Das weibliche Nicht-Opfer

Frauen im KZ

Unzählige Male sind wir der Opfer des Dritten Reichs eingedenk, und auf Zehenspitzen schleichen wir uns von ihnen wieder davon. Das wird auch diesmal so sein, aber etwas, das sich schwer benennen läßt, hält uns an irgendeinem Stück von unserem Gewand oder an etwas andrem hier fest. Gerade das Gewand ist es, das dem weiblichen Opfer zu allererst genommen wird, bis die Menschen vollkommen nackt sind und nicht dagegen ankämpfen können, und auch daß man ihnen ihr Leben selbst nimmt, dagegen können sie nicht kämpfen.  Je weniger wir in unserer nachkatrastrophalen Moralität, die es ja im Ausverkauf oder überhaupt geschenkt gibt (ja, auch ich habe mir immer mein passendes Teil geholt!), uns dieser allgemein verhängten äußerlichen Moralität entziehen können, desto besser können wir uns ihr doch entziehen. Das geht ganz leicht: im lauwarmen Strom der Gedenkfeiern mitschwimmen und sich irgendwann an einen warmen Strand retten, wo man wieder ganz bei sich zu Hause sein kann.  Und dieses Entziehen ist ja immer ein Wegnehmen, wir können uns zum Glück entziehen, aber wir wollen natürlich nicht, daß uns irgendetwas weggenommen wird. Den Frauen im KZ wurde von der SS als erstes die Kleidung entzogen, und das war auch schon das letzte, was sie überhaupt hatten; meist wurden auch die Haare geschoren, danach wurde dann das Leben selbst genommen. Stripped to the bones. Wozu dieser Aufwand? Für das Nichts. Und das Wort nachkatastrophal, das ich vorhin verwendet habe, stimmt natürlich auch nicht. Es war keine Katastrophe, es war das Gegenteil: totale Kontrolle, Totalität, totale Herrschaft. Und Hannah Arendt sagt dazu: “So wie die Stabilität des totalitären Regimes von der Isolierung der fiktiven Welt der Bewegung von der Außenwelt abhängt, so hängt das Experiment der totalen Herrschaft in den Konzentrationslagern daran, daß sie auch innerhalb eines totalitär regierten Landes sicher gegen die Welt aller anderen, die Welt der Lebenden überhaupt, abgedichtet sind.“ 

Ich habe dieses Buch gelesen, und an meinen Empfindungen ist herumgehämmert worden, auf sie ist eingehämmert worden, ununterbrochen, aber es ist natürlich trotzdem kein andrer Mensch aus mir geworden. „Sexualisierte Gewalt“, weibliche Erfahrungen in den NS-Konzentrationslagern. Nichts kann man sich davon vorstellen, auch wenn man vieles bereits gewußt hat. Das weibliche Opfer. In der Antike hat es seine Größe bekommen und behalten. Agamemnon, der Heerfürst, opfert seine Tochter, ein Verbrechen, das sich fortpflanzen wird, wie von selber, bis zu seiner Ermordung durch die Gattin Klytämnestra und dann deren Ermordung durch ihren Sohn Orest und daraus die großen Sprünge in der Zivilisation: vom Mutterrecht zum Vaterrecht zum abstrakten Recht, zum Symbolischen, zur Verrechtlichung selbst,  der symbolische Tausch Tod gegen Strafe, so wie das Geld letztlich die Abstraktion des Tauschs ist. Getötet wird sowieso für alles und jedes. Aber  die Konzentrationslager der Nazis, die haben nicht ihresgleichen, da gibt es keine Verrechtlichung und keine Abstraktion, und da ist das Opfer auch nicht mehr Subjekt, nicht nur wegen seiner schieren Menge, Millionen von Menschen, sondern auch weil das Sprechen darüber das Geschehen schon wieder auffrißt, weil man es nicht glauben kann, und das Opfer selbst kann, im Sprechen, nicht glauben, was es da sagt, weil, was es erlebt hat, nicht so gewesen sein kann, wie es gewesen ist.

Das Opfer als Subjekt: Eine Tochter fleht ihren Vater Agamemnon, schon auf dem Opfertisch liegend, um Gnade an, liegend „gleich einer Geiß auf dem Altarstein, umflossen von dem Gewand“, wie Aischylos schreibt, und der opfernde Vater versucht noch, für die Zukunft Böses ahnend, denn er weiß ja, daß er Böses tut, aber es ist ja für einen guten Zweck, für den Krieg, der Vater versucht also,  den „fluchtenden Schrei“ seines Opfers seinem Haus, dem Königshaus der Atriden, von des Opfers Mund „vorsichtig“ fernzuhalten, zu diesem Zweck kommt ein Knebel in den Mund der Tochter auf dem Altarstein, damit sie ihn nicht im letzten Moment noch verfluchen kann - was für Mühe sich die antiken Opferer doch noch gegeben haben! - das Safrankleid fällt nieder, auch dieser geopferten Frau werden, wie jeder Frau,  immer zuerst die Kleider genommen, und der Chor sagt, daß er es nicht sehen noch aussprechen kann (oder will). So wird die Jungfrau für guten Wind für die Heerflotte, die es eilig hat, gespendet. Ein großes Opfer der Mythengeschichte. Ich kann und will nicht sagen, die Frau sei kein großes Opfer, da sie ja auch kein kleines Opfer ist; aber da sie an sich schon keinen Subjektstatus besitzt, da sie Kleider, Schminke, Schönheit auf sich häufen muß, bis heute, um überhaupt noch etwas zu gelten, ist das das einzige, was man ihr zusätzlich noch nehmen kann, da man sie selber ja nehmen möchte, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn: die Kleidung, die Haare (und damit die Schönheit. Ein Romamädchen, das in dem Buch spricht, hat sich verzweifelt gegen das Abschneiden seiner schönen Zöpfe gewehrt, und es hat sie wirklich behalten dürfen, da war sie eine der ganz wenigen).  Und diese Geschlechterkonstruktion, die im wesentlichen immer noch gilt, wird im Krieg zur völligen Annihilierung des weiblichen Opfers. Das, was nicht sein darf, das weibliche Selbst, das, wenn es schön ist, gesehen werden darf, das fühlen muß, wenn es nicht hören will, aber natürlich auch dann, wenn es, um sich zu retten, gern hören und gehorchen würde, dieses Unselbst also ist die Frau, sie ist ein Das, aber, als Frau, soll sie benutzt werden für das einzige, wofür sie da ist: Körper zu sein. Sie muß Körper sein oder sie darf gar nichts sein. Und sein darf sie ohnedies nicht, egal was sie ist. Zuvor soll sie aber noch - als Körper - verwendet werden und dann weggeschmissen, wie ein schmutziges, zerknülltes Papiertaschentuch. Eine Verwendung wird man für sie noch haben, und es ist immer dieselbe, es ist das, wofür sie bestimmt ist, denn dafür hat die Natur ihr die Löcher gelassen, und alle kann man sie benutzen. Die Kultur ist männlich, und alles Fremde ist das Nicht-Eigene, das Nicht-Männliche. Der Sieger ist männlich, und auch wenn der Besiegte männlich ist, wird er aufs äußerste gedemütigt, da man ihn zur Frau macht, zum Weiblichen, zum Verweiblichten, man denke nur an die berüchtigten Folterfotos aus dem Abu Ghraib-Gefängnis, wo die männlichen Opfer als Frauen benutzt werden und einander gegenseitig benutzen müssen, während der Frau die Rolle des Mannes zugespielt wird, aber natürlich muß sie sie auch wieder abgeben, diese Rolle, die ihr ja nicht zusteht; Lynndie England war zum Zeitpunkt, als sie auf den Fotos als Hundeführerin mit einem Menschen als Hund zu sehen war, schon vom Chefpeiniger des Gefängnisses schwanger.

Man kann über dieses Buch eigentlich nur, anstatt darüber zu sprechen, ja, man kann in dieser Schrift eigentlich nur noch herumradieren und leere Schlieren hinterlassen, wo man gelesen hat. Es liegt ein Sprechen vor, in dem man das, was gesprochen wird, nachdem es gesagt wurde sofort wieder ausradiert, das Sprechen soll das Gesprochene wieder löschen, aber das geht nicht. Das Gesprochene taucht, im Gelöschtwerden, immer wieder auf. Wie eine Handarbeit, die sich, in ihrem Entstehen, schon wieder auftrennt. Da wird nie etwas draus, es ist gelöscht worden, weil ja die meisten, die es getroffen hat, auch ausgelöscht wurden. Die Frauen, von denen die Rede ist, und die auch selber sprechen, endlich einmal für sich, aber das können sie kaum, diese Frauen hat man vorher noch verwendet, vernutzt, einem sogenannten Nutzen zugeführt, in Lagerbordellen für die SS und auch für die Gefangenen, für Zwangsarbeiter, aber alle, die überlebt haben, sagen übereinstimmend: die von der SS, die waren die Schlimmsten. Die sich zu Herren gemacht hatten, waren die Schlimmsten, weil sie sich selber ganz neu, diesmal als Herren, erschaffen hatten. Vorher waren sie meist nichts und niemand, nachher waren sie die Herren. Und es gilt nichts mehr, nicht, was immer wieder gesagt wird: sexuelle Gewalt habe mit Sexualität nichts zu tun, sondern nur mit Gewalt. Die Gewalt bahnt sich ohnedies immer ihren Weg, egal wohin er führt, aber die sexuelle Gewalt nimmt immer dieselben Wege, die selber schon ermüdet sind davon, wie oft sie begangen werden, es geht in die Löcher der Frau hinein, es geht immer hinein, immer wieder hinein, und zwar weil sie eben da sind, die Löcher, vorgezeichnet in den Körper, dem zu allererst das Gewand genommen wird, dann die Haare, wenn sie voller Läuse sind, und dann das Schamhaar auch noch, was offenbar die größte aller Demütigungen war. Sogar die Gewalt müßte es schon längst müde sein, so etwas zu tun. Alles, was man begehen kann, wird begangen werden, jede Tat und jeder Weg. Ähnlich Murphy's Law in all seiner gutmütigen Banalität: Alles was passieren kann, wird passieren. Im Fall der Frau werden nicht einmal Passierscheine ausgestellt, das wäre unnötig, da gehts immer nur hinein, die Frau ist eine zu jeder Zeit befahrbare Straße, und das Prinzip ist, daß die Gefangene, wie jeder Gefangene, furchtbare Schmerzen erleidet und der Folterer überhaupt keine. Der Folterer kann seine Geschäfte mit seinen Opfern machen, er kann das, was nichts mehr ist und nichts mehr besitzt, noch immer ausbeuten, aus wirtschaftlichem Interesse (um die Leistung in den Betrieben zu maximieren, indem man die Zwangsarbeiter „bei Laune hält“), und die Bordelle z.B. der Hermann Göring-Werke waren auch für die Stadt Linz recht profitabel, man rechnete „mit einer Amortisierung der Anlage“ in acht Jahren, ja, so ungefähr. Das Buch weist nach, daß das „Geschäft“ mit der Sexualität für die Verantwortlichen des Nazi-Staats fixer Bestandteil ihrer Planungen und Berechnungen war. Das deutsche Wesen sollte vor allem an der Mutter genesen, gesunde Kinder, gesundes Blut und so weiter, und gleichzeitig, als wollte man die Absurdität dieser Rassepolitik beweisen, hat einer wie Heinrich Himmler die Zwangsarbeit und die Sexarbeit in eins gesetzt, die Zwangsarbeit profitiert von der Sexarbeit, die die Frauen gezwungenermaßen leisten müssen (auch wenn sie sich freiwillig dazu melden, weil sie sich eine Verbesserung ihrer Lage dadurch erhoffen, vor allem mehr Nahrung, vielleicht sogar die Freiheit, aber diese Frauen wurden besonders schnell verbraucht, kaputtgemacht, getötet, „abgeschafft“ wie man kranke Tiere abschafft, es wurde ihnen ja nie die Wahrheit gesagt. Und die Frauen sind immer „ausgeschöpft“ zurückgekommen, einen Mann nach dem anderen mußten sie empfangen, in unglaublicher Zahl, und im KZ hat die SS auch noch zugeschaut, und da vergeht einem alles, was man sich nur vorstellen kann, schon bevor man es sich vorstellen kann, nur weil man hört, daß es so etwas überhaupt gegeben hat) . Ich merke: Ich spreche die ganze Zeit um das alles herum, weil ich es nicht aussprechen kann, aber das Buch sagt es, und dort sprechen diejenigen, die es überlebt haben, diese wenigen sprechen also selber. Ich will und darf ihnen hier nicht dreinreden, das wäre eine weitere Schändung. Was soll ich sagen? Ich bin hier zu Kenntnissen gelangt, obwohl ich es schon vorher wußte, aber trotzdem, wie soll man mit diesen Kenntnissen leben? Und es gibt ja Frauen, Sintezzas, Roma-Frauen, Jüdinnen, Politische, die es überlebt haben und darüber berichten, aber auch sie können oft nicht sprechen. Sie sprechen, wie ich jetzt, darum herum, als ob das Ausradierte nie mehr wieder beschrieben werden könnte, im wahrsten Sinn des Wortes, be-schrieben, als ob durch das dem Verstand eben zuwiderlaufende Demütigen und Auslöschen von Menschen in derart großer Zahl ein blinder Fleck, ein schwarzes Loch entstanden wäre, das alles schluckt. Es hält kein Schreiben mehr, wo durch Radieren ein Loch entstanden ist.  Das, was ich sagen könnte, kann ja gar nicht halten. Aber diese Frauen mußten es aus-halten, und deswegen müssen wir dieses Buch lesen. Wir sind nicht frei, es zu lesen oder nicht, weil wir frei sind, es zu lesen.

Es gibt ja keinen groteskeren Gegensatz zwischen dem großen Mädchenopfer der antiken Königstochter - und auch das wurde, wie gesagt, nur gebracht, damit die Flotte endlich vorankäme, rein in den Krieg - und diesem Unaussprechlichen, das darin besteht, daß jede Frau im KZ alles tut um zu überleben, aber dennoch nichts zu diesem Überleben beitragen kann, weil sie nichts zu nichts beitragen kann, denn: es gibt sie gar nicht. Was mit ihr getan wird, ist jeder Kontrolle der Umwelt entzogen,  und die Frau selbst hat keinen Preis und keinen Wert, nein, da Frauen wertlos sind, sind sie es auch als Mütter, (trotzdem kann man aus so mancher Frau immer noch einen gewissen Profit herausschlagen, bevor man sie umbringt), denn die Lager dienen dazu, Menschen“material“ zu vernichten, letztlich: zu vergeuden, zu verschwenden, obwohl man es vielleicht noch brauchen und ausbeuten könnte, das ist der Zweck der Vernichtungslager, die Vernichtung eben, und so ist nicht die Überlebensrate der Lager zwecks Arbeit und Ausbeutung entscheidend, sondern das Leben und jedes sinnvolle Ziel, jeder sinnvolle Zweck von Leben, selbst die größe Ausbeutung noch, kehrt sich um und wird zur Todesrate, zum Tod auf Raten. Die Arbeitsleistung zählt im Grunde nicht mehr, das Ausradieren zählt. Hannah Arendt hat das scheinbare Paradoxon beschrieben, das darin besteht, daß man Menschen hätte viel effektiver ausbeuten können, wenn man wirklich ihre Arbeitsleistung gewollt hätte. Aber die Zwecklosigkeit des sogenannten unwerten Lebens in den Lagern wurde von den Nazis in die Zweckwidrigkeit getrieben, bis die Vernichtung das Ziel war und nicht die Ausbeutung. Statt die Transportmaschinerie des Dritten Reichs zielgerichtet einzusetzen und die Kriegsproduktion möglichst aufrecht zu erhalten, hat man sie eingesetzt, um Menschenmassen zur Vernichtung zu verschieben. Und noch tief unter den Untermenschen stehen die weiblichen Untermenschen. Und wenn schon der Zweck eines Arbeitslagers im Grunde ein paradoxer ist, weil das Lager nicht produzieren, sondern vernichten soll, so ist auch der Zweck der Sex-Zwangsarbeit von Frauen, inklusive der Freizeitbeschäftigungen der KZ-Bewacher und SS-Männer, nämlich dem Gruppenvergewaltigen, dem Vergewaltigen im Kollektiv (was es in jedem Krieg gibt, sogar in den Jugoslawienkriegen im 20. Jahrhundert, gleich hinter der Grenze, gleich nebenan) nicht sexuelles Freizeitvergnügen, auch wenn es als solches praktiziert und ausgegeben worden sein mag, sondern eben das Ausradieren, das völlige Wegwischen von Menschen, die auch noch als ihre eigenen Fetzen beim Wegwischen ihrer selbst dienen müssen.  Die meisten kamen nicht mehr zurück, wie eine ehemalige Revierarbeiterin über die Frauen von Ravensbrück sagt, die dort in den jeweiligen Bordellen ihre Sex-Zwangsarbeit verrichtet hatten. Die meisten hat man eh gleich umgebracht, vermutet diese Zeugin, denn zurückgekommen seien nur ein paar Schwerkranke.  Eine Thea, hier steht ihr Name, mehr weiß ich nicht von ihr, wurde ins Lager zurückgeschickt mit dem Vermerk „abgenützt“. Auch das Wort „verbraucht“ wird gern verwendet. Als Zeitzeuginnen dürfen diese Frauen nicht am Leben bleiben, auch sie werden verschwinden, vergast werden. Es wurden vorher nur die schönsten Frauen ausgesucht, nicht einmal ein Wimmerl durften sie haben, sie mußten makellos sein, damit das Verbrauchen und Abnützen mehr Spaß macht, denn das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang, wie wir wissen.  Wer mir nicht nützt, der schadet sich selbst, ist das Prinzip der Menschenverbraucher. 

Die wenigen überlebenden Frauen können kaum über das sprechen, was ihnen widerfahren ist. Sie sprechen eben um dieses Schwarze Loch herum, in das ihre Leben als integre Persönlichkeiten implodiert ist, als Personen, die für sich selbst aufstehen und sprechen können und sich dann wieder setzen oder auch nicht, aber wenn nicht einmal ein Sich Widersetzen möglich ist, dann sind sie jeder auch noch so winzigen Selbstkontrolle entzogen (mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen, die das Buch schildert), und sie sind einer ununterbrochenen Grenzverletzung ausgeliefert, der sexualisierten Gewalt, der permanenten Sexualisierung von Gewalt, und daß eine Frau überhaupt da ist, bedeutet ja schon, daß sie dem permanenten Eindringen in ihren Körper preisgegeben ist, jedem Mann, bis hinab zu hierarchisch höherstehenden Häftlingen. Die nackten weiblichen Individuen sind jedem Blick, jedem Handgriff vollkommen ausgeliefert.  Sie stellen nicht einmal mehr ein echtes Opfer dar (sogar ein Tier würde sorgfältiger geopfert werden. Man verspricht sich ja einiges von ihm!), weil sie ja zu nichts andrem vorgesehen sind, als Opfer zu sein. Denn es scheint nichts zu zählen, was sie waren, was sie sind, und das Amüsement, das man aus ihnen herauszuziehen hofft, das ist nur das Amüsement des Todes selbst, der ein bißchen herumspielt, um diese Geister auf ihren Wegen in den Tod ein wenig aufzuhalten, mit ihnen wie mit Bauklötzchen oder Spielfiguren ein wenig herumzumachen, herumzufingern, bis die Geister (Gespenster schon zu Lebzeiten) dann ins Nichts gehen dürfen, endlich. Und selbst wenn die Frauen, die sich freiwillig für die Bordelle melden, das alles schon ahnen, sogar wissen, das Wissen aber gleich wieder verdrängen, weil die Hoffnung, diese Sadistin, sich hervorgewagt und es ihnen geraten hat, vielleicht überleben sie ja doch, nein, doch nicht, selbst wenn diese Frauen das vorher ahnen, muß ihnen, die ohnehin nichts haben und sind, dieses Nichts auch noch genommen werden. Nicht einmal das Nichts, das sie sind, wird ihnen gelassen. Das Individuum wird ins Negative gekippt, und was vorher gelebt hat und gewachsen ist, wächst nicht einmal unterirdisch weiter. Es ist einfach fort. Es verschwindet. Es verschwindet aus sich selbst heraus, das heißt, es war schon vorher weg, denn auch das Selbst hatte es nicht mehr, und die Weiblichkeit, die weibliche Definition des Ich, schlägt der Frau, wie alles andre auch, nur zum Tod hin aus, als Wurzel zum Tod, selbst wenn sie Leben weitergibt, Mutter wird, Kinder gebärt. Auch das Gebären wird sofort wieder zu einer Vernichtungsaktion.  Es herrscht zwar eine Nachfrage nach Menschen, aber das würde bedeuten, daß man sie in ihrer Verschiedenartigkeit akzeptiert. Akzeptiert man nur die einen, akzeptiert man keinen Menschen. In keinem Moment. Und das Gebären wird überflüssig, weil es nach alldem ohnehin keine Menschen mehr geben darf.  Wenn die Tatsache, daß es sie gibt, schon bedeutet, daß man sie angreifen und abschaffen kann. Es endet ohne Antwort, nach dem Vorhandenen zu fragen, weil die Logik auf die Frage eine Antwort fordert, die irgendwie dazupaßt. Und jede Frage hält sich ja in einem Wertsystem auf, in einem Maßstab, sie richtet sich nach dem herrschenden Gesetz und nach der herrschenden Regel. Man müßte die Menschen neu kalibrieren, neu einstellen können. Man müßte sie in sich hineinführen können, damit sie einmal, vor sich selbst erschrocken, wieder herausrennen und sich vor dem, was ihnen zu tun möglich ist, retten können.  Das ist die Wahrheit, die auch in diesem Buch steht, daß man sich ändern muß, um menschlich zu werden, also die Dinge durchschauen zu können, die man selbst gemacht hat und immer noch macht und immer wieder machen könnte. Daß man etwas versteht, heißt, über sich hinauszugehen und anders werden zu können. Schon die Wahrheit zu sagen, bedeutet ja, daß man dazu erst noch ein andrer werden muß. 

 

Vortrag gehalten am 23.6.2004 im Jüdischen Museum, Wien

 


Mandelbaum-Verlag

 


Das weibliche Nicht-Opfer © 2004 Elfriede Jelinek

 

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