Neid

Privatroman

Zweites Kapitel

 


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So, hier fangen wir wie neu an, oooch, wieso hier, es war grad so spannend, nein, war es nicht, aber meinetwegen, dann eben hier, man kann schließlich immer neu anfangen, sagen die Wohnbaugenossenschaften, die Leerstände als Verlustbringer empfinden müssen, ähnlich den Gemeinden an sich, das bringt große, nicht nur technische Probleme: Dieser spezielle Merkzettel oder was das sein soll ist offenbar aus einer Frauenzeitschrift herausgerissen worden, ich sehe in der Mitte das Foto eines Mädchens und eines jungen Mannes, mehr sehe ich nicht, mehr sieht auch Brigitte nicht, am Rand der Zeitschrift, des Zeitschriftenfetzens, sind ebenso offenbar, doch nur für den Eingeweihten erkennbar (ich meine die dem Tempel der Hausarbeit geweihte Frau, egal welche und egal welche Arbeit, denn die Frau ist ihre Arbeit, der Mann ißt ihre Arbeit), nötige Einkäufe notiert, so sieht mir der Zettel aus; und danach, daß auf ihm von herbstschmutzigen Schuhen herumgetrampelt wurde, sieht er auch aus, jetzt liegt er also im dreckigen Rinnstein, der Zettel, der herausgerissen wurde, der Rest einer Zeitschriftenseite, der wird wem fehlen, drauf wette ich, immer müssen die Leute auf etwas runterschauen, sogar auf Berggipfel noch, mit einem Paraglider oder sowas, von einem höheren Gipfel, von dem aus sie gestartet sind, auf einen kleineren, geringeren Gipfel herunterschauen, hinabschauen, und recht haben sie damit! Solange sie auf jemanden runterschauen können, sind sie zufrieden, und wenn sie dafür einen Berg ersteigen müßten. Warum hebt Brigitte, die einen Prestigeposten in dieser Gemeinde bekleidet und sich auch danach kleidet, äh, ich meine entsprechend kleidet, diesen Fetzen aus dem Rinnstein überhaupt auf? Warum hat sie sich wegen eines stark verschmutzten


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Stücks Papier überhaupt gebückt? Hat das Foto, haben die Fotos ihr Interesse geweckt? Die sind doch kaum zu sehen! Aber doch, da ist etwas zu sehen, so wie das Wasser in den Leitungen verweilt und rostig, verbleit und giftig wird (allerdings stets weniger als ein Kraftfahrzeug), so kann man, starrt man nur lange genug auf diese Fotos, noch etwas darauf erkennen, was aber nicht mit dem identisch sein muß, was dazumals das Vorbild für diese Abbilder war. Da ist noch eins, noch ein Foto, ich glaube, Brigitte hat es noch gar nicht gesehen, der Riß einer grausamen oder nachlässigen Hand geht nämlich genau durch ein Gesicht hindurch, was natürlich besonders neugierig macht (das Wasser muß von der Stadt künstlich in Bewegung gehalten und erhalten werden, damit kein Dreck am andren Ende rauskommt, und damit es nicht so entsetzlich stinkt wie in Frankfurt an der Oder oder in St. Pölten, damit also kein Dreck rauskommt ungefähr so wie bei mir, sondern etwas, das man trinken kann, wie wir alle es können und müssen, etwas Kristallklares, wie der Dichter der Kristalle sagen würde, der Stifter der genau gezeichneten Dinge, aber ich, mit meinem Stift, kann gar nichts genau zeichnen, das werden Sie sicher schon bemerkt haben, und Ähnliches gilt auch fürs Kanalnetz, hab beinahe vergessen was, ach ja, es darf nichts stehenbleiben, nur das, was Sie hier stehen sehen, und wenn wir etwas sehen, das uns interessiert und von dem wir uns sogar etwas erwarten, dann können wir uns ebenfalls sehr rasch bewegen, wenns sein muß, so können wir recht rasch vor einem fahrenden Auto zurückspringen, wenn wir noch nicht neugierig sind aufs Jenseits, weil im Diesseits, zumindest glauben wir das, noch Dinge auf uns warten, die unsere Neugierde erregen könnten.


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Da es diese Dinge in unserem Leben bislang noch nicht gab, es sie aber irgendwo geben muß, leben wir bitteschön noch ein bißchen, um sie zu finden, oder? Ist ja kein großes Risiko, denn sterben, das müssen wir sowieso), dies Gesicht ist das Gesicht einer älteren Frau, schätze mal so zwischen 40 und 50, je nachdem, wie gut sie sich erhalten hat, wie soll ich das wissen?, und wieviel sie für ihre Schönheitspflege investieren konnte, wie soll ich das wissen?, kann sein auch über 50. Ich weiß es nicht, fragen Sie mich nicht, ich weiß grundsätzlich, wenn auch nur ungefähr, kein Mensch kann die alle auseinanderhalten, wer welche Lippenstiftfarben anbietet, zu Tausenden, aber ich weiß nicht, ob sie der Frau auf dem Bild passen würden. Brigitte schaut sich die Fotos an, das Foto des jungen Mannes ist halb vom Profil einer schmutzigen Turnschuhsohle verdeckt, wie hier jeder Zweite eine am Schuh trägt, Brigitte versucht, Feuchtigkeit und Dreck wegzuwischen, verschmiert das Ganze aber nur noch mehr, warum will sie dieses Foto so unbedingt betrachten, es geradezu unter die Lupe nehmen? Die Notizen am Rand sind wahrscheinlich noch interessanter als dieses Bild, es ist unwahrscheinlich, was für einen Scheiß die Leute fressen, warum bemüht sie sich also um dieses Zeitungsfoto, anstatt zum wesentlichen, zum nicht probiotischen Probejoghurt – hier haben Sie einen Gutschein- und zur Hühnerauktion (hier, ja, genau hier haben Sie die Tiefstpreisgarantie!), ich meine Geflügelaktion beim Spar zu gelangen, doch diese Aktion ist längst ausgelaufen, einige neue waren dazwischen und gingen dahin und mit ihnen die dazugehörigen Hühner, wer weiß, wie alt die Zeitung überhaupt ist, hier sehe ich kein Datum, das heißt


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aber nichts, es heißt etwas, oder? Hier gibt es, neben dem Verlust landwirtschaftlicher Rahmenbedingungen bei verstärkter Nutzungsinvestierung auf den Gunstflächen, äh, ich meine den Flächen, wo einfach alles paßt (Rahmenbedingungen: Wie kann etwas am Platz halten, das keinen Rahmen mehr hat? Es fällt doch sofort raus!) und der Aufgabe der Bewirtschaftung auf ertragsärmeren Flächen der Gegend noch: den riesenhaften Berg, der jedoch abgeerntet ist, man stelle sich das vor:  Jahrhundertelang hämmert einer auf dich ein, nein, nicht einer, Hunderte, Tausende! Vom Berg geschundene Menschen, die ihrerseits den Berg schinden! Sie holen dich aus, sie holen dich nicht da raus, aber du hast keine Geheimnisse, du Berg, alles, was du hast, liegt ja und lag immer klar zutage, von unten kann man auch noch was rausklopfen, bis irgendwann mal oben die Decke, der Plafond des Berges, der sich zur Abwechslung mal in seinem Inneren befindet, einbricht, was fatal sein kann und letal außerdem für den arbeitenden Besucher, der in der Freizeit drauf stolz ist, etwas abgebaut zu haben, destruktiv gewesen zu sein, ich meine, seine Destruktivität, die sich ansonsten gegen Gattin und Kinder richtete, abgebaut zu haben, allerdings auf höchster Stufe, ich muß noch nachschlagen, wie hoch diese Stufe ist, es sind ja wahnsinnig viele Stufen, ich glaube, jede ungefähr 6 m hoch, ich kann mich auch irren, ich kann es gleich nachschlagen, es ist aber egal, trotzdem, wenn ich mich noch länger hier aufhalten möchte, muß ich das noch erforschen mit meiner neuen lächelnden Lampe, nein, mit der nicht, mit meiner naja, nicht mehr so neuen Erforschmaschine Gucki, jawohl, gleich hier, in diesem Gerät, auf das ich selber einhämmere, meine Gucki und ihr Wald,


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die sogar weniger Forsche wie ich recht gut, nein, besser! zu gebrauchen verstehen; dieser Berg also, na, gehts endlich weiter mit dieser Stillen Post? Wie komm ich überhaupt drauf, über den Berg zu reden, da Brigitte, die Geigenlehrerin, doch im Augenblick, in diesem ewigen Augenblick des Aufgeschrieben- und Festgenageltseins, auf einen Zeitschriftenfetzen starrt? So, jetzt hat sie auch die ältere Frau auf dem Foto ausgeortet, und sie erschrickt, keine Ahnung weshalb, ich kann kaum etwas auf dem zerkrumpelten Stück Papier erkennen, das einst ein Glanz war, was viele gern wären, in einer Hochglanzzeitschrift, ich meine: dies ist eine Hochglanzzeitschrift, allerdings eine, die von gestern ist, immer von gestern, egal, was heute war. Dieser Berg also, jetzt laß mal den Berg im Dorf, meinetwegen in der Stadt oder vor der Stadt oder außen vor, nein, was, du willst nicht? Aber es geht nicht weiter, es stockt das Rad des Erzählens schon wieder, eigentlich dauernd, kaum habe ich es flottgemacht (das ist nicht dasselbe wie flott gemacht, denn das könnte ich nicht), und erzählt muß doch werden, das muß sein, das ist das einzige, was alle verlangen, sogar von mir! Von mir! Ausgerechnet. Man stelle sich vor, als ob ich das je gekonnt hätte, und trotzdem erwarten die Leute sich das Erzählen von mir, hahahaha!, sie verlangen Erzählung, weil sie glauben, überhaupt etwas verlangen zu dürfen, da sie ja nichts haben, und wenn schon, und wenn sie schon eine Erzählung wollen, denn das, was hier beschrieben ist, ist doch nur der Schauplatz von etwas, und nicht einmal das steht fest, denn erstens gibts da nichts zu schauen und zweitens: Ist das überhaupt der Platz, den ich meine? Jetzt habe ich diesen Platz erfunden und weiß nicht, was ich


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drauf machen soll. Auf sowas steh ich gar nicht, auf so einen Platz. Zum Geigespielen würde er reichen, zur Geiselnahme nicht, weil er öffentlich ist, dieser Ort, und es wäre sinnlos, etwas zu nehmen und hierher zu bringen, jeder würde es sehen, und man könnte es nicht behalten, denn wenn jemand sieht, daß man etwas hat, will der andre es sofort auch. Der Ort, woanders, ein andrer Ort, wo sich etwas abgespielt hat, das in eine Zeitschrift (und möglicherweise auch in eine andre, denn was in Illustrierten steht, ist normalerweise schon woanders gestanden, bereit zur Geiselentnahme) gekommen ist, könnte überall sein, kaum denkbar, daß er ausgerechnet hier sein sollte, nur weil das Papier auch hier ist, aber nicht sein sollte, denn es verschmutzt die Straße. Eher unwahrscheinlich, denn wir lesen alle lieber über Dinge, die nicht in unserer Nähe vorkommen, denn würde man über unsere Nähe berichten, wären wir sicher gekränkt, wenn wir nicht drin vorkämen und gekränkt über andre, die gleich nebenan vorkommen. Sehe ich selbst denn auch so arm aus wie mein Nachbar hier in seiner rustikalen Wohnküche, auf die er lange gespart hat und auf die er so stolz ist? Fürchte,  daß ja. Brigitte starrt das Papier an, versucht es zu glätten und beschließt, das in Ruhe zu Hause zu tun. In ihrem Einfamilienhaus in dieser Stadt, in einer Randlage dieser Stadt, die jedoch vom städtischen Busliniennetz wie vom ländlichen Wegenetz erfaßt wird, nur ich erfasse es nicht, was hier geschieht, wie soll ich es da beschreiben?, meinetwegen müßte es diese örtliche Erschließungsfunktion gar nicht geben, von mir aus könnte man die Stadt einpacken, verschließen und den Schlüssel wegwerfen. Egal, aus welcher Richtung man kommt, ob über den Paß oder


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durchs Gesäuse, was sieht man als erstes? Als erstes fällt der Blick auf diesen roten Berg. Nicht der schon wieder! Doch, doch, es muß sein, wir schreiben jetzt über diesen Berg und die Stadt davor, ich nehme doch an, sie kommt davor, denn auf dem Berg kann sie nicht sein. Ach, könnte ich doch über etwas Interessanteres schreiben! Aber erstens kann ich es nicht, und zweitens habe ich nichts, keinen Gegenstand, nichts, ich habe nichts und ich habe nichts davon. Bevor der Mensch war, war der Berg, und ich bin froh, ihm an dieser Stelle den schönen Preis überreichen zu dürfen, er steht hier an meiner Stelle, und daher darf ich fort sein und bleiben, und hier, schauen Sie, hier haben sich alle Lebenschancen entwickelt, die wir uns vorstellen können, und hier verschwanden sie auch wieder. Ich verschwand ebenfalls, weiß nicht mehr, wann. Er beherrscht die Landschaft nicht wegen seiner Höhe, dieser Berg – da gibt es wirklich höhere!, – sondern wegen seiner außergewöhnlichen, wie soll ich sagen: Form, also dieses Wort wäre mir wirklich von alleine eingefallen, das hätte ich nicht nachschlagen müssen bei Wiki, dem harten Mann, der niemanden reinläßt, indem er jeden reinläßt, Wiki, der andren Guckmaschine, könnte dort nachschlagen diese eherne Pyramide der Alpen, hier einfach genannt: Berg, sie besteht aus Stufen, und ich habe mich mit diesen Stufen komplett geirrt, ich habe sie auf die Hälfte geschätzt, doch sie sind das doppelte (mich hat man auf mehr als das Doppelte von anderen geschätzt, und ich bin nicht mal die Hälfte, es geht in jede Richtung, aber manchmal nur hinab)! Sie sind zwischen 12 und 24 Metern hoch, die Stufen, und schillern in den verschiedensten Farben, von rot bis dunkelbraun, das muß ich


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sehn, dort muß ich hin, es ist genau der richtige Zeitpunkt, denn stärker erschlossen als von mir nicht gewünscht wird das hier nicht, ist das nicht schön gesagt? Ja, finde ich auch. Bin zur Erschließung fest entschlossen. Ich weiß schon, daß Sie das nicht finden, daß ich etwas schön sagen kann, aber was finden Sie schon?! Sie gehen als ein Blinder durch die Welt, wenn Sie mich und meine Werke nicht sehen! Bumm, jetzt hat es Sie hingestreut, besorgt um Ihr eigenes Fortkommen, wie Sie waren, als Sie im Gehen sich halblaut vor sich hinsangen, doch mir sagt das nichts, was Sie sangen. Nicht einmal Zeitungsfetzen finden Sie, aber wenn doch, dann lesen Sie sogar die! Die multifunktionale Nutzung der Straßen hat ihren Höhepunkt erreicht, und es geht bereits bergab, ohne je bergauf gegangen zu sein, ich muß mich also beeilen, nein, muß ich nicht, denn mehr Straßen wird es nicht geben, eher weniger, Teile des ländlichen Straßennetzes werden von der stätdtischen Bevölkerung als Einkaufsraum, Erholungsraum (jetzt hab ich doch glatt Erhellungsraum geschrieben) sowie Sport- und Freizeitraum genützt, warum also sollte ich sie nicht nützen, um es mir einfach anzuschauen? Beweglichkeit ist zu einer Schlüsselfrage geworden, aber ich bleibe ein Schlüsselkind, hänge mir quasi selber um den Hals, man läßt mich nicht aus mir heraus, obwohl ich selbst ja den Schlüssel habe, der ich ebenfalls selber bin, doch ich will nichts von mir wissen; komisch, das Tempo von Veränderungen ertrage ich nicht, genausowenig wie mich selbst, und ich verändere mich schon seit Jahren doch überhaupt nicht, nur kein Neid! Wie ich schon sagte, und ich sage alles hier mindestens fünfmal, wir stocken das aber noch auf, wetten?,  jetzt ist es aber erst Nummer zwei,


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glaube ich, und da schreien Sie schon wie am Spieß: Wiederholung, Wiederholung, immer dasselbe, bitte wenigstens anders dasselbe! Schnauze! Hier spreche ich, endlich, und ich bin ganz bei mir, wenn auch ohne Trost, denn bei Trost bin ich nicht, aber auch in diesem Punkt werden Sie mir nicht beipflichten, und doch ist es meine Pflicht, das hier zu schreiben, es ist geradezu mein Beruf, meine Berufspflicht: Also diese Form entstand durch den Tagbau, bei dem das Erz etagenweise aus dem Berg herausgesprengt wurde, schon die Römer haben gesprengt, ich weiß aber nicht womit, das können Sie sicher selber rauskriegen, nur das Erz nicht, das kommt nicht von selber, nur weil Sie auf einen Knopf drücken, und der gefährliche, aber produktivere und angesehenere Untertagbetrieb in der Bar des Berges wurde 1986 aufgegeben, und es gibt nun, in letzter Folge von unendlichen Folgen, in Folge des allgemeinen Rückbauprogramms, auch des Berges, der fertig ab- und rückgebaut ist, und der Orte, wo noch vor kurzem Wohnblock neben Wohnblock stand, ein Schaubergwerk in einem aufgelassenen aufgeblasenen (weil er als einziger bleiben durfte) Stollen und damit Schluß, ach was, das habe ich auch schon so oft gesagt, sogar das wurde bis zur Unkenntlichkeit wiederholt, was ja Sinn und Zweck ist, und sicher kommt es gleich nochmal, damit es noch mehr Sinn gibt, den ich zwecks Aufblasen meiner Persönlichkeit, meines Persönchens, nicht wahr, selbst hineingelegt habe, den Sinn, er gehört mir, ich setze ihn mir nämlich an Stelle meiner Sinne ein, und dann werden Sie staunen! Sie werden mich nicht wiederkennen, wenn ich mit mir fertig bin. Weiter im Text, Sie müssen ja nicht, ich aber muß: Auch was man heimlich zu sagen versucht, aber nicht


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sagen kann, wird irgendwann unheimlich, ist das der Grund, weshalb ich alles hier, was man ohnehin sieht oder woanders nachlesen kann, hundertmal ausspreche? Um es zu bannen, da ich alleinstehend bin und jedem Angriff schutzlos ausgeliefert, denkt Brigitte K., aber wann kommt das Unheimliche denn nun endlich, wenn man drauf wartet, kommt es wahrscheinlich gar nicht, trotzdem: Wieso kriegen Sie die Kurve nicht, wo ist das Unheimliche, das Sie so emsig suchen?, fragt Brigitte K. einen Besucher, der aber auch nicht gekommen ist, weil er heimlich ein Verhältnis mit einer Frau hat, die nichts Unheimliches an sich hat, au, der Schnitt ging tief, aber es geht sicher noch tiefer. So. Der Berg nun, seines Erzkleids entkleidet, ist aber immer noch da, nur nützt er niemandem mehr irgendetwas. Er ist kein Schlammdenkmal, wie es an Flüssen üblich, aber überflüssig ist, die treten einfach zu oft über ihre Ufer, die sie ja erst zu Flüssen machen, sonst wären sie Seen, die ja nie irgendwohin gehen, weil sie nicht können, sie sind in die Waage gelegt und für zu schwer befunden worden, um sich je zu bewegen, es wäre denn in sich, mittels Wellenmachens, und der Berg ist ein Industriedenkmal, das sagt, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Oder: Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist, hängst du ihn bitte in die Garderobe, während ich Schutzkleidung anlege, vor allem eine dunkle Schutzbrille, damit ich das alles nicht mehr sehen muß? Und Vater sagt: Warum bist du überhaupt in das Schaubergwerk gekommen, wenn du dir das alles gar nicht anschauen willst? Hättest ja gleich ins Wirtshaus gehen können! Bitte, meine Augen haben, als Mensch, ich meine als Menschenaugen Gott geschaut, meinen Vater, und ich bin auch nicht gestorben. Ich bin ja nicht


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einmal an diesen Sushi vorige Woche gestorben. Also beschützt fühle ich persönlich mich nicht, nie – und viel ist es nicht, was ich meinen Geist nenne, aber es kommt ja von dir, Papa, und mehr hast du mir nicht mitgegeben in mein Jausensackerl, mein Jesussackerl. Das sagt der Berg seinen guten Menschenbürgern im Grunde, am Grunde, jeden Tag, sagt Brigitte, obwohl die es ohnehin wissen und ihn erbarmungslos seiner selbst beraubt haben. Wir brauchen diese Frau nicht, niemand sonst braucht sie ebenfalls, irgendwas stimmt da nicht. Also ich brauche sie schon, weil ich an ihrem Beispiel etwas ausdrücken möchte, aber ich kann es nicht, ich habe keine Zitronenpresse und muß daher alles mit der Hand machen, und die schwächelt, wenn auch nicht so sehr wie mein Geist. Aber gerade von Geistern soll doch die Rede sein! Nein, ist es umständehalber leider nicht. Ich lache ein bißchen und schließe die Augen, lasse meinen Mund vor Schmerz zucken und bekenne vor Ihren Augen: Es ist diesem Berg mit nervösen Menschenhänden, die das schon lange haben kommen sehen, einfach nichts mehr zu entreißen, das man noch verkaufen könnte. Ein schlanker raumgepflegter Himmel, ohne jedes Make-up, das geht nur, solang die Haut noch halbwegs auf den Knochen hält, sonst ist fast nichts mehr übrig, an dem man sich ein Beispiel nehmen könnte. Wo ist er hin, der Stolz der vergangenen Tage, als die Sensen- und Hammerherren Hammer und Sichel triumphierend ein für allemal niedergetrampelt haben, was meine ich damit? Nichts, damit hat man nichts mehr zu meinen und nichts mehr zu sagen, was es noch zu untersuchen und abzubauen gibt, sehen wir hier, es sind z. B. quälende Veränderungen des Geschlechterverhältnisses, mit denen ich Sie bereits genug gequält habe, da hab sogar ich schon Mitleid,


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die darin gipfeln, daß die jüngeren Frauen weggehen, die alten aber bleiben, als Portierinnen, als Conciergen eines Wirklichkeitsgehäuses, das sie verwalten, bewachen und mit dem sie seit Jahrzehnten ein wackliges Wirklichkeitsverhältnis eingegangen sind, ein bequemes Zweckverhältnis (niemand sonst geht mit ihnen noch Verhältnisse ein), in das der Mensch verändernd eingreifen kann wie in diesen Berg, den er abgebaut hat, von innen und von außen. Jetzt ist nichts mehr drin und nichts mehr dran. Der Mensch, wer immer das ist, kann mit etwas nicht umgehen und muß es irgendwann zugeben, er kann es nicht, umgehen so wenig wie mit dieser jetzt unnützen, jahrhundertelang beharkten, behackten, bekackten Landschaft, die davon lebte, daß man ihr dauernd etwas weggenommen hat, u.a. die Kräfte ihrer Menschen, was diese aber stolz machte, worauf eigentlich? Auf das Werk ihrer Hände? Ja, und auf das Produkt, das Erz, das Eisen, das die Natur gegeben hat, still ruht der See, still ruhen jetzt auch die Schwerfahrzeuge (die Haulpaks, das ist ihr Familienname, lese ich in diesem weisen Buche, und die werden vom Vormann Caterpillar beladen, auch das habe ich gelesen, regen Sie sich nicht auf, alles, was ich weiß, weiß ich nur aus Büchern, ich habe persönlich buchstäblich nichts gesehen, deswegen gefällt Ihnen ja so wenig von dem, was ich fabriziere, holen sie sich halt einen andren Handwerker, der macht Ihnen einen Handgriff dran, damit Sie sich anhalten können, bevor Sie das Bewußtsein verlieren, was nur gut für Sie wäre, doch Sie wissen es nicht, Sie wissen nicht, was Sie tun, sehen Sie, aber was ich tue, das glauben Sie zu wissen), der Schichtturm, die Bergstadt, die sich wandeln soll und es nicht kann, die zurückgebaut werden


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muß, und das macht man so: Man schichtet also die Menschen in andre Häuser um und reißt die, die leer geworden sind, ab, so wird die Stadt kleiner, und die Menschen hocken gleich viel freundlicher beisammen, naja, nicht direkt freundlicher, denn daß Menschen näher zusammenrücken müssen, bedingt ja noch nicht, daß sie sich deswegen mögen, eher das Gegenteil ist der Fall, der das Ganze dann abschließen wird; sie werden zusammengefaltet und dann zusammengefaßt, aber das sind sie gewohnt, die Menschen, jetzt können wir uns den Rest meiner wie immer öden Zeilen (Bestätigung dieser Tatsache aus aller Herren Länder, Sie werden mich nie dazu bringen, das zu widerrufen! Das wird nicht in die Werkstatt zurückgerufen!) damit befassen, jaja, schon gut, nein, nicht gut, wie wir, nachdem wir seinen, wessen? der Menschen? Lebensraum beschränkt haben, auch noch seine Handlungsfreiheit beschränken könnten, da fällt mir eine Menge ein, man könnte ihn an seine zu stark aufgedrehte Heizung fesseln und jeden Tag nur drei Stunden rauslassen, dann nützt er die Umgebung nicht so stark ab, man könnte den Menschen auch zwingen, erst mal seine Geschlechterrolle ordentlich (ich sagte nicht: anständig!) auszufüllen, welche immer das ist, inzwischen sind wir klüger und wissen, daß es keine Rolle mehr spielt, welche Rolle das Geschlecht spielt, erst mal die Rolle ausfüllen, die man sich also gewählt hat, bevor man ein ganzes Haus mit sich allein anfüllen darf, und zwar bevor es noch richtig erbaut wurde, also erbaulich ist das nicht, ich kann es mir nicht verkneifen, ich kann mir nichts verkneifen, da ich mir alles versagen muß. O wie ich die Lebenden beneide, so, jetzt ist es raus, dafür das Ganze, ich beneide die Lebenden! O wäre ich wie sie, nie würde ich mich


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beschweren, wenn ich für meine Einkäufe in die umliegenden Städte ausweichen müßte, weil es hier ja nichts gibt, was mir gefällt, ich würde anstandslos, widerspruchsfrei fahren und umstandslos zurückkehren, o wie ich die Lebenden beneide, ach, wäre ich doch eine von ihnen! Ich bin es nicht. Muß ich halt wieder rein in diese Stadt, die mich aus leeren Auslagen wie aus leeren Augenhöhlen anstarrt, und dabei starre ich sie gar nicht an, das tut man einfach nicht, und außerdem müßte ich dazu hinfahren, brrr, nein, das ist für eine Tote nun wirklich unmöglich, die bleibt schön dort, wo man sie abgelegt hat, und das Fleisch wird davon eine Zeit lang besser, dann aber leider wieder entscheidend schlechter. Die Stadt, sie lädt nicht zum Flanieren und Verweilen ein, ich sagte das schon irgendwo, es war nicht schwer, das zu sagen, aber ich würde mich so gern in diese Stadt hineinstürzen, als wäre ich eine Lebendige, ich würde sogar Leute grüßen, die ich gar nicht kenne, das ist hier so üblich, aber natürlich kennt jeder jeden, und man würde mich unverzüglich als Tote oder als Touristin entlarven und dermaßen willkommen heißen, daß mir noch Jahre danach schwindlich wäre von all den Küssen und Liebkosungen, gar nicht so schlecht, mit sowas bin ich ja nicht grade verwöhnt worden. Jetzt hat man demnach etwas Neues, Eigenes mit dieser Stadt vor, in dem ich aber nicht vorkomme und für das ich auch nicht vorgesehen bin (was ich natürlich längst vorhergesehen habe!), ein Experiment, das noch nie gemacht worden ist, nachdem man ihr das Eigene genommen hat, der Stadt, womit gemeint sein könnte, daß sie sich jetzt eben für den Fremdenverkehr umzurüsten versucht (das ist wie wenn man einen Winterreifen aufzieht, bis er


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von selber rennt, wobei man viel Energie und Treibstoff sparen kann, weil die Jahreszeit und das Gesetz es gebieterisch, wenn auch folgenlos, befehlen, daß man daliegt und aus, stimmt nicht, Folgen kann das schon haben), aber die Rüstung paßt leider noch immer nicht, trotz vieler Anproben. Menschen, die sich verkaufen wollen, indem sie andren Moutainbikes oder Paraglider erst mal vermieten, in der Hoffnung, sie werden sie dann kaufen und sofort verschlucken, damit es endlich weg ist, das ganze Zeugs, das sperrige Graffelwerk, das nicht einmal mehr in die Garage reingeht, nachdem sogar das Auto, das dort wohnt, daraus entfernt wurde, das liebe Auto, für das die Garage ja eigentlich erbaut worden ist, solche seltsamen Menschen, die man einfach entfernen kann, gibt es hier noch nicht, denn auch diese Geräte kann man hier nicht mieten, noch nicht, aber bald. Wenn der Fremdenverkehr eingeläutet wurde und die Leute über die Paraglider, Mountainbikes, Rasenrollbretter, andre Bretter für alles andre, egal, herfallen können, weil aus dem fahrbaren Klo Dixi endlich ein ganzes Gasthaus geworden sein wird. Das ist ein Hindernis, sich zu erheben. Hindernisse, sich zu erheben, hat es hier immer schon gegeben für die Arbeiterklasse, wer kennt noch das schöne Wort? Niemand, niemand kennt meine Worte (niemand bringt sie mir wieder, obwohl ich ihre rechtmäßige Besitzerin bin), und andre kennt auch niemand mehr, sie sind, wie ich, einfach zu alt, die Worte, niemand erfährt diesen Berg auf einer so sinnlichen Ebene wie ich, auch wenn er dieselben Eindrücke empfängt wie ich, niemand, wer folgt mir? Niemand, da haben wir jahrhundertelang die Beschreibung der Lebensbedingungen der Lebenden zu verwissenschaftlichen, und jetzt machen


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sie trotzdem immer noch, was sie wollen. Ich erhebe nun ebenfalls meine Stimme für Herrn, Frau Niemand, es wurde höchste Zeit, und klage, daß es im seit längerem für den Langlauf genutzten (berühmteren, na, so berühmt auch wieder nicht, ich habe es nämlich mit einem zufällig namensgleichen, das berühmt ist, verwechselt) touristischen Nebental keine Umkleidemöglichkeiten gibt, wieso, die Ramsau hat doch eh ein Hallenbad, ja schon, aber nicht diese Ramsau und nicht dieses Hallenbad, das es hier nicht gibt, nein, das nützt nichts, denn sogar dort, in der einzig wahren Ramsau, muß man fürs Schwimmen eintreten und Eintritt bezahlen, erst dann kann man den Anblick von Körpern ernten, ich klage also, und nach Ansicht vieler werden die Menschen so gehindert, nach dem gar nicht so gemütlichen Sport (das wäre auch nicht sein Sinn und Zweck!) in einem gemütlichen Gasthof einzukehren. Thermen sind vollkommen überflüssig, und außerdem gibt es zu viele. So, das mußte den Erholungssuchenden einmal gesagt werden, damit sie wissen, wo sie ihre Erholung suchen sollen, und es wurde auch einmal gesagt, wo hätte ich das denn sonst abschreiben können?,  wir richten jetzt ein Büro ein, und an dem Büro geht Brigitte, die Geigenlehrerin, genauso vorüber, an keinem, für keinen, wie sie an allem vorübergeht und wie alles an ihr vorübergeht, seit langem schon, von mir aus, sie könnte auch stehenbleiben, halt, ich sehe, sie ist sogar kurz stehengeblieben und hat diesen Zeitschriftenfetzen in ihre Tasche gesteckt, von dem wir noch nicht recht wissen, was wir damit anfangen können, warum das denn, warum hat sie ihn eingesteckt? Weil sie denkt, daß mir später was dazu einfallen wird?, damit sie eine kleine Sache, eine Winzigkeit daran hindert,


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an ihr vorbeizugehen und zwingt, mit ihr mitzugehen?, egal, das Leben würde trotzdem an ihr vorbeischlendern, und zwar schön langsam, damit sie es auch begutachten kann und ihr Neid auf all die derzeitigen Besitzer von Leben, die schon zeitig jeden Augenblick besitzen, die grad eine Boutique eröffnet haben und ihre Taschen, Schuhe und Mündungen, äh, Münder, ihre eingetüteten Münder in die Kamera halten, damit ihr Neid, wie meiner, ins Unermeßliche ansteigen kann, ich würde hier gern eine Neidskala mit einem Hoch auf die Lebenden aufstellen, in dieser nach oben nicht offenen Skala wäre ich schon ziemlich weit nach oben gekraxelt, und Brigitte mir dicht auf den Fersen, denn ihr jeweiliges, nein, ihr kurzweiliges Arbeitsgebiet ist der Geigenunterricht an der Musikschule, und an sowas geht das Leben, auch wenn es am Anfang geschlendert sein mag, plötzlich, jählings, als müßte es sich einen Ruck geben, um nicht selber stillezustehen, ganz besonders schnell vorbei, es rennt geradezu vor Brigitte davon, der Neid ist ein Laster, hat meine Mutter immer gesagt, wenigstens eins hätte ich also, aber kein aufregendes!, und rennen tun auch die andren - das ist ja nicht zum Anhören!, doch sie geht vorbei, ist es endlich soweit? Ja, vielleicht jetzt, es muß endlich etwas geschehn: Brigitte geht vorbei, ein Mensch geht vorbei, er hat grad etwas eingesteckt, er hat grad was einstecken müssen, was er am Boden gefunden hat. Und was Brigitte K. zum Beispiel schon überhaupt nicht repräsentiert, ist diese Stadt auf Tourismusmessen, halt, halt, wir möchten endlich was über die Fotos auf dem Papierfetzen hören und lesen, aus denen könnte was werden, die sind vielleicht schon was!, aber was hören und sehen wir? Gerade dort, auf


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den hl. Tourismusmessen, und nicht hier, wo die Gespenster umgehn, muß man vertreten sein, sonst muß man persönlich erscheinen, da einen keiner vertritt, und es tritt einen dann  womöglich ein andrer, Mächtigerer, nein, nicht der Berg, sonst tritt einen ein Pferd, aber es nützt nichts, einen Reitstall für unsere jugendlichen weiblichen Gäste zu erhalten, es kommen zuwenig von ihnen. Da vertritt Brigitte noch eher die beiden jungen Menschen auf dem dreckbeschmierten Zeitungsfoto als den Tourismus vor Ort. Und, meinetwegen, vertritt sie halt auch dieses Bild der älteren Frau, von dem nur noch ungefähr die Hälfte vorhanden ist.  Hat Brigitte K. den Fetzen aus einem Reinlichkeitsbedürfnis heraus aufgehoben, um ihn zu Hause wegzuwerfen? Damit die Straße nicht verschandelt wird, falls doch einmal Fremde kommen? Es kommen hier nämlich immer zuwenig Gäste, egal ob aufgefordert, auf- oder abgeforstet wird, aber vielleicht kommen ja doch einmal welche und schauen nach, ob die Vegetation auf der nicht mehr genutzten Kulturfläche sich nun hinentwickelt zur ursprünglichen Vegetation von vor tausend Jahren (Kraut-, Strauch- und Pionierwaldphasen), und was ich noch nicht erklärt habe, was aber auch niemanden interessiert, ist, daß sich oberhalb der natürlichen Baumgrenze Zwergsträucher auf alpinem Rasen ausbreiten und aus. Nein. Von diesem Berg kommt nichts mehr her als Wolken und verkrüppelte Männer. Er stirbt mit Öffentlichkeitsrecht an der Öffentlichkeitsarbeit, die die Gemeinde zu leisten versucht, aber, obwohl er immer noch, trotz jahrhundertelangem Abbau, sehr groß ist, der Berg (sind wir schon wieder bei dem, ich fasse es nicht, aber umgehen kann man ihn nicht, hier ist alles dieser Berg, und das ist viel! Andre haben weniger als einen


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Berg, glauben Sie mir oder nicht!), will er nicht öffentlich sein. Er will öffentlich jetzt werden, hereinspaziert, äh, heraufspaziert! Nein, stimmt schon, man kann hinein, der Berg ist hiermit eröffnet. Es gehört sich einfach, daß er immer jemandem gehört, der an ihm verdienen will, nein, nicht die feministische Geschlechtererforschung, die wir nicht verdient haben (das haben Sie wohl von mir erwartet, oder? Geben Sies zu!), sondern dieser Berg ist der allgemeinen Erforschung fremden Geländes gewidmet, was die Frau ja irgendwie auch ist, eben, was bitte hat das mit der älteren Frau mit dem halben Gesicht (die andre Hälfte ist weggerissen) auf dieser Teilzeit-Zeitungsseite zu tun? Er persönlich hat sich nun einmal der Arbeit verschrieben, dieser Berg, und wer reißt das Ruder jetzt herum? Ich muß das tun, aber ich kanns nicht. Dafür brauchen wir die Verbesserung des Sees und die dazugehörigen Boote, das ist zuviel für mich allein, ich brauche für mich nur ein kleines Stück Boot, nicht, daß ich je hineinstiege, ein Boot, eine Republik für ein Boot, damit man drauf fest herumschinakeln kann auf diesem unsicheren Element, vielleicht sollte man sagen, die Arbeit wurde dem Berg auf immer wieder erneuerbarem Rezept (repetitur) verschrieben, weil er sich nur für die Arbeit geeignet hat, aber dieses Rezept wird jetzt eben nicht mehr eingelöst. Wenn, dann nur als Privatrezept, welches persönlich zu bezahlen ist. Hat jemand ein besseres? Eben! Jeder hat seins, also privat, weniger Staat, der mit uns ohnedies nicht zu machen ist. So reißen wir das Steuer herum und steuern wir den Fremdenverkehr an, der aber mindestens eine Ampel braucht, stellen Sie sich vor, daß die Baumflora in den Alpen grundsätzlich ziemlich artenarm ist (40 Stück Arten, keine endemischen


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Arten, die von der Krankenkasse mit begünstigtem Tarif behandelt werden, wenn sie überhaupt behandelt werden, man kann chronisch Kranke ja nicht dafür bestrafen, und deswegen bemühen wir ein neues Gesetz für sie!), und die Artenvielfalt ist bei den Nadelbäumen noch dazu ganz besonders klein (7 Arten alpenweit, das muß man sich einmal vorstellen! Die Natur ist ja noch kaputter und armseliger als die Technik und ihr Erz, ihr Gipskopf, der ist die Form für den Richard Eisenherz, der immer Gitarre lernen möchte, nicht Geige!). Damit die Fremden kommen, muß erst einmal viel bezahlt werden. Ich glaube, man müßte sogar ihnen was bezahlen, damit sie überhaupt herkommen. Damit die Fremden bezahlen, müssen jedenfalls erst mal wir zahlen, und das vor den Fremden, bevor die noch kommen, sonst kommen sie nämlich nicht. Woher nehmen und nicht stehlen? Es nutzt nichts, investiert muß werden, sonst kommt nichts, und das haben wir dann auch davon. Und dann arbeiten wir die Öffentlichkeit auf, dieser Teig muß geknetet werden. Jahrhundertelang sind wir vom Berg geknechtet worden, und es ging uns gut dabei, jetzt können wir diesen Berg nicht länger verkaufen, jedenfalls nicht seine Erträge, die wir doch so lange ertragen haben, und dem wir genauso lang unser Leben verkauft haben. Irgendwie geht sich das jetzt nicht mehr aus, jetzt müssen wir mehr zahlen, damit zahlende Gäste kommen, als der Berg uns eingebracht hat, damit er uns jetzt noch etwas einbringt. Nein, das ist falsch. Das ist die falsche Ansichtskarte, das falsche Foto (dieses hier stellt Mittersill dar, in Salzburg, o Gott, davon fangen wir jetzt aber nicht auch noch an, obwohl wir hier dauernd anfangen und nicht weiterkommen), die falsche Sichtweise und der falsche Ansatz, aus sich


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etwas zu machen, nachdem man so lange aus dem Berg etwas gemacht hat, und der Berg hat wiederum aus den Menschen etwas gemacht: selbstbewußte Persönlichkeiten, die sich auf ihre Arbeit verlassen konnten, die jeden Tag Bekanntschaft mit sich und der Arbeit (die unter Tag: aristokratische Oberschichtarbeit, wann immer die Schicht beginnt, über Tag: oberflächlichere Unterschichtarbeit, wann immer die Schicht beginnt und die Menschen an- oder ausgeknipst werden, also die Schicht unter Tag ist die bedeutendere, wichtigere, über Tag: Unterschichtsymptome, die sind fast so gefährlich wie Unterleibssymptome) gemacht haben, und jetzt? Jetzt scheint es ihnen Mühe zu machen, noch irgendetwas zu verursachen, und wäre es, das Einladende herzustellen, das Menschen anlocken soll, damit Menschenallokation (nicht, wie üblich, die von Arbeit! Das Wesenlose geht ja schneller, und bald kommt es an, es hat mir seine Ankunft schon avisiert, die kann jederzeit erfolgen, denn es hat keine Widerstände zu überwinden, das Wesenlose, nicht wie der Mensch, der sich umziehen und überhaupt umziehen muß) entsteht. Der Berg hat Herrschererziehung geleistet, jetzt muß die Knecht- und Magderziehung einsetzen und ein Konzert veranstalten, das nach etwas klingt. Wir müssen Dienstboten werden, damit sich den Kommenden, den Künftigen, den Touristen keine Träne entringt angesichts der Qualität unserer Qualitätszimmer, die keine sind, aber so tun, als wären sies. Zimmer sind sie schon. Vielleicht sollte ich Mamas ehemalige Wohnung in Krieglach, das ist woanders, aber nicht sehr, für den Fremdenverkehr ausbauen, denkt sich Brigitte, die Geigenlehrerin, die wir schon fast vergessen haben, meine alleinige Schuld, verzeihen Sie, ich muß das Steuer herumreißen, bevor


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es zu spät ist, ich muß, ich muß, ich muß! Sie brauchen nicht aufzuzeigen und zu meckern, und doch: Das dulde ich hier nicht, hier geht keine verloren, solange wir noch alltägliches lebensweltliches Handeln deuten können, denn Menschen tendieren dazu, in ihrer natürlichen Grundeinstellung zu verharren, und das müssen wir ändern. Wir müssen an ihren Wirbeln drehen autsch, Vorsicht, die können doch brechen! Wir beginnen mit Brigitte, mit der wir schon die ganze Zeit begonnen haben, aber nicht weitergekommen sind. Ich spreche von ihr. Nicht, weil ich das Geld brauche, ich bekomme ja auch gar keins, also kann ich leicht Verzicht üben und muß nicht neidisch sein, ich wollte es ja so, aber mit Brigitte wäre ich dann nicht so einsam, ein Wort, das ich meide, aber hier paßt es. Das wäre doch ein Ansatz für den Bogen, damit man selbst einmal ordentlich gestrichen wird, daß es kracht, oder?  Sagt Brigitte sich selbst, denn kein andrer ist da. Sie sagt mir nichts, also muß ich alles erfinden. Entsetzlich. Die einsame Landstraße windet sich jetzt durch hügeliges Gelände und steigt dann gegen die Berge hin an, auf eine unsichtbare gedachte Grenzlinie zwischen Belebtem und Unbelebtem zu, wo bin ich? Der Zeitungsfetzen ist jetzt in der Tasche. Wo ich bin, weiß ich nicht, eben war ich doch noch da! Kein Auto, das diese Anhöhe zu dieser abgeschotteten Siedlung nehmen würde, denn dort wohnt kaum noch einer, obwohl es sich um eine bessere Wohnlage handelt, mit Einfamilienhäusern. Nichts würde den wachsamen Blicken der Bewohner entgehen, gäbe es welche. Doch die Fenster sind verschlagen wie die Menschen. Nur die Blicke nicht oder nicht mehr erwerbstätiger Frauen dringen durch Vorhängeritzen, dahinter kein Licht, damit


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man die allein stehenden Frauen nicht sieht. Spielende Kinder gibt es nicht, sie würden aber wie auf Befehl auseinanderstieben, wenn ein Mensch kommt. Dies hier ist Privatbesitz, aber es ist natürlich überhaupt kein Besitz, der diesen Namen verdienen würde. Besitz fängt woanders an, bei mehr von etwas, aber immerhin, dieses Häuschen gehört Brigitte, und es ist abbezahlt, ihr Exmann hat es geerbt, wie schon gesagt, die Erbschaftssteuer bezahlt und es gröblichst herrichten lassen. Diese Landschaft könnte man als ein Gottesgeschenk betrachten, so schön ist sie, aber sie ist eben kein Geschenk, und wenn, dann nicht von Gott, denn so schön ist sie auch wieder nicht. Wir arbeiten in dieser Frage eng mit den Behörden zusammen, die längst damit begonnen haben, Problemdimensionen aufzuzeigen, was ihre Aufgabe ist, da die Stadt schrumpft, schon geschrumpft ist, etwa auf die Hälfte, gruselig, nicht? Aber nicht gruselig genug, wir müssen uns mehr anstrengen, damit uns graut, denn die Bewohner, die die andre Hälfte bewohnt haben, sind bereits fort. Sie sind von uns gegangen. Das ist irgendwie unheimlich, aber noch nicht genug. Die sozialen Begleiterscheinungen, die normalerweise mit so einem Schrumpfungsprozeß zusammenarbeiten, wie Plünderungen, Devastierungen und Kriminalität sind hier nicht zu beobachten, die Leute haben die Energie dafür gar nicht, es scheint, als warteten sie, daß eine fremde Energie von ihnen Besitz ergreift, denn eigene haben sie nicht mehr. Sie warten. Sie haben sie nicht mehr alle, und sie sind nicht mehr alle. Das ist auch unheimlich, aber noch nicht genug. Und wenn wir schon dabei sind, dann wird natürlich auch der Rückbau von historisch gewachsener Bausubstanz unvermeidlich sein, ja, das machen


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wir jetzt, damit wir es hinter uns haben, das kann vielleicht sogar zu einer ganz neuen und effizienteren Siedlungsstruktur beitragen, es könnten sogar im Zuge der Stadterneuerung neue Standorte geschaffen werden, neue Standards, sowie alte Werte abgeschöpft werden, aber nicht genug, meinetwegen, neue auch, falls man sie hat, und in diesem Sinne kann also auch ein Abbruch zu mehr Zukunftsfähigkeit beitragen, aber nicht genug, und letztlich die Voraussetzungen für einen neuen Aufbruch schaffen, aber nicht genug. Nein, kann er eigentlich überhaupt nicht. Und das ist nicht genug. Aber ich greife mir vor, ins Nichts hinein, das mir genügt, Ihnen aber sicher nicht, bitte, ich kann beweisen, daß dieser Abbruch nicht zu einem neuen Aufbruch führen wird, Herr Diplomingenieur von Montan oder Bodenkultur, denn eine Kultur muß sein. Ich kann das beweisen wie ein Bild, das an der Wand hängt und zeigt, wie der Berg die Leute reich gemacht hat und wieder verarmen hat lassen. Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich an nichts erinnern. Wie soll ich weiterkommen, wie soll ich als Wiedergängerin wiederkommen, wenn ich mich an nichts erinnern kann. Man hat einfach nichts zu schreiben, wenn man nichts hat, was man in sich lesen kann, um es herauszulassen. Ich bin still und stumm, aber ich bin da. Es tut mir leid.

7.4.2007, Fortsetzung folgt


 


Bilder: Hieronymus Bosch (1450-1516): Die Sieben Todsünden, Ausschnitte

 

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