Zum Beispiel Rudolf Melichar

Von welchem Schauspieler lassen wir es uns gefallen, so befremdliche Sachverhalte, wie zum Beispiel ich sie beschreibe, über eine längere Zeit hinzunehmen? Die meiste Kunst ist ja aus Plastik, leicht, und sie kann überall hin transferiert werden. Dort bleibt sie dann stehen, bis sie abgeholt wird oder nicht. Aber Schauspieler sind Körper, die sich im Raum ab-spielen, abspulen; das Geschehen und das, was sie verkörpern sollen, verbirgt sich zuerst noch hinter ihren Rücken, und dann, schon im nächsten Moment kommt es hervor, gibt dem Raum seinen Namen, und jetzt, genau in dem Augenblick, da sie sich von sich selber losreißen müssen, sollen sie uns Dramatikern, als Körper (denn außer ihren Körpern haben sie nur ein paar Requisiten, sonst nichts), Orte verkörpern, die sogar: sprechen können. Also das muß ich sagen: was Rudolf Melichar ganz besonders kann ist: sprechen. Das können wir alle, und auch wir stehen in Räumen herum, wir verkörpern aber immer nur uns selbst. Unser Problem, die wir nicht Rudolf Melichar sind, der, glaube ich, durch sein Sprechen ganz besonders Räume erschaffen kann, ist, daß wir uns versammeln können wo wir wollen, vielleicht auch zu wohnen glauben (aber natürlich werden wir immer um elf hinausgeschmissen). Aber daß wir dort weilen, gestattet uns noch lang nicht, andere kommen zu lassen, die uns dabei zuschauen. Wir können diese anderen auch gar nicht versammelt halten, außer wir liegen unter einem Auto oder sind von einem Dach gefallen. Vielen Schauspielern, nein, vielleicht sogar allen gelingt, zumindest für eine begrenzte Zeit, daß sie Leute um sich scharen, die Eintrittskarten gekauft haben und daher dableiben, weil sie das so vorhatten.

Rudolf Melichar (Elch) und Heinz Schubert (Bär) in RASTSTÄTTE ODER SIE MACHENS ALLE, Inszenierung Claus Peymann

Dem Sprech-Schauspieler, wie ich jemanden wie Rudolf Melichar nennen möchte, weil er ja etwas in erster Linie durch sein Sprechen schafft, auch wenn er in einem Plüschfell steckt und man ihn doppelt so groß wie sonst, aber eigentlich: gar nicht sieht, gelingt es, nur indem er eben da ist und spricht, den Raum sich anzuvertrauen, nein, nicht sich dem Raum anzuvertrauen, sondern umgekehrt. Der Raum vertraut also diesem Schauspieler, er vertraut sich ihm an, und Rudolf Melichar spricht, wie soll ich sagen, als ob er, was er sprechen soll, nicht von mir, der Autorin, gehört hätte, sondern vom Raum selbst, den er durch sein Sprechen gemacht hat. Ich glaube, das liegt daran, daß er sich nicht wichtig ist, sondern alles, was er hat und ist, in diesen Raum hineinschleudert, um etwas anderes zu werden als er ist. Ist es die Dankbarkeit des Raumes ihm gegenüber, daß er dafür so zutraulich zu diesem Schauspieler ist und ihn niemals allein läßt, nicht einmal wenn der Schauspieler im Finstern, hundert Meter weit entfernt und in seltsame Kleider gehüllt, buchstäblich nur mehr Stimme ist und sonst nichts? Weil ihm auch in diesem Zustand nicht die Worte fehlen, denn es sind meine, ich habe sie ihm anvertraut, und das nimmt er sehr ernst? Daß er, in garnichts gehüllt, an der Rampe sitzt und aufs Korn genommen wird, ein Punkt nur auf der Bühne, aber so unerschrocken, weil er, indem er sich ins Regal dieser Bühne eingeräumt hat, diese Bühne als Regalfach nur für sich und mit sich selbst erkauft hat, indem er alles von sich gegeben hat, aber vor allem ein Alles, das nichts Greifbares ist, sondern eben Stimme? Diese Stimme allein hat die Bühne gemacht, nicht die Bühne der Stimme ein Podest gegeben (bei manchen Schauspielern hat man unwillkürlich das Gefühl, daß es so ist, bei Melichar aber nicht), und sie hat bewirkt, daß ich in ihr zu Hause bin, in dieser Stimme (obwohl ich ganz wo anders wohne, Gottseidank, es wäre unbequem, in einer Stimme zu wohnen, ich könnte den Fernsehton nicht mehr empfangen), aber ich habe mich dort gern versammelt, um einen Körper durch Sprechen sich ausdehnen zu sehen. Ich habe mich noch gewundert, daß dieser Körper so groß geworden ist, nachdem er in der Kantine vorhin noch so klein gewesen ist, dieser Körper, der doch auch in der Kantine bereits gesprochen hat; er hat also eine Ausdehnung erhalten, ohne daß ihn jemand gedehnt hätte. Ohne ihn, ohne daß er den Bühnenraum geschaffen hat, hätten wir nicht gewußt, wo innen und wo außen ist. Jetzt weiß ich, daß ich draußen bin, weil Rudolf Melichar drinnen ist. Aber manchmal habe ich selbst dieses Drinnen für ihn vorgeschrieben, damit er mir dann meinen Platz, natürlich leider draußen, zuweisen konnte. Jedem das Seine. Von dort draußen habe ich Einblicke, das genügt mir schon. Es genügt mir, daß Herr Rudolf Melichar ein paar Mal etwas von mir verkörpert hat. So einfach ist das.

 


Zum Beispiel Rudolf Melichar © 1999 Elfriede Jelinek

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com