Fremd bin ich

Irgendwas kommt in meinen Stücken immer beredt zum Ausdruck, aber wer beredet da was und wie? In meiner Winterreise wird  vor dieser Sprechenden hier die Landschaft vorbeigezogen. Eine spricht im Stillstand. Aufgrund einer Angst-Erkrankung bin ich nicht imstande, diesen Preis, über den ich mich sehr freue, persönlich entgegenzunehmen, und leider – das beschreibe ich ja – kann ich auch am Leben kaum je teilnehmen. Es ist also eine Reise im Stehen, nicht einmal im Warten, denn wenn man wartet, kommt ja möglicherweise noch mal was daher. Gehen ist schon zuviel, man könnte sagen, es ist ein Verlorengehen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Der Leiermann steht barfuß auf dem Eis, und irgendwann wird die Wärme seiner Füße ihn durch das von seiner letzten Lebenswärme geschmolzene Eis brechen lassen, ähnlich wie die verlassenen ehemaligen DDR-Grenzhunde, die Marie-Luise Scherer in einer ihrer literarischen Reportagen beschreibt. Keiner kümmert sich mehr um die Tiere, die Grenze, die sie zu bewachen hatten, ist verschwunden, und sie rennen in ihrer Verstörung, so weit ihre Kette reicht, im Kreis, bis die Wärme ihrer Pfoten das Eis an dieser Stelle geschmolzen hat und sie in einem kreisrunden Klumpen aus kalter Gallerte versinken und ertrinken.

Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt, kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine. Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man angekommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen? Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt. Die Winterreise, die ich früher oft begleitet habe – ich glaube, kein Werk der Kunst hat mir je mehr bedeutet – aber was sage ich da?, ich hätte eine Reise begleitet, die schon aus Prinzip immer unbegleitet sein muß?, ich habe sie natürlich bloß auf dem Klavier begleitet, die „Winterreise“ Wilhelm Müller/Franz Schuberts also ist ja ein Werk der Heimatlosigkeit, aus der man nicht aufbricht und in die man nicht zurückkehrt. Der Text eines Deserteurs (der Müller war), den die „Krähen“, diese wunderlichen Tiere, die Spitzel, die den ausspionieren, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt hat, verfolgen, der Text eines Dichters, Wilhelm Müller, der aber wiederum der Träger für die Musik ist, das Gerüst, etwas, das die Musik hält und von der Musik gehalten wird, die ja ein Fortschreiten in der Zeit ist, auch so ein Fortschreiten im Stehenbleiben, der Sänger steht, der Begleiter sitzt, sie rühren sich nicht vom Fleck, das Klavier ist schwer, wenn man es bewegen will, während die Musik es ist, welche die Menschen bewegt, das ist einfacher, die innere Bewegung ist einfacher als die äußere, das muß ich mir zumindest einreden, da es ein Außen für mich ja nur selten gibt, ja, also, was wollte ich gleich noch sagen?, ich hätte es auch gleich sagen können: Dieser Text eines Deserteurs also, der zu seinem Liebchen will, denkt seine eigene Heimatlosigkeit vor sich hin. Er geht, um von der Truppe, zu der er gehört, wegzukommen. Er geht nicht, um irgendwohin zu kommen, er geht, um fortzukommen. Und er ist dabei in sich selbst vergessen. Weil er sich selbst auch vergessen hat? Da steht einer, ja, ich stehe auch da, und die Welt zieht vorbei, das Geschick an einer Ungeschickten, könnte man sagen. Und wenn man sich nicht bewegen kann, muß man sich selbst zu seinem eigenen Schicksal machen, nicht erklären, das wäre ja schon eine Proklamation!, man muß zu seinem Schicksal machen, daß man nicht weg kann, und man muß diesen Augenblick ausdehnen, macht nichts, man hat ja endlos Zeit, denn wo andre gehen, bleibt man stehen, und in der passiven Bewegung, im Nichtstun, arbeitet das Wasser, schmilzt alles unter einem weg. Alles geht, nur man selber nicht. Man wohnt in der Nähe, und diese Nähe ist nur man selber, den es umtreibt wie Wind oder Rauch, ohne daß man sich bewegen könnte. Die Entfremdung des Arbeiters, der Verlust seiner selbst und seine Ersetzung durch die Maschine (plus dem entsetzlichen Elend, welches in der Phase der frühen Industrialisierung damit über so viele gebracht wurde), ist ja nur eine Form der Entfremdung. Die „zeitliche“ Wirkung der Maschinerie sei ewig, schreibt Marx, indem sie beständig neue Produktionsgebiete ergreift und den, der die Maschine bedient, in die Entfremdung hineinwirft, und die erfaßt alles, die Arbeitsbedingungen und die Produkte, die sich über den, der sie ja erschafft, den Arbeiter, erheben wie ein gewitterhaftes Verhängnis, eine Verdüsterung, die nie mehr verschwindet. Das Arbeitsmittel erschlägt den Arbeiter, der dagegen ankämpft, aber es ist ein verlorener Kampf.

Solche welt- und menschheitsgeschichtliche Heimatlosigkeit versuche ich erst gar nicht zu fassen. Ich beschreibe die Reise im Stillstand. Aber es ist alles Stillstand, auch wenn sich die Menschen scheinbar bewegen. Hinter ihnen ragt das Dunkle auf, wie eine Bühnenkulisse, der sie nicht entkommen können. Ich habe versucht, meinen eigenen Stillstand in Worten des Wanderns zu fassen, indem ich mir andere zu Hilfe gerufen habe, zum Beispiel eine junge Frau, die als Kind entführt und in einem winzigen Raum hinter einem schweren Betonpfropf (wie ein Geist in der Flasche) gefangengehalten wurde, und wenn sie herausgelassen wurde, mußte sie arbeiten, arbeiten, arbeiten. Eine extremere Form der Entfremdung fällt mir nicht ein, auch ohne daß man Maschinen dazu bemühen müßte. Ich möchte noch ein Wort dazu sagen, daß der Text so oft als „Collage“ bezeichnet wird. Das ist er nicht. Wie immer verwende ich bloß einzelne Zitate, um dem Stillstand etwas wie Türen einzubauen, Dreh- und Angelpunkte aus einer fremden Sprache, nicht Fremdsprache, an die ich mich dann wieder mit meiner eigenen Sprache andocke (auch dieser Vorgang ist kein dynamischer, weil nichts bei mir dynamisch abläuft, im Gegenteil, das, was an etwas anderes angekoppelt wird, muß vorher auch stillhalten, sonst finde ich Öse und Haken nicht, und wenn ich sie endlich fände, wäre meine Hand zu unruhig, ich brächte sie nie im Leben zusammen, die beiden Teile, die füreinander bestimmt sind; es muß bei mir immer alles stillhalten, sonst fasse ich es buchstäblich nicht, und die Bewegung kommt von etwas und einem anderen). Müllers Gedichte, die Schubert angetrieben haben, sein Werk in Gang zu setzen, als Vorgang das Gegenteil eines automatischen Systems, das die Handarbeit ja vermindern und die Ware verbilligen soll (und die Produktion vermehren, ja, zu Marx' Zeiten hat man die Waren noch gebraucht, jetzt hat man sie einfach), der  jähe Wasserschwall, der die Mühle plötzlich in eine solche Raserei versetzt, daß sie nicht weiß, wie ihr geschieht, so versetzen auch mich die Zitate in diesen Gedichten in etwas, auf einen Platz, der mir nie zugewiesen worden ist, sodaß ich nicht mehr weiß, wo ich bin, also das alles ist Wasser auch auf meiner Mühle; nein, das stimmt überhaupt nicht, ich weiß nicht, was sie sind, diese Zitate, aber ich brauche sie, um im Stehen vorwärtszukommen, wohin auch immer.  Vorletzte Worte. Die letzten benütze ich, um mich für diesen Preis bei der Jury, bei der Stadt Mülheim, bei den Münchner Kammerspielen, ohne die es das Stück nicht gäbe und deren Schauspielerinnen und Schauspieler unter Johan Simons es so wunderbar aufgeführt haben, daß man glaubt, diese Aufführung wäre mein Text, der ist aber nur ein kleiner Teil, der größere ist die Arbeit dieser Menschen, ganz ohne Maschine, also ich benütze halt diese Worte, um mich zu bedanken. Andre habe ich nicht.  Hätte ich vielleicht schon, aber ich finde sie grade nicht.


Dankesworte zur Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises 2011 für 'Winterreise', am 26.6.2011

 


André Jung und Kristof Van Boven in Winterreise

 

28.7.2011


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