Im Lauf des Sprechens

(für Ulrich Matthes)

Ich sehe und höre im Wiener Akademietheater Ulrich Matthes Kleists Briefe lesen. Ich sehe sein Gesicht und halte aus irgendeinem Grund für richtig, was dieser Schauspieler spricht. Es ist in jedem Augenblick: richtig. Es ist seltsam, daß das so ist, und ich weiß nicht genau,woher das kommt, denn ich sehe nicht gern Menschen beim Sprechen zu, ich wende normalerweise verlegen den Blick ab, weil das Sprechen für mich ein so intimer Akt ist, daß ich niemandem dabei zuschauen möchte. Ist es die Schönheit dieses Schauspielers, die mich fasziniert? Sicher ja, auch, das Vogelartige dieses Gesichts mit seinen eng und etwas unregelmäßig stehenden Augen, scheint mich aus meiner extremen Menschenscheu vorübergehend zu erlösen, vielleicht weil auch meine Augen ähnlich eng stehen. Matthes ist ein romantischer Held, wenn es im zeitgenössischen Theater je einen gegeben hat, aber er muß Held nicht sein, vielleicht sage ich ja Held, weil er in gewisser Weise so unberührbar erscheint? Helden sollte man nicht anfassen und angreifen schon gar nicht. Sie weichen zurück und verschwinden, oder sie zerstören einen. Mein Blick gleitet also von ihm ab, ich höre auf seine Stimme, die sich jeder möglichen Stimm–Industrie entzieht. Die Stimme spricht, und gleichzeitig entzieht sie sich einer Maschinerie der Verwertung, wie sie sich in unzähligen Hörbüchern manifestiert. Ich habe Ulrich Matthes sogar schon einmal in einer Folge einer folgenlosen Krimireihe (ich glaube „Derrick“) gesehen, auch da war er natürlich besser als alle, aber das ist nicht erwähnenswert. Ich höre ihn jetzt, in diesem Augenblick, sprechen. Ich höre ihn die Kleist-Briefe sprechen. Es ist hoffnungslos, wollte man dieses Sprechen einordnen, denn es ist, wie soll ich es sagen: unregelmäßig, ähnlich dem Augenstand dieses Schauspielers. Er gibt die Sätze und nimmt sie in jedem Augenblick auch wieder weg, denn er, der Schauspieler, schafft es, jeden Satz, wirklich jeden, vollkommen anders zu sprechen als jeden anderen, der sich bereits hinten angestellt hat, um in den Lauf der Zeit hineingeworfen zu werden und darin zu verschwinden. Diese Sätze haben ihr Vorher und Nachher zwar nötig, sonst würden sie ins Bodenlose fallen, aber, indem Ulrich Matthes sie spricht, fallen sie in einem ganz bestimmten Schweben, weil sie sich in der Zeit verloren haben,  torkelnde Blätter, die nie bis zum Boden gelangen. Sie fallen, aber sie fallen nicht, weil sie willentlich verlorengehen wollen oder müssen, im Gegenteil, durch ihr endloses Fallen, das ja keinem Willen unterliegt, sind sie erst recht da, diese Sätze, und da sie sich weigern, sich in ihrem Ablauf in dieser wahn- und aberwitzigen, maßlosen Kleistschen Sprache einordnen zu lassen, verweigern sie den Ablauf der Zeit selbst, die ihr Maß ja aus dem Vergangenen bezieht und auf die Zukünftigen, die heute die Heutigen sind, gestülpt wird. Das Vergangene ist das Maß, das an die Gegenwärtigen angelegt wird. Diese von dem Schauspieler gesprochenen Sätze, die aus der Vergangenheit kommen, verleugnen die Uhr als Zeitmesser, denn sie kennen aus dem Mund von Ulrich Matthes ihre Vergangenheit, weigern sich aber, sich dieser zu unterwerfen. Sie gehen einfach weiter, zeitlos und ungemessen und unangemessen, sie sind unangemessen materiell, obwohl sie keiner Materie angemessen wurden, das heißt: Kleist hat seine Sätze natürlich sehr wohl ihrem Gegenstand, Menschen, Dingen angemessen, aber das Sprechen von Ulrich Matthes reißt die Gegenstände und Menschen aus diesen Sätzen heraus, indem dieser Sprecher, im Sprechen, keine Versicherung erteilt, uns nicht und den Sätzen nicht, daß sie sich je einordnen lassen könnten, jedenfalls nicht in ein Zeitschema. Sprechen ist das Vergehen von Zeit (Film ist das auch, nur sieht man da auch was, aber man kann ja auch diesen Schauspieler sehen, wenn er spricht! Das ändert aber nichts), und was die Briefe Kleists betrifft, so ist die Sprache selbst ja schon maßlos und eben wahnwitzig, auch wenn er vom absoluten Stillstand, dem seiner Tante z. B., die jeden Wechsel scheut (wie erkenne ich mich in ihr wieder!), schreibt. Aber der Schauspieler Ulrich Matthes schafft es, dieser Maßlosigkeit Kleists noch eine weitere Dimension hinzuzufügen, und dabei ist Maßlosigkeit ja bereits ohne Maß, wie schon der Name sagt, unendlich und durch einen Mangel (und wäre es ein Mangel an nichts) beschränkt zugleich, indem dieser Schauspieler nämlich der Kleistschen Sprache die Dimension von Zeit selbst entzieht. Er gibt sozusagen Zeit des Sprechens, und gleichzeitig nimmt er, indem er etwas spricht, als hätte nie einer vorher so etwas gesprochen (und es war ja nur Kleist selbst, der vorher so etwas geschrieben hat), die Zeit wieder zurück und hebt sie auf, im jeweiligen Wort, und keins dieser Worte klingt wie ein anderes. Daher bringt er das unwiderbringlich Vergangene des von Kleist Beschriebenen wieder in die Gegenwart, die aber ihre Vergangenheit nicht mehr sehen kann – das Sprechen Kleists aus dem Mund von Ulrich Matthes ist ja in jedem Augenblick vollkommen neu und wie nie zuvor gesprochen – , so wie man im Alltag eben nicht jeden Moment all das sieht, was man bereits hinter sich hat (obwohl einem vieles davon beinahe ständig bewußt sein mag), der Engel der Geschichte wendet sich um, doch bei Matthes ist er ein Engel des Sprechens, und er vertröstet uns nicht auf ein Später, das noch kommt, nicht weil es ein Früher gegeben hat, sondern, im Gegenteil, weil es dieses Früher ja auch nicht gibt, denn alles ist in jedem Augenblick wie nie gewesen, aber derjenige, der da spricht, gibt uns auch nicht den Trost, daß trotzdem Zeit vergeht und vergangen ist, bis zurück zum Dichter, zu Kleist selbst, sondern er beläßt uns in der Untröstlichkeit darüber, daß das Vorbei eben vorbei ist, und gleichzeitig hebt er, indem er das Vorbei wieder ins Sprechen (das ja seinerseits eben: Vergehen von Zeit ist, ein komplizierter Vorgang, den ich nur sehr unzulänglich beschreiben kann, ich kann ja nichts zulänglich beschreiben, aber das ganz besonders nicht, denn es sind ja mehrere Variable variabel ineinander befestigt, wie bei einem Mobile der Zeit) zurückträgt, zurückzwingt, der Engel des Sprechens, der in diesem Fall Ulrich Matthes heißt, hebt also den Lauf der Zeit für kurze Zeit – wie paradox! –  auf, solange er eben spricht. Danach ist es vorbei, und die Zeit rinnt wieder in ihr vorgesehenes Bett zurück, das so viele Menschen ihr, als Grube, gegraben haben, in die sie dann immer selber hineinfallen, denn sie haben ja nicht gelernt, die Zeit aufzuheben, vielleicht weil sie es nicht der Mühe wert hielten.

Ulrich Matthes

 

Anläßlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises 2007 an Ulrich Matthes
Erschienen am 6.5.2007 in Der Tagesspiegel (Berlin)

3.6.2007

Bild: www.imdb.com


Im Lauf des Sprechens © 2007 Elfriede Jelinek

 

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