Mit dem Kopf durch die Auslage, ohne etwas ausgeben zu müssen

(Vorwort zu einem in Mexico erscheinenden Essayband)

Meine Essays sind eigentlich keine. Sie sind eine Art Schwundform des Essentiellen, einer Leidenschaft. Sie sind eine Vermeidung des Eigenen, das dadurch aber immer stärker durch das Sprachgewebe, das ich fabriziere, hindurchschimmert, aber ich selbst habe leider keinen Schimmer davon. Ich habe nichts davon. Höchstens ein stilles, sportliches Glück. Meine Essays sind Literatur in gepreßter Form, wie Heuballen, über etwas, an dem ich nicht vorbeigehen kann und nicht vorbeikomme. Da ich nicht vorbeikomme, gehe ich gern davon aus, daß ich nicht vorbeigehen kann. Wie jemand, der an einer Auslagenscheibe stehenbleibt, weil er nicht anders kann, als die Gegenstände im Schaufenster zu mustern, genauer in den Augen-Schein zu nehmen, und die Gegenstände strahlen zurück, auch von ihnen geht ein Schein aus, in unsere Augen hinein. Aber manchmal geh ich so nah ran, daß ich mir den Kopf am Unsichtbaren, dem Glas der Scheibe, anhaue. Ich sehe nicht sehr gut, und ich kann auch nicht gut denken. Ich sehe allerdings etwas besser als ich denken kann. Ich sage das jetzt so und wünsche keinen Widerspruch. Ich kann diese Gegenstände, die ich zu meinen eigenen mache, indem ich sie umschreibe (nicht beschreibe und schon gar nicht analysiere und auch nicht umschreiben im Sinn von: ändern! Sondern eher wie ein Meeresbewohner seine Planktonbeute umstrudelt und sich ins Innere hineinwirbelt, um sie sich einzuverleiben), indem ich mich ihnen zögernd und witternd, mit kurzsichtig zusammengekniffenen Augen, nähere, sie, die Gegenstände, eben: umrundend, eine Hüterin dieser Sachen (meine Mutter hat immer gesagt, wenn sie ein Wort nicht wußte: „Sachen“, die meisten sagen: Dings, Dingsbums oder so), ich kann meine Gegenstände nicht direkt fassen. Das ist mein Problem. Ich weiß nicht: Weichen die Dinge vor mir erschrocken zurück, sobald ich nach ihnen greife, oder bin ich es, die zurückzuckt, sobald sie den Atem dieser ins Fadenkreuz genommenen Gegenstände auf der Haut spürt? Meist suche ich sie mir aus, diese Gegenstände, manchmal wirft man sie mir auch hin, damit ich eine Witterung aufnehme und dann einer Spur folge, ein braver Hund. Irgendwann werde ich mich so weit angenähert haben, daß mein Kopf das Unsichtbare, das Trennende zwischen mir und dem Augenschein durchstößt und ich die Scheibe der Wirklichkeit wie einen scharfen (ja, er sticht und schneidet, er ist nicht scharf im Sinn von: schick oder modisch aktuell oder mich selbst, meine Figur, hervorstreichend, meine Figur streiche ich lieber aus, ich will überhaupt nicht vorkommen, aber das geht nicht) Kragen um den Hals hängen habe, während ich mit der blutenden Nase bereits in meinem Gegenstand feststecke.

Weil ich als eine Vereinzelte also die Gegenstände meiner Essays heraussuche und sie in ihrer Frag-Würdigkeit umkreise, möchte ich eben nicht, daß diese Texte in einer Sammlung erscheinen. Das wäre ja, als gehörten sie im Innersten zusammen. Dabei ist mir ihr (und mein) Glück, siehe oben, zwar wichtig, aber zusammenbringen will ich sie deshalb noch lange nicht. Im Deutschen erlaube ich es nicht. Man kann sie in meiner homepage lesen, die Texte, aber nicht in einem Buch zusammengefaßt. Die Willkürlichkeit, mit der mir Dinge zugewiesen sind, soll als Willkürlichkeit bestehen bleiben. Es wäre falsch, sie dieser Willkür der Betrachtung zu entreißen und sie zusammenzufassen zu einem Bündel von Texten. Wenn aber etwas Fremdes als Umgebung hergestellt wird, eine fremde Sprache, ein fremdes Land, in diesem Fall Mexico, dann kann ich so eine Sammlung dieser Texte zulassen. Ich reise nicht (leider, aus psychischen Gründen kann ich es nicht), also sollen diese Essays reisen, nur fort von mir, so schnell wie möglich! In einer Zusammenstellung, die nicht ich zu verantworten habe, denn ich selbst würde nicht einmal in eine solche Ordnung eingreifen wollen, ich ertrage überhaupt keine Art von Ordnung. Sollen doch die Texte sich entfalten, wenn schon meine Flügel geschlossen bleiben müssen. Sollen sie doch gehen, meinetwegen, nein, nicht meinetwegen, sondern für mich. An meiner statt. Ich habe mich gegen das Sein im Fremden entschieden, und eine Entscheidung war es ja nicht, die wurde mir von meinem Körper und meiner Psyche abgenommen, aber die Texte sollen ungeschützt ins Fragwürdige fahren, das heißt, sie sollen befragt werden können, von anderen, die ich nie kennenlernen werde. So steht dann Frage gegen Frage. Meine Frage gegen das Frage anderer. Wäre ich in Mexico, würde ich mich am meisten für die entsetzlichen Frauenmorde von Ciudad Juarez, an der Grenze zu den USA, beschäftigen. Ich beschreibe ja in meiner Literatur fast ausschließlich Kriminalfälle. Jeder meiner Romane ist ein Kriminalroman, manche ganz offen, andre versteckter. Ich sehe diese jungen Frauen als Verschwundene, gequälte, zerfetzte Wesen, sie verfolgen mich, seit ich zum ersten Mal von ihnen gehört habe. Wäre ich in Mexico, würde ich mich mit nichts anderem mehr beschäftigen. Was kann Sprache gegen eine solche Wirklichkeit überhaupt ausrichten? Sie darf nichts ausrichten können. Zum Glück kann sie aber auch nur wenig anrichten im Vergleich zu dem, was Menschen anrichten können. Die Faust ist immer stärker als die Feder, das ist eine so entsetzliche Wahrheit, daß das Schreiben von Essays, egal worüber, lächerlich und überflüssig ist, so wie jedes Schreiben im Grunde lächerlich ist. Es soll verschwinden, vergeudet werden wie die Leben dieser armen jungen Frauen, die offenbar gejagt wurden von gelangweilten sportlichen Männern, denen Tiere zu uninteressant geworden sind. Sie bevorzugen lebende Menschen, immer weibliche. Was für ein Wild jage ich mit meiner lächerlichen Sprache? Zum Glück bloß mit meiner lächerlichen Sprache? Schon daß etwas fragt, wenn es einen Gegenstand kennenlernt, ist eine Art Höflichkeit, die jede Sekunde weiß, daß ein gutgezielter Faustschlag gegen das Kinn diese freundliche Tätigkeit des Umkreisens abrupt beenden könnte, auf der Stelle. Keine Höflichkeiten mehr, vor allem nicht in der Literatur! Dort sind sie nicht angebracht. Dort sind nur Haken angebracht, an denen man sich aufhängen kann. Man muß bei seinen Betrachtungen versuchen, die äußerste Intensität aufzubringen, derer man fähig ist, aber sie ist nichts gegen die Gewalt, und das muß einem immer klar sein. Man kann beim Schreiben das Fragwürdige noch übernehmen, indem man es eben: würdigt. Aber angesichts einer brutalen Wirklichkeit stockt einem die Sprache und der Atem. Meine Essays, ich wünsche, sie sollen verloren sein, vergeudet, nur Punkte in meiner Arbeit, die man anbläst, und dann fliegen sie davon. Wo Leben vergeudet werden, sollten Texte gar nicht erst entstehen, aber wenn sie entstehen, sollen sie sich verlieren, sonst helfe ich nach und verliere sie selbst, indem ich absichtlich nicht auf sie aufpasse. Sie sind ohne Schutz und Hüter. Frauen sind ohnehin die Verlierer, was sie auch tun, und so oft verlieren sie ihr Leben, nach entsetzlichen Schmerzen. Gewaltsam. Ich kann niemanden überzeugen, niemanden von etwas abhalten, an etwas hindern, niemandem etwas beibringen, zum Glück aber auch keine Wunde, eben: gar nichts. Ich kann niemanden ändern, niemanden wandeln, ich kann nur allein dahinwandeln. In der jederzeit möglichen Zerstörung jedes Subjekts, kann ich nur ein paar armselige Prädikate abliefern, die vortäuschen, es ginge um irgendeine Wahrheit, die ohnedies nur meine ist. Darum geht es vielleicht in diesen Texten: die Inständigkeit und Leidenschaft, mit der man sich aussetzt, damit etwas, mit mir, die ich eine Ausgesetzte bin, auf meiner eigenen einsamen Insel, ausgesetzt bleibt und sich nie geborgen fühlen kann, denn das würde ich ablehnen, die Geborgenheit. Und den Tod lehne ich auch ab. Das haben schon viele vor mir getan, ich weiß, aber ich möchte das noch einmal festgehalten haben, im Wissen, daß es mir jemand früher oder später aus der Hand reißen wird. Aber die Texte, die stehen da, was nicht heißt, daß sie bleiben werden. Sie sollen nicht bleiben. Sie sollen verschwinden, das möchte ich. Sie sollen das Sein dermaßen überschatten, bis man nicht mehr merkt, daß es darunter längst verschwunden ist. Das ist nicht dieKlarheit der täuschenden Scheibe, die vorspiegelt, sie wäre gar nicht da, bis man mit dem Kopf dagegen knallt. Auch nicht die Klarheit der Wahrheit (lächerlich!). Es ist vielleicht einfach nur der Wunsch, etwas zu benennen, auch wenn dieser Name dann vom Gegenstand entschieden abgelehnt wird.

27.8.2006 / 9.7.2014


Mit dem Kopf durch die Auslage, ohne etwas ausgeben zu müssen © 2014 Elfriede Jelinek

 

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