Die brennende Hosenhaut

 

Am 30.5. 09, abends, hat sich ein verzweifelter 29-jähriger Asylwerber aus Pakistan am Welser Bahnhof angezündet. Er wollte seinem Leben ein Ende setzen, weil er mit 180 Euro monatlich nicht leben kann. Ein Augenzeuge löschte die Flammen mit einem Teppich, der 26-Jährige erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Sein Zustand ist inzwischen aber stabil. Der junge Mann sagte vor seinem Selbstmordversuch noch, das Leben in Österreich sei schlecht, er wolle nicht mehr leben. Danach nahm er sein Feuerzeug und zündete seine Hose an. So wird ein Vorfall gemeldet. Und es melden sich nicht Feuermelder, sondern in den Zeitungen die Poster, die das kommentieren, in der bewehrten Art, nein, kein Tippfehler: Bei allem Verständnis aber eines verstehe ich nicht!!!! schreibt einer. Wieso wird hier darauf vergessen zu erwähnen, daß ein Asylant freie Unterkunft und Verpflegung hat und kostenlos krankenversichert ist ???? Diese 180 Euro sind bitte Taschengeld! Habts ihr überhaupt eine Ahnung wieviele Obdachlose es alleine in Wien gibt??? In welchen menschenunwürdigen Verhältnissen diese leben müssen??? Und da meinte dieser Asylant es ginge ihm schlecht???? Und ein andrer postet: Er hätte ja immer noch heimfahren können! Mit 180 Euro kriegt er sicher ein Zugticket bis zur Grenze von Pakistan und dann zu Fuß weiter. Es gibt Mindestrentner die haben nach Abzug von Miete, Strom etc. auch nicht mehr zum leben!  (alles wörtlich abgeschrieben)

Es entzündet sich einer selber, und daraufhin entzündet sich eine Diskussion, wieviel man zum Leben brauche, was dem Asylanten bezahlt werde, was nicht, ferner was übrigbleibt oder was und warum ihm nichts andres übriggeblieben wäre, etc. Jetzt wird der Herr auch nicht mehr abgeschoben, wetten? Schreibt einer der Postzusteller. Und zu allem Überfluß kommt uns der Migrant jetzt erst so richtig teuer. Eigentlich müßte der löschende Augenzeuge die Kosten übernehmen. Und so fort. So wird es fortgeschrieben, von einem Posten zum nächsten. Fort kann der Pakistani jetzt nicht mehr, im Moment nicht. Es gibt natürlich auch andre Stimmen, die dem widersprechen, das muß man dazusagen. Es gibt immer auch andre Stimmen, aber im Chor hört man sie nicht mehr so gut. Die schmetternden Hetzstimmen hört man besser.

Es wird unaufhörlich gesprochen, miteinander, gegeneinander, alles, was denkbar ist, wird gesagt, auch wenn es undenkbar ist. Es wimmelt von Stimmen. Das Undenkbare wird sogar am liebsten gesagt, weil man alleine es sich zu denken traut. Es wird etwas gesagt, und was nicht dafür spricht, wird sofort als dessen Verneinung genommen, und die Verneinung ist etwas Negatives. So sind die sogenannten Gutmenschen (die natürlich immer auf Kosten andrer gut sein, diese andren dabei schlechtmachen und schlecht aussehen lassen und dann auch noch zur Kasse bitten wollen), auf die jetzt seit Jahren eingeprügelt wird, bis sie lächerlich geworden sind, längst lächerlich und ein beliebtes Schimpfwort für beinahe jeden, der es versteht, und in schweigender, aber auch lauter Übereinkunft verstehen es längst alle, so sind also diejenigen, die für Humanität sprechen, zu den Inhumanen geworden im öffentlichen Bewußtsein. Und die neuen Humanen verherrlichen die Brutalität. Da fühlen sie sich gut dabei. Soll er sich doch anzünden, der Ausländer, dann wird er schon sehen, daß es woanders auch nicht besser ist, er hätte daher gleich in dem Anderswo bleiben sollen, von wo er hergekommen ist. Was für die neuen Inhumanen eine Tatsache ist, nämlich daß die Gutmenschen ein Dreck sind und der Gemeinschaft, die sie überstrapazieren mit ihren ruinösen Forderungen, nur Schaden zufügen, reduziert wiederum das Objekt ihrer Verachtung, jenen Gutmenschen (und der hat kein Einspruchsrecht, verachtungsvoll so genannt zu werden), zum bloßen Objekt seines Tuns. Der Gutmensch ist nichts andres als das Gute, das er tut oder tun will. Er ist nichts darüber hinaus. Er ist daher nichts. Vor allem: Er denkt nicht nach. Er denkt vorher nicht nach. Er will Gutes tun, aber am falschen Objekt, das für ihn jedoch das wahre Objekt ist, weil es ein Außerhalb darstellt. So vermeidet er sich selbst, der Gute. Er vermeidet auch das Nachdenken. Der Gutmensch kümmert sich immer nur um Sachen, die außerhalb von ihm stattfinden. Er wohnt in einer Villa im Luxusviertel und maßt sich an, über andre zu urteilen, die ständig an die Ausländer anstreifen müssen und sich dabei dauernd Schrammen und Kratzer im Lack holen. Was haben denn die Ausländer Hervorragendes geleistet? Nichts. Er denkt nicht, der Gute, er maßt sich etwas an, und jetzt ist sein Maß eben voll. Wir werden es ihm schon zeigen! Wenn er kosten will, bitte, das kann er haben, dann kriegt er das Ganze voll in die Fresse. Wir sind wieder wer. Wer wir sind? Wir sind der, der wir sind. Nämlich: Der gegen den Gutmenschen ist, denkt vorher nach und teilt uns auch immer mit, was er sich denkt. Wer denkt, läßt andre teilhaben. Dafür muß man nicht anteilnehmend sein. Es wird uns von den Gegnern der Gutmenschen jetzt besonders viel mitgeteilt. Wer denken kann, der denkt vorher nach, bevor er nichts tut, er denkt, und er denkt ja immer nach. Indem er nicht gut ist, versteht er zu denken. Er grübelt. Indem er denkt, kann er Gutmensch doch schon gar nicht mehr sein! Gut, er denkt also. Ein Guter denkt ja nicht. Er ist gut, das genügt ihm. Derjenige, der gegen den Gutmenschen ist, ist ein Denker, er kann nur ein Denker sein, da der Gutmensch ja nicht nachdenkt; und der neue Denker denkt halt, und er denkt sogar ganz neu, es schaut nur so alt aus, was er denkt, in Wirklichkeit ist es wieder ganz neu. Falls es das schon einmal gegeben hat, was er denkt, ist es jetzt ganz neu geworden, wieder ganz neu. Etwas andres kann er nicht, der Gutmenschengegner, das Denken ist seine zweite Natur geworden, man sieht das, wenn er Differenzierung verlangt, denn nein, alle lassen wir nicht herein, wo kommen wir da hin! Das wollen die andren, wir wollen das nicht. Wir müssen differenzieren, wer uns nützt und wer nicht, wir können  nicht alle aufnehmen, wie die linkslinken Gutmenschen das gern hätten. So sprechen die neuen Denker, und für sie bedeutet das Sprechen von Humanität, das ihre Gegner praktizieren, nichts als: für die Wertlosigkeit des Seienden „die Trommel zu rühren“. Trommel-Rührstöcke, das sind sie, die Gutmenschen. Es schmeckt ihnen die Entsagungslust. Aber wegnehmen lassen sie sich natürlich nichts. Die Verachtung trifft sie doppelt, weil sie, die nicht denken können,  indem sie zu allen gut sein wollen, gegen die Subjektivierung des Seienden auftreten, des leidenden Seienden in diesem Fall, weil sie letztlich gegen den Menschen auftreten, den sie da zum Opfer machen (der Pakistani, der sich selber angezündet hat, verliert seinen Subjektstatus, seine Gründe wollen sie nicht wissen, diese Tugendhaften, die Gründe werden ihnen zwar mitgeteilt, aber wer weiß, was wirklich dahintersteckt, der Mann ist nur noch Vertreter der Opfer, denen sie Gutes tun müssen, so sind sie, die von uns ernannten Guten. Selbst nennen sie sich nicht so. Sogar dazu sind sie zu blöd. Aber so werden die, die nicht nachdenken), einen von Millionen Leidenden auf der Welt, weil die Wohlmeinenden, diese Erinyen, diese Eumeniden, in Wahrheit Rachegöttinnen, im wirklichen Leben eben: Gutmenschen, aus diesen Leidenden nichts andres zu machen imstande sind als dieses Objekt ihrer Wohltätigkeit und ihres Wohlmeinens. Und dieses Objekt ihres Gutwillen- und Gutmenschentums, den Leidenden, in die Wahrheit zu bringen, also in die Subjektivität, das schaffen sie nicht. Dem verschließen sie sich selber. Vom Objekt des Mitleids und der Solidarität (und unsrer Spenden und Lichtermärschen und sonstigen Hilfsaktionen) zur Wahrheit des Denkens, das schaffen die Gutmenschen niemals, das können sie nicht, da verwandeln sie sich in Bitteres und Klagendes. Der schwerverletzte Pakistani wird sich sicher freuen, endlich wieder Subjekt geworden zu sein und nicht einer von vielen, da man von ihm berichtet! Wenn die Gutmenschen aufhören müssen (und wenn sie nicht wollen, werden wir sie schon zwingen, bei der nächsten Wahl kriegen wir locker ein Drittel der Stimmen, hatten wir ja schon mal!), gut zu sein, das Wohl andrer zu meinen, dann kommen andre, dann kommen diejenigen, die das Kreuz hochheben, um in seinem Namen alle andren zu vertreiben, Abendland in Christenhand, ihnen die Flötentöne schon beizubringen, da sie so lang getrommelt haben, diese Tugendhaften, diese von ihrem Gutsein Geschwellten, aber jetzt sind wir dran, gesagt haben wir es den Erinyen schon lange, daß sie bei uns kein Bein auf den Boden kriegen werden, da stehen jetzt wir auf, die wir ihnen schon Mores beibringen werden, wenn wir erst am Ruder sind, wir und andre von den verwandten abendländischen Drei-Bier- (oder gleich Freibier!) Vereinigungen, wenn die Gutmenschen dann endlich die Pappen halten müssen, dann, ja dann brauchen wir auch das blöde Kreuz nicht mehr, wir brauchen keinen Gott nicht mehr, lächerlich!, ein Opfer, dieser Gott!, wer will schon Opfer sein!, wir von der FPÖ aber ganz bestimmt nicht, dann hat er ausgedient, der Herr Gott, dann können wir uns wieder von ihm und seiner lächerlichen Forderung nach Nächsten- (ja Feindes-) liebe abwenden, dorthin, wo wir ohnehin sind und je schon waren, wo wir nichts mehr sehen müssen, nichts andres mehr als uns. Und wenn wir dann, da wir einen Gott nicht mehr benötigen, um unseren abendländischen Kreuzzug zu führen, derzeit noch mit Leichtbau-Kreuzen, damit wir sie andren leichter um die Ohren hauen können, wenn wir endlich die einzigen Entwürfe sind, die wir selber verstehen können, wir Denker (aus garantiert biologischer Eierschale sind diese zerbrochenen Entwürfe, schauen Sie, hinter unseren Ohren pickt sie ja noch!), nach denen Menschen leben dürfen, dann, ja dann treten wir aus uns selbst hervor und zeigen unsere wahren Gesichter, an denen Sie uns erkennen werden, ja, Sie alle. Schauen Sie nicht in den Herrgottswinkel! Dort finden Sie uns garantiert nicht! Dann sind wir auch ganz diesseits, das versprechen wir gern. Das Jenseits brauchen wir danach nicht mehr. Die Gutmenschen sind ja jenseitig mit dem, was sie von unserem Volkskörper verlangen. Soll der Volkskörper etwa ein andrer werden? Soll der sich etwa auch aufs Kreuz nageln lassen? Nein, ein Jenseits werden wir nicht mehr brauchen. Dort können die Guten gern hin, wenn es ihnen dort so gut gefällt, jenseitig wie sie sind, von uns aus.

Ich finde das für eine Frechheit, schreibt ein weiterer Poster, gewiß einer dieser neuen Denker, über den genannten Pakistani, hat sich angezündet, daß es jeder sieht und er gerettet wird, wenn ich mich umbringen will mach ich das allein. Aber jetzt heißt es wieder, der arme Asylwerber und in unserem Spital wird er noch verhätscherlt! Das ist also das Gesicht des neuen Menschen, des denkenden, grüß Gott, und das wird garantiert kein guter sein, kein Gutmensch, damit ist es jetzt vorbei, und das ist gut so. In seinem Schatten, nein, nicht hinter ihm, in einem grauen Dunst aus einer grauen Vorzeit lese ich den Brief der Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht, in dem sie in verzweifeltem Mitleiden beschreibt, während ihr, wie sie schreibt, die Tränen hinunterrinnen, wenn rumänische Büffel, aus der Heimat an besseres Futter gewöhnt und dem Verhungern nahe, in Breslau gequält und geschunden werden, von brutalen Soldaten, die sie mit ihren Peitschen antreiben. Einer der Büffel, der es nicht gleich schafft, den Wagen über die Schwelle zu ziehen, wird mit dem Peitschenstiel grausam gequält. Da steht er dann da, mit seinen Artgenossen (darf man hier Genossen sagen?), er weiß nicht, wofür er so entsetzlich bestraft worden ist, der Büffel, und das Tier blickt die Schreiberin, Rosa Luxemburg (für viele eine kommunistische Bestie, auch heute noch, nicht viel besser als das Tier, mit dem sie mitleidet), an, der Bruder, der Bruder im Tier, ich kann es selbst kaum lesen, meine Augen versuchen es zu vermeiden, ich kann es kaum schreiben, ich muß es auch nicht, denn es ist ja schon geschrieben worden, und das Tier, das nicht weiß, weshalb es so bestraft wird, steht da wie ein Mensch, blutend, verweint, mit seinen sanften schwarzen Augen blickend wie ein verweintes Kind.

Und daraufhin schreibt eine Frau Gräfin, eine Ida von Lill-Rastern von Lilienbach, aus Innsbruck an Karl Kraus, daß Rosa Luxemburg, wenn sie schon soviel Mitleid mit Tieren habe, doch gleich Tierpflegerin in einem Zoo werden könne. Ob er, Karl Kraus, nicht auch ihrer Meinung sei? Und Karl Kraus schreibt einen seiner schärfsten und bittersten Aufsätze dazu („ ... daß es mich sehr wenig interessiert, ob eine Nummer der Fackel ‘zufällig’ oder anderwegen einer derartigen Bestie in die Fänge gekommen ist ...“), ein für immer erstarrter Peitschenhieb, nicht gegen das Tier, den Bruder, sondern gegen die Frau Gräfin, die auf einem großen südungarischen Gut aufgewachsen ist, wie sie angibt, und sich daher mit Tieren auskennt und weiß, daß sie die Peitsche brauchen, weil sie sonst nicht funktionieren, Karl Kraus schwingt sie, die Peitsche, wenn auch „nur“ (aber dieses nur ist das meiste, das es gibt) in schriftlicher Form, in einer verschollenen Nummer der Fackel vom November 1920, und diesmal trifft es die Richtige, der Gutmensch einer vergangenen Zeit, in der man das Denken noch nicht kannte, schreibt, rasend vor Wut, was Walter Benjamin ein „Bekenntnis“ nennen wird und die stärkste bürgerliche Prosa der Nachkriegszeit.  Das ist jetzt aber vergangen und vorbei. Niemand weiß mehr, was ein Mensch ist, seit es den Gutmenschen gibt, seit er erfunden und wieder abgeschafft wurde. Sie brauchen sich um solche wie ihn nicht mehr zu kümmern! Und die Formen für ihn sind schon verbrannt worden, eingeschmolzen wie die Beine des pakistanischen Asylanten, der sich angezündet hat, weil er hier nicht leben kann. Wer kann das schon!

Bitte lesen: Karl Kraus – Rosa Luxemburg „Büffelhaut und Kreatur“

Friedenauer Presse, Berlin 2009



31.5.2009

Foto: APA


Die brennende Hosenhaut © 2009 Elfriede Jelinek

 

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