|   Sturm im Hemd  (zu Mario Rotter) Mario Rotter denkt nach beim Schreiben, es könnte
      ja die Menschen interessieren, was er da denkt. Manches hat einen Sinn,
      manches nicht. Wie er es sagt, was richtig und was falsch ist, ist beidesmal
      gleich, obwohl er es doch gern auseinanderhalten würde. So geht er
      durch die Welt. Aber anstatt daß sich die Menschen für das Leben
      und die Welt interessieren, sollen sich Leben und Welt für die Menschen
      interessieren. Mario Rotter arbeitet daran, daß sie das tun, er überdenkt
      seine Behauptungen und stellt andere auf, nimmt sie wieder vom Spielfeld,
      da ist eine Frage aufgetaucht, o je, nein, diese Frage müßte
      eigentlich männlich sein, nehmen wir jetzt an, sie wäre es. Es
      ist da also eine Frage zu überlegen, machen wir sie zu unsrem Mittelstürmer
      und los. Mario Rotter ist jetzt der Name eines Verstorbenen. Im Leben hat
      er viel zu tun gehabt mit seinen ganzen Fragen, zu denen er aber letzten
      Endes, aufgrund seines Endes, nicht mehr gekommen ist. Dafür sind die
      Fragen eine relativ kurze Zeit zu ihm gekommen. Vielleicht haben sie ihn
      zurückgewiesen und damit seinen Willen zum Denken gefährdet, gelähmt,
      und dann ihn selbst, den Autor, bis zu einem letzten Entschluß, den
      er aber nicht mehr aufgeschrieben hat. Die Sätze gehen jetzt weiter
      als er gehen konnte, und doch sind sie von ihm. Sie werden eingefangen,
      wie er so oft von der Psychiatrie eingefangen wurde. Er ist jetzt endgültig
      flüchtig, seine Gedanken sinds auch, und doch ist da ein Muster, das
      einer Zerstörung. Der Autor sollte einmal in seinem Leben frischen
      Wind, und zwar in eine Hemdenfirma, bringen, in die seines Vaters. Gut,
      er macht das also, und da erhebt sich gleich ein entsetzlicher Sturm, ein
      Orkan, Menschen werden, als Marionetten machtgieriger Familienangehöriger,
      durch die Luft geschleudert, Textbrocken müssen, unwillkürlich,
      ausgekotzt werden und liegen, jö, schau!, eigentlich ganz lieb da,
      man würde nicht glauben, wenn man sie so sieht, daß sie vorher
      in einem Menschen drinnen gewesen sind. Doch, es ist so. Der Autor hat das
      Gefühl gehabt, das alles diene dazu, ihn zu vernichten, und bittesehr,
      dem kommt er schon selbst zuvor, er kreuzt sozusagen hinter dem Wind, den
      er, nicht in einem Hemd, aber in vielen Worten erzeugt hat, nützt ihn
      aus für seine Zwecke; der Autor ist offenbar der einzige, der den Wind,
      der von ihm gesät wurde, überhaupt bemerkt, die andren könnens
      nicht, kraft ihrer Dummheit und Charakterlosigkeit. Oops, jetzt ist sie
      aber kräftig da, die Wirklichkeit, und fährt unter diese Sätze,
      daß sie niemals mehr eingebracht werden können, als Ernte, nein,
      die sind jetzt hin, sondern eben nur da herumliegen, als etwas, das in einem
      anderen Menschen gewesen ist und jetzt uns gegeben, damit wir uns gefälligst
      selber damit zerstören sollen. Der Autor hat das für sich bereits
      erledigt, ob bewußt oder nicht. Wir sind auch schon ganz erledigt,
      nur wissen wir es noch nicht. Mario Rotter sagt etwas. Es wird ihm geantwortet,
      er könne die Funktion des Betriebs, egal welchen Betriebs, nicht jeder
      hat eine Hemdenfabrik, nicht verstehen. Natürlich. Niemand erklärt
      sie ihm, diese Funktion. So heißt es etwas, was er sagt, ja, das heißt
      was, nur was? Aber hier steht es doch, was es heißt! Können Sie
      denn nicht lesen? Vielleicht hat es nur der Autor nicht gewußt, Sie
      haben die Chance, es zu erfahren, immerhin. Hätte er es gewußt,
      hätte es etwas geheißen, was er gesagt hat. Sehen Sie, und genau
      deswegen ist es ein Geheimnis, das auch ich nicht lüften kann, denn
      es wäre keine Luft, sondern eben: ein Sturm. Er reißt mich mit,
      aber ich weiß nicht recht, woher der jetzt gekommen ist. Geschrieben
        1995 In
        memoriam Mario
        Rotter, geb. 1959 in Wien, Studium der Philosophie, 1991 Promotion
        mit einer Arbeit über Descartes’ Frühwerk. Zahlreiche,
        unregelmäßige Beiträge für Kultur- und Literaturzeitschriften
        seit Beginn der 1980er Jahre. Zahlreiche literarische und multimediale
        Performances, Aktionen, Manifeste, Audio- und Videotapes sowie computerunterstützte
        Kompositionen. Außerdem Arbeiten im Bereich der Bildenden Kunst.
        Erste Buchpublikation 1995: „Inland – Endlager“, Ritter Verlag.
        Posthum erschienen: „Aus
        der Fischwelt“ (Tagebuchroman-Fragment und frühe Prosa, 1984
        – 1989), Ritter Verlag  Silberfische
        und Urinsekten, Ritter Verlag 1995
        Selbstmord in Wien. 
   9.8.2009   Sturm im Hemd © 2009 Elfriede Jelinek
 
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