich hier gefunden? Ich habe gefunden ein Blatt Papier mit dem Briefkopf Der Reichsstatthalter und dem geprägten Adler, der das Hakenkreuz in den Krallen trägt, vom 5.7. 39, Unterschrift: irgendein SS-Untersturmführer (Name unleserlich), für den Reichskommissar: ein Dr. Wächter e.h., und das Schreiben ist gütig hingeneigt zu meinem lieben Papa, dem Herrn Friedrich Jelinek, Vize-Insp.d.städt. E-Werke (keine Ahnung, daß er das je gewesen ist, ein Beamter halt, mit Pensionsberechtigung), und das Schreiben sagt, daß mein Papa auf Grund des §3 (das Zeichen ist eckig gedruckt, irgendwie zackig, wie die SS-Runen, ihnen sozusagen angeglichen, aber das sehe ich sicher nur in meiner hysterischen Paranoia so), Abs.1 der Verordnung zur Neuordnung des österr. Berufsbeamtentums vom 31.5., RGBL.I, S. 607, mit Ende des Monates Juli 1939 in den Ruhestand versetzt wird. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung steht Ihnen nicht zu, steht hier. Schon kommen Leute dahergelaufen, im Laufen brüllen sie stumm, nein sie verstummen laut, ach was, diese Geschöpfe spucken einen beim Reden noch aus, so sehr verachten sie einen, sie schreien mich pausenlos an, daß ich da mit Entsetzensausdrücken eines anderen Menschen mir selber einen Opferstatus verleihen möchte. Ich möchte mir demnach das Leiden meines Vaters und das seiner Familie an die Brust heften wie einen Orden, wie das kleine Jodelphon der beliebten Souvenirbären, die ihre Töne von sich geben, wenn man ihnen auf den Bauch drückt, immer dieselbe kleine Melodie, Holaretiü. Das wird mir bedeutet, und daher bedeutet es ein für allemal: nichts, was ich sagen könnte - nichts halt. Es ist bekannt und muß nicht mehr ausgesprochen werden. Entsetzlich, grauenhaft, schrecklich, das gebrauchen Leute wie ich angeblich inflationär, und wir weisen Schuld zu, damit wir selber zu den Schuldlosen gehören können, ein Zustand, dessen wir aber auch wieder nie gewiß sein dürfen. Schon unser Gewissen müßte uns dran hindern, einer Sache gewiß zu sein, denn unser Gewissen müßte uns immer in Angst halten, dessen sind sich die Gegner der sogenannten ewig Mahnenden gewiß. Die vergangenen Untaten sollen dem individuellen Gewissen unterworfen werden, sie sind Privatsache des einzelnen, sagt Martin Walser sinngemäß, nein, leugnen tun wir nichts, es soll nur nicht - im Sinne eines sich einigen Kollektivs - öffentlich, womöglich bei irgendwelchen Festakten, davon gesprochen werden. Was bleibt, stiften eben nicht die Dichter. Was bleibt, bleibt eben und aus. Was liegt, das pickt. Das einzige, was man noch geltenlassen könnte, wäre folgendes: Man holt das, was als Gedächtnis in einem verborgen ist, hervor und zeigt es, und dann steckt man es wieder ein. Es ist ja unwiederholbar, und daher ganz besonders wahr, weil es nur einmal, für einen einzigen Menschen, stattgefunden hat, und nur durch Unterschiede unterscheiden sich schließlich die Menschen. Jeder weiß um die Untaten der Vorgänger, sie sind gleichzeitig versteckt, diese Untaten (es sind ja nur wenige dafür wirklich zur Rechenschaft gezogen worden) und vor aller Augen. Was wir alles durchgemacht haben, die wir gar nichts durchgemacht haben! Nur eine Frage könnte uns eine Antwort geben. Was war, ist wahr, wer würde es zu leugnen wagen, wir sagen die Wahrheit darüber und schieben es dem, was da war, zu wie eine Murmel; jeder hat seine eigene, manche versuchen, möglichst viele zu sammeln, bis das Murmeln beinahe unerträglich anschwillt. Das was war, ist immer wahr, die Aussagen darüber sind es aber schon nicht mehr. Und doch kleben sie zäh, jede einzelne von ihnen, und es sind inzwischen sehr viele, kleben sie also am Vorhandenen, als gehörten sie dazu, um ein Miteinander zu konstituieren. Soviel haben wir sogenannten Nachgeborenen bisher immerhin geschafft. Aber da tritt schon wieder einer gegen die Tür, weil wir das Klingeln, das schon recht lang erschallt ist, nicht gehört haben. Viele wollen inzwischen nicht mehr, daß es dieses Miteinander gibt, sie wollen lieber allein was sagen dürfen, und dann wollen sie, als nächstes, daß nur sie, als einzige, etwas sagen dürfen. Sie wollen, daß etwas nur dann gesagt werden darf, wenn sie es sagen, und sie sagen unaufhörlich, daß nichts mehr gesagt werden soll, außer eben von ihnen, und dann klagen sie an, daß schon alles gesagt ist, nur leider nicht von ihnen, zumindest nicht alles. Das wird jetzt alles anders, da sie es sagen. Sie wollen, daß das wahrere Wahre, das eigentlichere Eigentliche zwischen dem was war und der Aussage darüber liegen soll, und das alles liegt zufällig immer genau dort, wo sie sind, und sie sind dieser Dinge endgültig überdrüssig, und zwar als einzige. Oder vielleicht weiter: Gerade dadurch, daß uns übrigen, die wir uns auf eine gesellschaftliche Übereinkunft des Nie Wieder als einer Selbstverständlichkeit beziehen, die Geschichte nicht aufhört zu sein was sie ist, bleibt sie uns - die wir dauernd den Mund offenstehen haben vor Staunen, daß soviel gewesen sein kann, was wir uns nicht vorstellen können - angeblich verborgener als denen, die uns unterstellen, wir sähen nicht, daß notwendigerweise nichts sicher sein kann. Vor allem wir selbst nicht. Vor allem wir unsrer selbst nicht. Wir sind uns so sicher, dürften es aber gar nicht sein. Wir haben keinen Grund, irgendeiner Sache, und wäre sie tausendmal geschehen, sicher zu sein, und wenn sie geschehen ist, dann kann man immer noch über die Gründe streiten, und wenn über die Gründe Einverständnis herrscht, dann ist immer noch die Frage, ob wir uns damit überhaupt noch beschäftigen sollen. Das und vieles andre wird uns derzeit gesagt. Na ja, drehen wir es noch einmal um und schauen wir es uns noch einmal an. Was sollen wir uns anschauen, wir sehen ja schon lang nichts mehr?! Was, es kommt Ihnen immer noch bekannt vor? Geben Sie zu, daß es wirklich nur Ihnen jetzt noch bekannt vorkommt! Die Dinge sind zw ar geschehen und wahr, aber zu ihrer Eigenschaft gehört eben auch, daß sie gleichzeitig nicht geschehen und unwahr sein könnten, denn es kann ja ein jeder kommen und sie wieder auslöschen und mit gleichem Recht wie jeder andre etwas ganz andres sagen. Nein, eigentlich kann keiner etwas ganz anderes sagen, aber er kann das, was anders sein könnte, immer noch anders sagen, am besten wäre jedoch, ja, das ist es: Man sagt am besten gar nichts mehr, denn es ist zuviel gesagt worden, vieles Unwahre dazu, und das auch noch von den Falschen, die sich davor überdies noch keinen Berechtigungsschein fürs Aufsagen geholt haben. Leider kann ja jeder etwas zu jedem sagen, auch die Unberechtigten. Die können wir dann berichtigen, aber mit dem Berichtigen kommen wir auch schon kaum nach. Die Wahrheit ist ein Gebrauchsgegenstand, aber nicht jeder macht sich gern Arbeit damit, auch wenn das Ergebnis vielleicht gut ausschaut. Und daß etwas Gebrauchsgegenstand ist, heißt noch nicht, daß man damit umgehn kann. Und irgendwann ist die Wahrheit subjektiv, und es ist Sache des Subjekts geworden, sie zu erklären. Eine objektive Wahrheit gibt es demnach nicht, daher kann man sie leugnen, denn jede Wahrheit gehört allein ihrem Besitzer und ist für jeden anderen: unwahr. Jede gehört zu ihrem jeweiligen Subjekt (wer soll denn das wieder sein?), und darunter sind schon viele trübe Subjekte durchgetaucht und haben es, ungefährdet von uns, bis ins hohe Alter gut überstanden. Es ist das alles wie mit unsichtbarer Tinte schreiben: da steht es ja, und gleichzeitig ist es weg. Die einen sehen immer genau, was da steht, aber die Cleveren, die sehen nichts, behaupten aber, als einzige im Unsichtbaren das eigentlich Wichtige sehen zu können. Und umgekehrt. Das Unsichtbare schaut sie an, und sie sind die einzigen, die gerade darin etwas sehen können. Über Geschmack läßt sich streiten, über alles andre aber auc h. Schwamm löscht ebenfalls aus, es kommt nur drauf an, womit geschrieben wurde. Schwamm drüber. Aber auslöschen dürfen wir nicht sagen, das ist ein Wort des Verborgenen und des Unverborgenen gleichzeitig. Es ist kein Wort. Es ist vorhanden. Es ist nicht vorhanden.
Da nehme ich also dieses Blatt Papier, aus dem ich vorhin zitiert habe, ich habe es noch nie in der Hand gehabt, ich habe es noch nie betreten, aber jetzt bin ich selber ganz betreten, obwohl ich es nicht sein dürfte. Zumindest sollte ich still sein. Wir wissen es ja schon. Ihr Papi war nur einer von vielen, wir sind viele mehr, wir sind viel mehr, und Erkennen heißt noch nicht Sich Auskennen. Mich geht das Leben meines Vaters und seiner Familie was an, es ist meine Privatsache, nein, es geht mich nichts an, ich habe nicht das Recht, irgendwelche Kollektive, die ich im einzelnen gar nicht kenne, für die Sache von meinem Papi einzuspannen und für die der andren, die ich persönlich nicht einmal gekannt habe, schon gar nicht. Kein Recht. Vielleicht habe ich ja recht, aber ein Recht habe ich nicht. Man kann ja recht gut leben, ohne solche Sachen immer dem Verborgenen aus den Händen zu reißen, wo sie ordentlich geborgen wären, kämen nicht dauernd welche wie ich daher. Halt. Anmaßung. Genau das hassen wir ja so an Leuten wie Ihnen, Frau Jelinek, Tochter von Friedrich, daß sie mitsamt ihrem ranzigen Pathos in ihren Bergschuhen dahergekraxelt kommen, bis in die Fernsten Ferner, ich meine Fernen, nur damit sie nicht unter ferner liefen rangieren, sondern sich hervorheben können, mittels des Leids von Fremden. Bitte, Sie kennen Ihren Papi, dieses Subjekt, was wissen Sie schon von ihm, er ist ja längst tot; und wir kennen ihn jedenfalls auch nicht. Aber was verborgen ist bleibt wie es ist, auch wenn man es nie der Gletscherspalte entnimmt, weil soviel Eis drüber gewachsen ist, daß das Gras schon lang nicht mehr zum Wachsen gekommen ist. Es ist nicht einmal notwendig, um Betroffenheit (nein, dieses Wort wollen wir aber auch gar nicht hören! Wenn Sie es haben, dann lassen Sie es bitte nicht hören!) zu erzeugen, etwas hervorzuholen und es zu zeigen. Aber man kann sich auch dafür entscheiden, es zu zeigen. Was wird an mir und anderen gerügt? Daß ich (ebenso wie diese anderen) eben dauernd aufzeige und sage, bitte ich weiß was. Da es alle wissen, kann ich ja genausogut den Mund halten. Doch was ich (und natürlich viele andre, viele mehr als ich je sein könnte) immer wieder herausholen, und wäre es immer wieder dasselbe und könnte es keiner mehr hören, ist immer noch nicht einfach selbstverständlich vorhanden dadurch, daß es da ist und nicht geleugnet wird (kaum jemand leugnet die vergangenen Verbrechen noch, zumindest öffentlich traut sich das kaum einer mehr, es quillt nur manchmal durch die Ritzen, weil noch immer zuviel davon vorhanden ist, aber das leugnen wir entschieden. Es war da, zugegeben, aber jetzt ist es weg), es ist eben das Vorhandene, aber es ist verschwunden, und trotzdem gebe ich ihm das, was ihm zukommt, obwohl ich dazu gar nicht berechtigt bin.
Erschienen in: Das jüdische Echo, 50 Jahre Jubiläumsnummer, Dezember 2001, Wien Lüftl |