Ein Durchbruch(von, zu Shahin Najafi)Wir, Menschen, die sich für Shahin Najafi eingesetzt haben, auf daß er nicht gefangen, gefoltert und getötet wird, sind gleichzeitig gar nicht imstande zu ermessen, was das heißt, ständig in Todesgefahr zu leben, wo man doch nur schreiben und singen und Gitarre spielen will. Aber natürlich will der Dichter/Sänger viel mehr, aber viel mehr als am Leben zu bleiben gibt es auch wieder nicht. Er will alles, was aber gleichzeitig selbstverständlich sein müßte, das Schreiben, das Denken zu wagen. Für uns ist das nichts oder höchstens ein persönliches Ziel, für andere ist es alles. Sehr interessant finde ich, daß der iranische Dichter Shahin Najafi die Metapher des Jungfernhäutchens (ich hatte mir als kleines Kind, nach einem etwas akademischen Aufklärungsunterricht meiner Mutter, sehr lange seltsame Dinge darunter vorgestellt, daß man irgendwie zugenäht oder zugewachsen sei oder sowas. Gilt nur für weibliche Menschen, Männer haben das nicht) so oft gebraucht, und zwar sowohl als Metapher ("Wir dachten, niemand könnte unser Jungfernhäutchen, die Leinwand unseres Lebens, zerreißen"), als auch in Bezug auf eine florierende gynäkologische Wiederherstellungs-Industrie in seinem Land. Alle halten in einem bigotten Staat an der Fiktion fest, es könnte in der Geschichte rückwärtsgehen, eine selbstbehauptete Unschuld wiederhergestellt werden, und die Ärzte beweisen ja ständig, quasi im Massenbetrieb, daß das möglich ist. Etwas, das einmal Natur war, kann repariert werden, um eine Art neue Unschuldigkeit, eine neue Natur zu werden, als wäre die alte dadurch ausgelöscht. Etwas, das geschehen ist, ist nie geschehen. Was aber nicht möglich ist, und dagegen rennt der Dichter/Sänger an wie gegen eine Mauer, mit seinem weichen Kissen, das nicht zum Ausruhen da ist, mit seiner Kunst (sonst hat er ja nichts) gegen die Mauer des herrschenden Regimes, ist die Wiederherstellung menschlicher Unversehrtheit, ist es, die Hunderttausenden Gefolterten wieder heil zu machen, die Toten wieder lebendig. Da steht der Künstler am Absturz und fällt selbst hinein. Doch in seiner Bedrohtheit schwingt er sich nicht zu einer Art Herrschaft auf, wie es Künstler im Westen ja oft versuchen, die in allem immer nur sich selber zu begegnen scheinen. Shahin Najafi weiß, daß er immer wieder allen begegnen muß, auch den Ermordeten, um erst er selbst zu werden, was er nur in ihrem Kreis sein kann. So wie die Frauen in seinem Land, die alle Rechte haben, studieren dürfen (inzwischen nicht mehr alles, was sie wollen, jedenfalls nicht alle), und gleichzeitig nichts dürfen, da ihnen der Fetisch eines kleinen Häutchens, ein Bestand, der gehütet werden muß, aber durch Künstliches wie Silicon — nein, das braucht man woanders, hier genügen Nadel und Faden, und der Faden löst sich von selbst wieder auf — jederzeit wieder implantiert werden kann, als wäre nichts gewesen (das ist ja grade das Absurde, ein Hindernis, das keines ist, eine Schranke, die aber jedem freie Fahrt bietet, egal, ob sie unten oder oben ist, die Schranke meine ich, ob sie offen oder geschlossen ist), ihre Wirklichkeit, ihre Existenzberechtigung erst verleihen und wieder und noch einmal verleihen muß, denn was verliehen wurde, muß zurückgegeben werden. Es gibt die Frau nur als Jungfrau oder als Ehefrau, daneben wahlweise auch als Ehefrau auf Zeit, was man immer wieder und auch öfter gerne werden kann. Ein Staat des Verborgenen, ein Gottesstaat, der seinen eigenen Gott gleichzeitig lästert (nicht diejenigen sind die Ketzer, die sanktioniert und bedroht werden, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt wird!), indem er ihn fetischisiert, was ja wieder nur bedeutet, daß er durch alles, jedes Beliebige, jedes Teil ersetzt werden könnte, was ja die Funktion des Fetischs ist. Eine ungeheuerliche Gotteslästerung! Ein Gott, den man so leicht beleidigen kann! Ein Gott, der versteckt ist, dessen Namen man nicht aussprechen, der nicht im Bild dargestellt werden darf, entzieht seinen Gläubigen, gerade weil er so fern ist und nicht gezeigt werden darf, jede Vorstellung für das Heilige und damit jedes Geheimnis. So wie das Geheimnis der Jungfrauschaft keines mehr ist, denn jeder Körper gewährt jederzeit Zutritt, und ein kleiner technischer Trick, ein chirurgisches Wiederherstellungsverfahren, stellt dieses offene Geheimnis beinahe mühelos, jedenfalls ohne großen Aufwand, wieder her. Ein Geheimnis, das immer neu gelöst und immer neu vorgeführt werden kann, ist aber keines. Und sowohl Gott, der immer fern bleibt, als auch die Jungfrau, die immer wieder zurückgesetzt, resettet werden kann, bedeuten Gefahr, die Gefahr, daß sich das Richtige und das Wahre für immer entziehen, von Menschen den Menschen entzogen wird, jedoch gleichzeitig immer wieder neu oder wie neu gemacht werden kann. In diesem Buch Shahin Najafis ist Iran gleichzeitig etwas Sichtbares und Unsichtbares (und der Autor selbst hat das Land ja schon lange nicht mehr sehen dürfen, umgebracht kann er allerdings auch bei uns werden, das geht überall, ist ja nicht viel dabei). Ich verstehe das nicht, daher kann ich auch nicht wirklich darüber schreiben, ich kann es kaum versuchen. Da ist ein Land, das von Menschen bestellt wird wie ein Acker (nicht wie ein Buch oder irgendwas anderes zum Beispiel bei amazon), und auch die Meinung in diesem Land ist bestellt, wird aber von den meisten gar nicht abgeholt. Es scheint irgendwie im Wesen der Menschen zu liegen, daß sie selbst wie Äcker bestellbar werden, indem sie die von ihren Beherrschern bestellte "Meinungsherrichtung" (Heidegger) annehmen, akzeptieren, vielleicht sogar danach gieren, weil sie sonst ja selber denken müßten. Also: Da wird ein lebendes Naturwesen, der Mensch, herausgefordert, sich um sein Gemeinwesen zu kümmern, was bedeuten kann, gegen dieses Gemeinwesen zu arbeiten, dagegen mit allen Mitteln vorzugehen, um es zu verbessern. Er bestellt sein Feld, ein Mensch wie dieser Sänger/Schreiber, und das ist das Gegenteil von Naturhaftigkeit, er tut etwas, er hat etwas aus sich gemacht, und jetzt möchte er aus der Gesellschaft, aus der er kommt und die ihn verstoßen hat (er mußte gehen, sonst hätte man ihm sein Leben weggenommen, und auch hier ist er noch gefährdet), etwas anderes machen, etwas, das ihn und viele andere nicht mehr am Leben bedroht, wenn sie ihrerseits die Gesellschaft bestellen, bearbeiten, fruchtbar machen wie eben diesen Acker. Also, was ist das jetzt mit diesem sagenhaften Jungfernhäutchen, das auch den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann (auf dem Land werden Menschen dort ja noch gesteinigt!), ich hab das immer noch nicht kapiert? Ist es das Durchstoßen, das Durchdringen von etwas, das dann in Leere führt oder in die berühmte "Unverborgenheit" des Philosophen, innerhalb derer sich das Bestellen, nein, nicht übers Netz von einem anderen Server (also es sind zwei Rechner, die eine Bestellung je aufgeben und ausführen, zwei Maschinen, die sich miteinander unterhalten und dabei nichts zu befürchten haben), sondern das Bestellen des Gesellschafts-Feldes abspielt, und das im Hervorreißen und Vorzeigen von etwas besteht, das ein mörderisches, bigottes Regime verborgenhalten will, und der Vorzeiger, Vorsteller, in diesem Fall ein Sänger/Dichter, kann jederzeit von der Dunkelheit verschluckt werden, die sein Tod sein kann, also ein Wieder-Zurücksaugen, aber eins vom Nichts ins Nichts. Oder ist dieses Durchbrechen, dieses Eindringen etwas, das er für sich in Anspruch nimmt, die Wahrheit? Die erschließt sich aber nicht so einfach wie eine Frau mittels dieses simplen Akts durch das Häutchen hindurch, sondern die muß man schon aussprechen, und zwar damit man sich selbst freigibt. Ja, vielleicht ist es das (ich verstehe es immer noch nicht, aber bitte): Dieses Durchstoßen zerreißt die Leinwand des Lebens, nein, umgekehrt, sie ist das Freimachen eines Wegs zu sich selbst. Wenn ein Künstler sich aufgefordert fühlt, der Wahrheit nachzustellen, eben ohne sie einfach nachzustellen, dann ist nicht die Wahrheit, dann ist er selbst herausgefordert. Und das muß auch so sein. Bis sein Gegenstand, seine Wahrheit in diesem hervorbringenden Eindringen, das alles andre als bloße Zudringlichkeit ist, verschwindet und gleichzeitig erscheint. Er tut das als ein Künstler von vielen. Als einer unter vielen. Als einer, der etwas zu bestellen hat, das er selber liefern muß, um dort bleiben zu können, wo er ist, um wieder dorthin zurückzukönnen, wo er im Grunde geblieben ist, auch wenn er fort mußte. Sonst könnte es ihm nicht zugestellt werden, und zwar von ihm selbst. Das von diesem Dichter Bestellte muß auch von ihm selbst zugestellt werden, das weiß er. Sonst tut es ja keiner.
14.4.2013 Ein Durchbruch © 2013 Elfriede Jelinek zur Startseite von www.elfriedejelinek.com |