Zur Kinofassung von Lars von Triers "Nymph()maniac"

 

Es können jetzt schon künstliche Vaginen aus sogenannten Genitalzellen gezüchtet und implantiert werden, falls durch eine seltene Krankheit die echte mißgebildet oder nicht vorhanden ist. Es kann Macht nicht gezüchtet werden, denn sie ist da, und bei ihr ist es der umgekehrte Vorgang: Sie kann gezüchtigt, aber nicht beseitigt werden. Sie kann zeitweise vergessen werden, doch sie ist immer anwesend, ohne ein Wesen zu sein (sie hat allerdings eins), und vergessen werden kann auch das eigene Sein, aber auch immer nur temporär. Zu dieser Nachricht in einer Tageszeitung (fast alle Zeitungen haben es gemeldet) kam unter anderem das Posting eines Mannes, der schrieb, er würde gern zwei Stück von diesen künstlichen Vaginen bestellen, weil eine von ihnen immer Kopfweh hätte. Bei Kopfweh ist die, in die Frau auf natürliche Weise — oder implantierte, was aber nur sehr selten nötig ist — hineingelegte Vagina, mit der sie wiederum die Männer hineinlegt, nicht benutzbar. Ihr Nutznießer ist gekränkt, ihre Besitzerin: je nachdem. Die Macht macht den Menschen, sie hält ihn von außen zusammen und gibt ihm die Möglichkeit, sein Wesen zu finden, das er als Mächtiger aber gar nicht braucht, und die Bewußtheit ihres Herrschens ist vielleicht der einzige Grund, daß wir existieren, denn wir können nicht sein, ohne daß einer über den anderen Macht ausübt, nein, nicht ohne daß die Käseglocke der Macht allem übergestülpt ist und das Menschsein macht, es wachsen läßt wie das Schweinegewebe, auf dem wiederum diese praktischen künstlichen Organe, auch Nasenflügel etc., heranwachsen, bis sie erwachsen sind und benutzt werden können.

Die Macht über den Körper der Frau übt der Mann aus. Aber gleichzeitig besinnt die Frau sich lästigerweise, aber hartnäckig, darauf, daß sie ja auch noch da ist und sich gut auch selbst beherrschen könnte. Doch das macht keinen Spaß. Die Selbstbeherrschung soll ja fallen, in der Lust soll man sich aufgeben können. Die Macht besteht dann darin, sie entweder auf und mit sich selbst auszuüben, in der Onanie, oder sich eben aufzugeben, was das Gegenteil von: sich gehenlassen ist (es ist nicht ein Aufgeben, eher ein Sich-Sein-Lassen wie in der Ohnmacht der Marquise von O , die zu ohnmächtig ist, um Lust zu empfinden und nur noch das Kind als Zeichen einer Lust, derer sie nicht bewußt teilhaftig werden konnte, — sie war ja nicht bei Sinnen, aber vielleicht sinnlich, nur weiß sie das nicht mehr —, vorweisen kann, ein Kind, von dem sie nicht weiß, woher sie es überhaupt hat. Und da die Leere, das Vakuum immer alles einsaugt, was man ihm vorsetzt (der vacuum cleaner!), was sich ihm auch nur nähert (oder dem es sich nähert), will die Ohnmacht nichts anderes als Macht, und sie geht ein, sie stirbt, wenn sie diese Macht nicht bekommt. Der Mangel an Über-Sich-Bestimmen-Können, also auch die äußerste Entbehrung, ausgeliefert zu sein, nicht mehr "Herr seiner Sinne" (Herrin ihrer Sinne habe ich nur selten gehört) zu sein, bindet das Subjekt nur noch stärker an die Macht, der es entkommen will. Indem es jedoch der Macht entkommen will (die Frau der männlichen Macht über ihren Körper), kann Ohnmacht wieder zu Macht werden. Bei Kleist entstehen danach noch etliche junge Russen, nachdem deren Vater die Vergewaltigung der Mutter während der Ohnmacht gestanden und mit staatlicher Saktioniertheit (der Ehe) eine zweite Machtfront, die des Staates, der die Ehe will und fördert, denn die Menschen sollen keinesfalls machen, was sie wollen, auch nicht miteinander, eröffnet. Da kommt sie nicht mehr raus, die Marquise, aber sie will das, nach einigem Überlegen, in dem sie die Überlegenheit ihres Vergewaltigers anerkennt, ja auch gar nicht. Heidegger nennt die Ohnmacht "das verfänglichste Scheinwesen der Macht". Es kann von der Frau der Anschein erweckt werden (er wird ohnedies bald wieder stillgelegt sein), als wäre diese Unbedürftigkeit der Macht gleichzeitig auch ihre Überwindung. Oder so ähnlich. Das Unwesen der Frau, die auch in der Lust sich gleichzeitig verlieren und Macht über sich (und andere?) haben will, ist geboren, und gerade die absolute und unbedingte Ohnmacht der Lust soll ihr diese Macht verschaffen. Doch der anarchische Akt, über sich selbst hinauszugehen, sich aufzulösen, bedarf, wie das meiste, der Arbeit. Einer Arbeit, die dann allerdings genauso im Vakuum verschwindet wie alles andre auch. Lust ist vergeudete Arbeit, das Unwesen der Macht, das Gespenst der Macht. Sie suggeriert, daß alles möglich sei, wenn auch meist nur relativ kurz. Denn man kann nicht lang der eigenen Machtlosigkeit Herr sein, selbst wenn man sich der Willkür über sich und andere bedient, beim Bedienen gibt es natürlich immer Diener und Bediente, auch wenn man sich mit ein paar Fingern sich selbst aufzwingt, was uns dann alles als Natur vorgeführt wird, so wie der Sex als ein natürlicher Akt.

In Lars von Triers "Nymph()maniac" wird unter anderem auch das abgehandelt: Der Handel soll darin bestehen, daß die Frau in ihrer Lust autonom sein darf, ja, daß sie es überhaupt sein kann, auch wenn ein Mann sie ihr verschafft. Aber gerade darin verhaken sich Mann und Frau mit ihren teilweise unpraktischen Körpern ("fill all my holes", sagt die Protagonistin, ja, aber irgendwann muß man auch wieder raus), was teils zu lächerlichen, ja läppischen Stimuli führt, zum Beispiel einem Sackerl billiger Bonbons (bitte, bedienen Sie sich! Doch kein Kind würde für diese lächerliche Beute je irgendwas in Kauf nehmen. Das müßte dann schon ein Fläschchen Parfüm oder tolle Unterwäsche oder sowas sein) als Preis dafür, wer von zwei halbwüchsigen Freundinnen (die Heldin des Films, Joe, und ihre Freundin, eigentlich sind sie in dieser Szene noch Kinder, Richter, bitte übernehmen Sie! Staat, bitte legen Sie Hand an, sonst tun die das womöglich auch noch selber!) im Klo eines fahrenden Eisenbahnzugs mehr Männer ficken kann (nein, von mehr Männern gefickt werden kann!), wer von beiden sich mehr Männern ausliefern kann, aber aus freiem Willen, weil sie das vorher so bestimmt haben, die beiden Freundinnen, die das alles eben aus eigener Willkür tun, um einer Wette willen. Doch nicht einmal jeder Wille darf Willkür sein, und sie sind dieser Willkür auch gar nicht mächtig, die Mädchen, denn auch wenn sie all die Schwänze in sich aufnehmen und sich dazu auch noch fleißig bewegen, die Bestätigung ihrer Wichtigkeit bekommen sie letztlich doch von den Männern, derer sie sich "bemächtigen", um dann letzten Endes doch in all ihrer eigenen Selbstbestätigung und Selbstermächtigung niedergefickt zu werden. Sie haben es so gewollt. Das Wesen der Macht hat genug Platz, sich auszubreiten, es wuchert alles zu, wie ein Krebsgeschwür. Das Wesen des Körpers ist leider beschränkt. Trotzdem macht es noch Spaß, der Körper scherzt gern, mit uns und anderen. Unbedingt! Das kann eine Zeit lang so weitergehen. Wer, außer dem Staat und seinen Gesetzen, solle etwas dagegen haben, daß die Menschen auf die natürlichste Weise der Welt diesen Spaß miteinander haben. Es miteinander "treiben", vielleicht im Treibsand, wo man sich verliert, weil es keinen Boden und keinen Halt gibt. Dabei gibt es keine Gleichheit und keinen Ausgleich. Die Macht besteht (und besteht daher immer auf etwas, und wen störts, wenn sie auf einen anderen Körper besteht?) oder nicht. Wenn sie nicht besteht, gibt es keine Körper mehr. Nur noch den Tod, denn dann besteht gar nichts mehr. Die Macht ist das Entweder-Oder. Das eine muß immer das andere vernichten, beim Sex aber will man Anerkennung (seiner selbst) auch noch dazubekommen.

Die böse zusammengeschlagene und verletzte Joe, jetzt schon eine ältere Erwachsene, es sind inzwischen ein paar, nein, viele Jahre vergangen, während derer die junge Joe noch ihre Pflicht erfüllt und Mutter wird, damit der Sex wenigstens einmal einen Sinn gehabt haben wird, die ältere Joe also, sie ist schon fünfzig, die ihre Geschichte erzählt, wird, schwer versehrt, von einem erklärten Asexuellen gerettet, dem Juden Seligman, dem Joe die Tätigkeiten (er ist immer rastlos tätig! Mehrmals am Tag, welcher eine Grenze setzt) ihres Körpers im Laufe dieses langen Gesprächs, einer langen Nacht, (nein, es sind keine Boudoirgespräche, die hier geführt werden, für sowas haben wir kein eigenes Zimmer vorgesehen), anschaulich beschreibt. Seligman interpretiert das alles eifrig, wie ein Kritiker, teilweise schon, bevor es ganz ausgesprochen ist, teilweise mit ausgesprochen läppischen Definitionsversuchen wie solchen, die er aus dem Fischfang herleitet oder dem Bach'schen Choralvorspiel "Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ", einem kleinen Lehrwerk, das nur drei Stimmen hat, Cantus Firmus: oberes Manual, zweite Hand: zweite Stimme am unteren Manual, welches sich einen Stock tiefer befindet und auch bedient werden möchte, und dann das Pedal: Baß, alles an seinem Platz und zu seiner Zeit; das ist die schlichteste Form des Kontrapunkts, drei Stimmen nur, und damit will Seligman Harmonie erklären, den schönen Zustand, der in den meisten Körpern leider nicht herrscht, weil ja auch Harmonie nie herrscht, sie ist einfach da oder nicht. Man hört sie oder nicht. Mit solchem Firlefanz kann sich Herrschaft nicht aufhalten. Mit diesen drei Stimmen, dieser Drei-Einfältigkeit, hat der Interpret Seligman aber nicht viel zur Hand, das ist eine sehr simple Erklärung, mit der er Anerkennung zu finden hofft, und Joe ist ja auch interessiert, auch an komplizierteren Theoremen wie der Fibonacci-Folge. Sowas ist ihr noch nie geboten worden. Sie ist nun am Sprechen mehr interessiert als an allem anderen, was auch möglich wäre, aber nicht mehr möglich ist. Jetzt ist also das Sprechen dran, und die Musik spricht mit vielen Zungen, sogar mit Zungenstimmen auf der Orgel, ohne deswegen falsch zu sein. Mit dem fünffachen Kontrapunkt des letzten Satzes von Mozarts Jupitersymphonie, in dem eine Fuge in der Sonate oder eine Sonate in der Fuge drinnensteckt, was vielleicht auch eine kleine Parodie auf Pornographie sein könnte, (oder mit komplizierteren Bachwerken) wagt er vielleicht nicht, Joe zu konfrontieren. Das würde zu lang dauern. Und so viele Möglichkeiten zur Wesensfindung braucht ja auch kein Mensch. Drei Stimmen genügen. Und ein paar Löcher, die sind überschaubar. Nach Bach kommt bei Seligman gleich Beethoven, mit nichts dazwischen, aber genau das Dazwischen ist eben oft ein Körper, auch wenn man ihn zu meiden sucht, und zwar befindet sich der Körper genau zwischen Oben und Unten. Na, ich will nicht beckmesserisch sein, nur besserwisserisch. Jedenfalls interpretiert Seligman, ein Halb-Mensch, da er doch kein sexuelles Geschöpf ist, dafür aber Jude, ein zu beinahe allen Zeiten verfolgtes Wesen, — durch Verfolgung läßt sich Macht nicht ersetzen, sie kann nur vernichten, einen nach dem anderen, viele durch alle —, Seligman also deutet für Joe ihr Tun (das sie selber ja nicht versteht, denn wenn sie sich verstünde, könnte sie doch endlich Anerkennung für ihr Tun und vor allem ihr Lassen finden), das sie ausschließlich mit dem Produktionsmittel ihres Körpers bestreitet, bis der Körper sich selbst bestreitet, ja, er streitet alles ab, auch das, was nicht vergessen werden kann, denn er fühlt plötzlich nichts mehr. Der Körper ist taub geworden. Joe onaniert, bis ihre Klitoris blutet, aber sie empfindet: nichts (auch in "Antichrist" spielt die Klitoris, also das einzig Männliche an der Frau, eine große Rolle, indem sie beseitigt wird, ausgerissen, weggeschnitten, entfernt wie Unkraut). Da kastriert sich die Frau selbst, sie schneidet sich von sich selber ab, nicht einmal mehr sie selbst soll die Macht über ihren Körper mehr ausüben können, ich sage absichtlich ausüben, nicht: haben, denn sie hat viel geübt, sie hat sogar ihr Kind geopfert (das, wieder in einem parodistischen Akt dieser Eingangs-Szene, in Nymph()maniac am Leben bleiben darf). Erst als Neutrum kann die Frau in "Antichrist" den Mann vernichten, als Hexe, als Zwischenwesen. Insofern ist "Antichrist" für mich der bessere Film, weil er das Geheimnis zuläßt und nicht die Geheimnislosigkeit von "Nymph()maniac" perpetuiert (in der Wiederholung des Immergleichen in der Lust, ist "Nymph()maniac" aber der "wahrere" Film, weil hier die Geheimnislosigkeit des Geheimnisses immer wieder behauptet werden muß, und die Selbstbehauptung seiner Protagonistin Illusion ist. Das immerhin wird gezeigt). Diese Selbstbehauptung wirkt sich nie aus, sie wirkt nie über die Körper hinaus, und sie zerstört das, was da behauptet wird, sofort wieder, weil man weiß, daß auch etwas anderes möglich wäre. Die Wunden werden freudlos geschlagen oder wieder aufgerissen. Was da wohl drunter sein mag? Einer Hexe aber kann sich keiner entgegenstellen. Die Hexe ist Verzicht, weil keine Frau eine sein kann, sie wird nur öfter so genannt, sogar liebevoll. Joe will auf nichts verzichten, sie will alles haben, indem sie sich preisgibt. Indem sie alles gibt, will sie alles haben.

Auf der anderen, sicheren Seite fahren die Schwänze mit einem lauten Pfeifton, wie der Zug in Hitchcocks "North by Northwest", in den dunklen Tunnel ein. Es darf eben kein Geheimnis geben, nicht: Es darf nicht gezeigt werden, sondern: Es darf keines geben. Joes Wunden sind, man könnte sagen: banal. Ihr Körper spricht die Objektsprache, während Seligman verzweifelt versucht, den Gips der Metasprache auf sie zu häufen, vielleicht wird da irgendwann ja eine schöne Statue draus?, so, wie er sich eine Frau immer vorgestellt hat?, aber der bröckelt immer wieder ab, der Gips. (Ich müßte hier eigentlich sagen: Marmor. Denn es wird geschlagen, nicht geformt). Joes Körper kann vor so viel Unbedingtheit des Willens zur Lust nur kapitulieren. Wenn man alle ficken will, kann man niemand mehr ficken, auch sich selbst nicht. Aber das Unwesen Macht entfaltet ja erst seine Flügel, wenn man die Macht hat, auf deren Unbedingtheit auch wieder zu verzichten. Sich buchstäblich: gehen zu lassen. Sie muß ja deshalb nicht gleich: von uns gehen, was das einzige wäre, das gestattet ist. Je mehr Joe in ihrem Körper herumbohrt, reibt, zwickt und zerrt, umso weniger kann sie nun das erzeugen, das ihr Macht verleiht und immer verliehen hat. Also muß sie ihre Macht als solche verleihen, vielleicht kann ein andrer was damit anfangen. Sie gibt sie ab, kriegt sie aber immer wieder zurück, diese Macht ist wertlos, denn sie ist keine. Abgeben zum Beispiel an einen Sadisten, der vollständig über sie bestimmt, ob und wann sie, neben ein paar anderen eleganten Frauen, die ebenfalls warten, überhaupt drankommt, um geschlagen zu werden (niemals: rangenommen zu werden. Der Sadist verweigert den Sex. Seine Macht ist, Sex haben zu können, ihn aber nicht zu gewähren, denn Gewährleistung wäre zu billig, man würde bestenfalls nur das für sich zurückkriegen, was man eingesetzt hat und einem jetzt nicht mehr gefällt oder kaputt ist). Meiner Meinung nach wird in den Interpretationen dieses Films, die ich kenne, zuwenig auf Pauline Réages "Geschichte der O." eingegangen, es gibt zwar, wie immer bei von Trier, zahllose Zitate, und es macht Spaß, sie aufzuspüren und dingfest zu machen, aber dieses eine Zitat kommt mir zu kurz. Pauline Réage ist bekanntlich ein Pseudonym, aber die Autorin dieses Romans ist trotzdem eine Frau, da kann man nichts machen. Und sie hat kein männliches Pseudonym für sich gewählt. Sie hat den Roman allerdings für ihren Geliebten geschrieben. Sie hat sich ihm mit ihren eigenen Phantasien ausgeliefert (vielleicht hatte er selber keine? Keine Ahnung, ob er diese Herausforderung wirklich angenommen hat, Jean Paulhan, Cheflektor bei Gallimard, Akademiemitglied, also ein Herr und ein Herr über die Schrift. In der Onanie schreibt Joe sich selbst, sie duldet dann nur sich selbst als Lustspenderin, als Lustpendlerin, sie schreibt sich sozusagen selbst, das müßte sie eigentlich am besten können, doch es funktioniert nicht, denn das, was Leistung genannt wird, untersteht der Kultur, und Joe untersteht sich, das zumindest zu unterlaufen zu versuchen. Ohne eine Hexe zu sein).

Es ist immer die Unbedingtheit dieses Sich-Auslieferns nötig, um die Macht vom Mann zurückzugewinnen, denn dagegen kann er nichts machen, gerade wenn er genau das selber anstrebt. Seltsamerweise habe ich auch nirgends gelesen (ich habe aber bei weitem nicht alles zu diesem Film gelesen!), daß die Frau diese Körperarbeit leistet, ihren Körper sozusagen hinhält (und wenn man die Verantwortung für etwas nicht übernehmen will, sagt man: Dafür halte ich meinen Arsch nicht hin!), damit der Mann dann die wirkliche Arbeit des Eindringens und fleißig Herumarbeitens im fremden Körperinneren auf sich nehmen muß. Auch die junge Assistentin, die von Joe angelernt wird, angelernt werden muß, weil das ihr Boß von ihr verlangt, als sie älter wird, also weniger wert ist als am Anfang ihrer Laufbahn, kommt bei Pauline Réage vor. Und diese Proselytin, eine unterdrückte, deklassierte, verunstaltete Kreatur, die, wie ein erigierter Schwanz, rasch aus sich herauswächst, weil sie nicht rechnet und nicht erklärt, womit sie wiederum ihre Macht festigt, die sie fast bewußtlos erreicht, weil sie diese Macht weder verurteilt noch verherrlicht (noch auf sie verzichtet), errichtet dann sofort ihr eigenes Machtsystem, indem sie sich ebenso ausliefert, ohne Vorbehalt, sie behält alles, indem sie nichts zurückhält. Aber, die junge Frau P ist moderner, mit dem eigenen Lieferservice, dem eigenen Lieferwagen. Sie sitzt sozusagen in sich selbst, und dort bleibt sie auch, in einer Art gleichgültigen Sich-Abfindens (obwohl sie unter dem Mobbing ihrer Kameradinnen früher sehr gelitten hat. Da muß sie es andrerseits auch wieder gelernt haben). Darin unterwirft sie sich nur scheinbar ihrer Lehrmeisterin Joe, doch langsam, ohne daß die es merkt, gewinnt sie, die Jüngere, immer mehr Macht über ihre Lehrerin, die gegen das Altern ihres Körpers nichts unternehmen kann (Übermacht nicht nur durch die brutale Körperverletzung, mit der Joe am Ende fast totgeschlagen wird, und dies eben nicht als SM-Vertrag mit Regeln und Privatverträgen, über diese Konventionen hat sich davor ja schon der Sadist, dem sie sich anheimgegeben hat, hinwegsetzt. Er akzeptiert keins der Sicherheits-Zeichen, mit denen der Unterworfene andeuten kann: jetzt ist es aber genug!, womit er sich zu einem einzigen Sicherheitszeichen macht und den Sadisten damit zum Überlegenen, nicht umgekehrt, wie manchmal behauptet worden ist. Es ist nie genug, weil der Körper nie genügt. Es ist vollbracht, wie schon Jesus sagte, aber nur für dieses Mal. Beim nächsten Mal muß der Reiz etwas stärker ausfallen. Nur nach dem Tod geht es dann nicht mehr weiter), weil die "natürliche" Ordnung der Dinge anerkannt werden muß. Die Schülerin überwindet Joe, mit der sie auch ein lesbisches Liebesverhältnis hat (sehr unklug, denn in den dunklen Machtgründen der Liebe, bei denen das Grundbuch, wo alles eingetragen ist, irgendwann immer irgendwo verschwindet, verliert immer einer, und das ist eben nicht immer der Schwächere. Die Macht vernichtet zwar, aber oft den, der zu herrschen glaubte und sich in der Gebär-Mutter der Sicherheit gewiegt hat), durch ihren perfiden, aber aufrechten Gang in die "natürliche Ordnung" der Dinge. Der Mann (Jerome, Joes Exfreund, der sie vor vielen Jahren defloriert hat und mit dem sie einen Sohn hat, den sie verlassen mußte) gehört jetzt ihr, der Jungen, der Schülerin, die damit ihre Meisterprüfung abgelegt hat, und damit ist Joe selbst abgelegt. Diese ausgelernte (eben nicht: fertiggemachte) Schülerin beweist damit, daß sie die Freiheit hat, auf Gewalt verzichten zu können (aber mit macht es doch mehr Spaß!), sie braucht sie nicht, es genügt ihr schon, Joe buchstäblich anzupissen; der Aufstand gegen das Notwendige ist ganz überflüssig, denn das Notwendige ist halt einfach nur notwendig, sonst nichts, und wenn man muß, dann muß man eben. Oder man macht, daß man muß. Man kann auch irgendwo hinmachen, wenn man kann. Dafür schlägt der Mann zu, an beiden Enden von Joes Körper. Er muß sich nicht zurücknehmen, er kann drauflos prügeln, auf die Oberfläche und in alle diese Öffnungen, die er einst für sie füllen sollte, einfach so, angefeuert von seiner neuen jungen Geliebten, die zur Nachfolgerin ihrer Lehrmeisterin wurde. Seine Macht, die "Natur" ist (die größere Körperkraft und die sexuelle Ausstattung des Mannes, über die man buchstäblich: nicht hinwegsehen kann), muß sich auf nichts mehr berufen, nicht einmal auf ihre Steigerung, auf die sie ja ausgelegt ist, es gibt keine Stellungnahme zu ihr, es ist nichts nötig, es muß nichts herangezogen werden, als Erklärung, Deutung oder was auch immer, sie ist einfach da, diese Macht, und gewinnt, weil sie sich um ihr Wesen nicht kümmern muß, denn die Natur kümmert sich schon um sich selbst und die Macht genauso, außer wir kümmern uns um sie. Und das geht meist nicht gut aus. Sogar starke Eschen (mit einem zugespitzten Eschenpfahl muß das Herz einer Hexe durchbohrt werden!), wie sie Joes Vater mit seiner Tochter immer wieder betrachtet hat, können verkrüppelt sein. Und die Lehrmeisterin und Ex-Geliebte, Joe, steht jetzt allein da, aber stehen kann sie nicht mehr. Sie ist halbtot geschlagen. Ein Freier (nein, nicht ein Freier, ein freier Mensch) kann sich seiner Freiheit nicht freiwillig berauben, aber wenigstens kann er, in höchster Ausprägung von Freiheit, darauf verzichten. Hier treffen sich Macht und Freiheit, guten Tag, bitte nach Ihnen, es ist egal, wer vorangeht, denn die Macht ist immer frei, und Freiheit ist immer auch Macht.

Joe kann das nicht, nicht mehr, sie kann nicht verzichten, und da muß sie belehrt werden. Diesmal ist sie die Schülerin, aber man erklärt ihr eben: nichts. Es ist so und aus. Sie wird vernichtet, in ihre Bestandteile zerlegt. Weil sie nichts verstanden hat und nichts verstehen würde, auch wenn sie "unterrichtet" gewesen wäre. Sie hat ihrem Körper etwas entreißen wollen, was sie längst bis zum letzten Rest vergeben hatte. Keine Vorräte mehr da. An Lust kann man sich keine Vorräte anlegen. Da gibt es dann keine Vergebung. Man wird einfach ausgesondert und ausgetauscht.

Eine ganz normale junge Frau, P, ja, die mit dem verkrüppelten Ohr, dessen sie sich schämt (vielleicht ist sie gerade deshalb so normal, weil alle ihre Verwandten auch noch Verbrecher sind und man sie gerade deshalb als Joes Schülerin ausgesucht hat. Die beiden werden Geldeintreiberinnen, wozu sich Joe natürlich gut eignet, denn sie hat ihr Leben lang Männer studiert, wenn auch nicht das Geld — doch keiner hat je sie studiert, das war auch nicht nötig — , und weiß, wie sie reagieren und wie man diese mit deren geheimsten Wünschen demütigen und zur Bezahlung zwingen kann) ist zur Siegerin über eine geworden, die Herrin sein wollte, ohne wirklich etwas über das Wesen von Herrschaft zu wissen. Joe hat sich nie gefragt, was das ist, sie wollte nur immer Körper sein und genießen, ohne Grenzen. Es nützt nichts, die Macht zu verteufeln, zu bekämpfen oder zu ihr aufzuschauen, sie zu bewundern. Man siegt, indem man sich mit ihr abfindet und sich mit seiner Überwältigung einverstanden erklärt. Das Normale siegt immer, die Schranke hebt sich, das Vakuum brüllt auf und saugt dann alles ein, was da ist. Außer man hat sich vorher fest an die Wirklichkeit angebunden, damit man keinem Sirenengesang folgen kann. Außer man findet sich mit allem ab. Es genügt schon, das einzige zu wissen, was wissenswert ist, damit man vorsichtig bleibt: daß das Eine den Anderen vernichten muß, denn die Menschen sind zum Töten geschaffen, nicht: wie geschaffen. Weil die Jüngere der Macht gar nicht mehr bedarf, hat sie sie. Sie hat sie je schon. Das ist die höchste der Freiheiten. Aber ist das eine Freiheit, auf etwas zu verzichten, das man schon hat? Und wenn man das folgerichtig weiterdenkt, so wäre es die höchste Freiheit der Frau, der Macht (über den Mann, in der Gesellschaft, über das Kind, über das Sprechen über sie, über sich selbst!) gar nicht mehr zu bedürfen. Dann kann sie ein schönes Haus für ihren Körper und ihren neuen Freund errichten, während Joes Sein einstürzt und sie sich, halb tot, dann auch noch in die Interpretationsmacht des Juden Seligman begibt, welcher sie aufgelesen (nicht: gelesen!) hat, als sie blutend am Boden lag, die ihr aber nicht weiter wehtut, im Gegenteil, sie in Ruhe und Sicherheit wiegt, denn da wird zum ersten Mal nichts von ihr verlangt, sondern nur gegeben, und zum ersten Mal will sie selbst dann gar nichts mehr, auch gar nichts mehr geben, aber nicht in dem Sinn ihrer Schülerin, daß sie der Macht nicht mehr bedürftig wäre und einfach nur: es sein lassen und selbst sein kann, sondern daß vom Mann ihre Verschriftung erfolgt, die sie selbst ja ihrem inzwischen tauben Körper (während P nur ein mißgestaltetes Ohr hat!) schon lange nicht mehr entreißen konnte, also eine Art der Verschriftung, die, ohne daß der Körper dafür gebraucht würde, doch diese Körperlichkeit unaufhörlich umkreist, und, was für eine Erleichterung: Es ist nicht Unbedürftigkeit, sondern das Abzielen auf Nichts, die folgenlose Interpretation ihrer Handlungen, die sie endlich nicht mehr tangiert oder bedroht, also letztlich der Tod, das Nichts, auf das die Macht stößt, will sie sich wirklich ganz entfalten. Folgerichtig endet die Geschichte der O. damit, daß die Heldin ihren Herrn um ihren eigenen Tod bitten DARF (Lars von Trier hat bis zum Tod seiner Mutter geglaubt, Halbjude zu sein, was er nicht ist, Halbjude ist gleich halber Mensch, nicht einmal etwas Halbes und gewiß kein Ganzes, die Juden sind gestorben, ohne etwas zu bitten, zu verlangen, zu erwarten gehabt zu haben, man hat sie einfach umgebracht. Und dieser Jude Seligman, ein Mann der Schrift, ist ohne Sex sowieso kaum noch am Leben, wie die meisten denken würden, die sich sowas auch nur vorzustellen versuchen. Und als er sich diese andre Hälfte vom Leben, zum Dank für seine interpretatorischen Leistungen?, von Joe holen will, passiert die Katastrophe). Joe hat die Lust verloren (im ganz wörtlichen Sinn, nicht: sie hat die Lust an irgendwas verloren, wie man so sagt), weil sie die Nutzung (und Benutzung) durch Männer, aber auch durch sich selbst, nicht weiter auf die Spitze treiben konnte, um ihr Sein zu rechtfertigen. (Das unterscheidet sie allerdings von dem, was viele Frauen unternehmen, um ihrer einzigen Seinsberechtigung nachzukommen, nämlich die, von einem Mann wahrgenommen und gewählt zu werden, wobei sie alles, was möglich ist, in diese Richtung betreiben, nur nicht: sich treiben lassen!: Fettabsaugung, Titten Vergrößern - Joe hat so gut wie überhaupt keine -, Gesichtsstraffungen etc.etc., was sie also auf das Ziel ihrer eigenen Vernutzung, der immer eine schmerzhafte Verletzung vorausgeht, hin unternehmen, um ihre Existenz in Bezug auf einen Anderen zu rechtfertigen, ja, immer noch, da können Sie sagen, was Sie wollen, das alles zerrt diese Frauen erst recht hinunter, bis sie nichts als ein Mittel zur Herrschaft andrer geworden sind, während Joe nur ihren eigenen Körper zum Üben hat, das heißt ihm etwas entnehmen möchte —wie einst die Zuckerln aus dem Sackerl —, das längst nicht mehr da ist, anstatt sich Siliconkissen implantieren zu lassen, das interpretiere ich mal so rein), Joe also stößt in dieses Vakuum vor, das, wie gesagt und wie es auch selbst sagt, alles, wirklich alles einsaugt. Sie verschwindet, indem sie den Mann verschwinden läßt, der plötzlich nicht einmal mehr ein Gegner für sie sein kann (und ihr lange vorgespielt hat, ihr Interpret, Lehrer, Retter und Freund zu sein. Jetzt hat er verspielt. Alle seine Trümpfe sind ausgespielt. Aus). Beide, am Tiefpunkt des Nicht-Mehr-Benutztwerdens und nicht mehr Benutzt-Werden-Wollens, verschwinden. Und nicht in sich selbst. Nicht einmal das. Nur im Film. Ich weiß es nicht. Es wird alles schwarz. Deshalb ist es ja ein Film: Weil man es nicht weiß. Weil man nur weiß, was einem gezeigt wird. Damit wird der Zuschauer selbst dann ermächtigt und gleichzeitig machtlos. Er wüßte, wie es weitergehen sollte. Er weiß nichts, und er hat sich selbst ausgeliefert. Er ist nirgendwo angekommen.

nymphomaniac2

 

Bilder aus:

www.bbc.co.uk
www.columbusalive.com

21.4.2014

 


zur Kinofassung von Lars von Triers "Nymph()maniac" © 2014 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com