Alleinsein

Für Jutta Limbach

Wer nicht sauber und ordentlich lebt, kann völlig verkommen, wird dem Mann von seiner Mutter gesagt. Wer ordentlich ist und trotzdem lebt, dem geht es auch nicht sehr gut, denke ich mir. Zur Ordentlichkeit wird die Frau angehalten, und der Mann, der kommt als Räuber und schmeißt alles überall herum. Die Frau macht die Hausarbeit und versucht, den Sohn dazu anzuhalten. Oder die Schwiegertochter soll es dann machen.

Alleinsein ist meist die Voraussetzung fürs Denken, aber die Frau ist selten allein. Der Schmutz, die Unordnung sind bei ihr, damit sie entfernt werden. Eine Frau kommt selten allein, wie das Unglück, sie kommt oft mit ihren Freundinnen oder sie kommt mit einem Mann, und sie ist  überhaupt selten allein. Es soll niemand allein sein, wird gesagt. Außer er denkt nach. Aber die Frau: Allein daß sie denken darf, muß sie sich noch erkämpfen, wie auch den Raum, in dem das Denken stattfinden soll. Schon Virginia Woolf hat darüber schreiben müssen. Das Alleinsein ist harte Arbeit, aber dennoch erstrebenswert. Auf dem Boden bleibt eine Lacke Erinnerung zurück, eine Pfütze, aus einer sorglosen Jugendzeit. Da war das Mädchen auch mit anderen zusammen, aber dabei auch, mit den anderen, allein, ganz wie gewünscht. Damals hatte sie noch keinen Zweck, sie war noch nicht auf etwas hin ausgerichtet, ein Zeiger auf einem Kompaß, der immer in dieselbe Richtung zeigt, nach Norden. Wer will schon allein sein? Wer darf schon allein sein, ohne daß er seinen vorgesehenen Rahmen sprengt?

Man erkennt da plötzlich einen Mann und weiß nicht, daß er der eigene Sohn ist, der damals Vati erschlagen hat, und man heiratet ihn womöglich, Vati ist ja nun tot, und es bleibt der Sohn, was er ist und was schon der Vater war, alles in einem, Sohn und Vater, also Mann, ein Leben lang. In einer Kette von Verfluchungen und Kriegen stürzen die ineinander verkrallten Körper auf die Welt herunter, und einer, immer der falsche, stürzt in das Bett von Mami, wo er bleibt, aber nur, um jederzeit mit der Meute mitzurennen. Vatermord und die Mutter zu heiraten, das geschieht alles nur, damit man anderen die Schuld geben kann, und auch derzeit wieder ist ja die politische Aufschaukelung von Terror und Pazifizierung, Krieg nennen es andere, ist diese Aufschaukelung also eine Art Aufladen der Gegenwart mit Männlichkeit, die die Weiblichkeit verdrängt, aber die war je schon verdrängt, in denselben Ländern, die den Terror bei sich beherbergen und nähren. Einer fängt immer an. Wer fängt an. Der Vater hebt an der Wegkreuzung als erster die Hand gegen den Sohn, den er verjagt, verstoßen hat, er erkennt ihn nicht und muß selbst dran glauben. Die an etwas glauben, erheben alle wie auf Kommando die Hände gegeneinander, ein Kommando, das ihnen angeblich Gott gibt, das sie sich aber selber geben. Kein Weibliches hindert sie, die Frauen sind ja Kriegerwitwen oder tot, und ihre Kinder werden schon gegen sie gerichtet erzogen (das ist leicht, denn sie kennen Frauen nicht, so wie Oedipus seine Mutter nicht kennt, aber immerhin erkennt, daß sie eine Frau ist. Daher muß die Frau total total total verhüllt werden, damit man nichts an ihr mehr erkennt und auch sie im ganzen nicht, damit man nicht weiß, wer sie ist. Da ist sie am besten gar nichts), die Hände werden also erhoben, die Fäuste geschüttelt, es können gar nicht genug sein, und es werden ihnen noch mehr Fäuste zurückgeschüttelt, alle mit Waffen, die einen wie die anderen. Dann wird die Mama geheiratet, die Witwe des Vaters.

Dem individuellen Verbrechen der Verstoßung der Söhne, des Vatermords und der Mutterschändung stehen ganze Verbrechensteppiche gegenüber, denn die Menschen haben aus den Verbrechen der Einzelnen offenkundig nichts gelernt. Da ist Jesus gestorben, und was haben wir daraus gelernt? Nur wenig. Also wird zu kollektiveren Bestrafungstechniken gegriffen, um denen, die das Unheil ereilt, ein Gemeinschaftserlebnis zu verschaffen, das der kollektiven Bedrohung durch einen Feind, den man nicht sieht, entspricht. Wer Gott nicht hören will, muß fühlen. Wer den einen, einzig richtigen Gott nicht hören will, muß noch mehr fühlen. Dem gebührt der Tod. Es werden Felder ausgelegt, Teppiche aus Bakterien (und Seuchenteppiche dagegen), die Pest kommt ins Haus, das früher Theben genannt wurde, Bakterien kommen, die Angst vor Bakterien kommt auch noch mit, und der einzelne Kranke verschwindet in einer Vielzahl von Kranken (oder solchen, die die Krankheit bloß befürchten), die durch Ansteckung vereint sind. Auch ein Volksganzes, auch ein kollektives Erlebnis. Es entsteht eine Art von Gemeinschaft, denn im Unglück ist keiner gern allein, ein Kollektiv der Krankheit, wie man es seit den großen Seuchen nicht mehr gekannt hat. Eine große Zahl von Menschen ist angesteckt oder könnte bereits angesteckt sein. In der allgemeinen Furcht ist das Erkennen der Krankheit nicht mehr das Problem, denn zutode gefürchtet ist auch gestorben. Es tritt nicht mehr ein einzelner Vatermörder und Mutterschänder auf, die Gewalt des einzelnen gilt nichts mehr, es treten Mikrobenschwärme an, zahllose Mikroorganismen, um Menschen in großer Zahl krank zu machen und zu töten. Der Massenvernichtung tritt die Massenbestrafung gegenüber, aber Bestrafung wofür? Und ist diese Massenbestrafung etwa die Folge einer einzelnen Missetat, die kollektiv verdrängt oder vergessen wurde, zum Beispiel der Hybris des Westens, wie man uns glauben machen will? Nein. Besser es ist die Tat eines einzelnen Menschen, der, gestärkt durchs Fernsehen, größer ist als andre und für alles, aber auch alles verantwortlich ist. Das macht ihn übermenschlich groß, groß wie Ödipus, dessen Leid so groß ist, daß keiner außer ihm es tragen kann. Dieser Eine ist jeden Tag im Fernsehen, fanatische Massen jubeln ihm zu, na, für eine Frau wär das nichts. Da müßte sie schon eine schöne Filmschauspielerin oder eine Sängerin sein.

Muß da eine Schuld verdrängt werden? Und wer steht bereit, wenn Schuld privatisiert werden soll? Die Frau. Der Attentäter Atta will nicht, daß Frauen bei seinem Begräbnis anwesend sein sollen, und auch sonst sollen sie ihm fernbleiben, aber es ist ohnedies nichts von ihm übrig geblieben. Die Frau steht fürs Private, für das sie zuständig ist, mit ihrer Arbeit und auch sonst. Was für eine Schuld könnte sie begangen haben, daß ihr eigener Sohn den Vater erschlagen und sie selbst geschändet hat? Irgendwie muß sie selber dran schuld sein und wird daher verhüllt. So kann sie auch besser verdrängt werden. Besser man vergißt sie. Wenn man sie nicht sieht, kann man sie leichter vergessen und damit ausschließen. Sie gebärt ja auch dauernd andre Menschen, die dann leider für Krankheiten anfällig sind. Sie kann den Übermenschen nicht gebären, der immun gegen Alles wäre. Und dieser Ausschluß der Frau mündet in eine neue Art totalen Kriegs, glaube ich, oder in die totale Krankheit, was dasselbe ist, die Krankheit, welche die Frau eingeschleppt hat, indem sie Menschen in die Welt gesetzt hat, die krank werden können. Und nicht einmal mehr die Krankheiten werden neuerdings von Mensch zu Mensch übertragen, die werden jetzt in Briefumschlägen verschickt, als hochansteckendes Pulver, und die letzte Folge ist dann naturgemäß, daß auch Menschen nicht mehr von Mensch zu Mensch übertragen und von Frauen ausgetragen werden, sondern von Maschinen.

Daß es die Einen gegen die Anderen gibt, und daß die Schuld entweder bei den Einen oder den Anderen liegt, diese Zuweisungen vom einen zum anderen, ohne daß man die Kontonummer weiß (und oft ohne daß man überhaupt ein Konto hat), das führt doch auch dazu, daß einer durch Blindheit gestraft wird und dafür dann die ganze Gemeinschaft diese ursprünglich private Lesart einer Familiengeschichte übernehmen muß, damit man selbst, damit die Gemeinschaft nichts Schweres mehr zu tragen hat: Burli hat also den eigenen Vati erschlagen und dann die Mutti geheiratet, habt ihr das schon gehört. Unerhört. Und es fehlen die Frauen, die es weitererzählen könnten, auch dies wäre ihre Aufgabe. Oder daß das Geheimnis der langen Haare (und Bärte?) von einer Geliebten enthüllt wird, das Haar wird daraufhin geschoren, der Mann verliert seine Kraft und wird augenausgestochen, die Blendung als verhängte Strafe oder als Selbstbestrafung, weil man eine Frau, die Frau an sich, angeschaut hat, und daher absolut gar nichts mehr sehen darf, da man dieses Tabu gebrochen hat, na, helfen wir ihm dabei und verpacken wir die Frauen so, daß man sie nicht sehen könnte, nicht einmal, wenn man wollte, und man will immer; so driften sie dahin, die Protagonisten von Gewalt, die, scheinbar ungeboren und ungezeugt (und daher für ewig auf Geburt und Zeugung fixiert) als die Waffe schlechthin durch die Länder gleiten, die Schläfer, die vom Paradies träumen. Und sie umschiffen auf ihrem Weg alle, vor allem aber umschiffen sie sorgfältig die blinden Seher, welche immer schon ein paar Tage zuvor gewußt haben, was für ein Fluch es ist, überhaupt etwas zu wissen, denn Wissen ist Tun, und daher wäre es besser, das Wissen zu vergessen oder gar nicht erst zu wissen oder gar nicht erst zu kommen, um zu sagen was man weiß, egal, diese einsamen, von den Frauen ausgestoßenen (im wahrsten Sinn des Wortes!) und von sich selbst geblendeten Menschenwaffen also, betrunken von sich selbst, die stecken jetzt ihre Claims im Nichts ab, ihre Ansprüche auf nichts, nein, auf das Nichts, denn es muß ja immer das Absolute sein, und Alles können sie nicht haben, und sie wollen immer nur tun, nicht wissen. Und so gehen sie aufeinander los, diese Männer, nicht aufeinander zu, und sie sagen die Wahrheit, ohne sie zu kennen und ohne sie sagen zu wollen, und es ist immer die eigene Wahrheit, in der sie die des anderen nicht sehen wollen, sie sind ja alle geblendet (worden). Und die Frau? Die hat natürlich vergessen, ihren Samson zum Friseur zu schicken, und so wachsen seine Haare beim Drehen der Mühlenräder, am Brunnen vor dem Tore, wieder, und so stürzt er die Mauern, und die stürzen über ihm und den Philistern ein. Das ist dann immer das Ende, daß Mauern einstürzen und Menschen begraben, die einen wie die andren. Das ist immer der Anfang, daß noch mehr Mauern einstürzen und noch mehr Menschen begraben werden müssen unter den dumpfen Trommelschlägen von endlosen Auseinandersetzungen. Wer von ihnen singt und spricht, hat auch schon Schuld an ihnen. Und es ist ein alleiniges Sprechen in die Leere hinein, zu solchen, die nicht hören. Wenn man allein ist, kann man jeden beschuldigen, aber man kann ihn wenigstens nicht umbringen, er ist ja nicht da. Das wäre einer der Vorteile des Alleinseins.

 

Beitrag für einen Geschenkband zum Geburtstag von Jutta Limbach

April 2002


Alleinsein © 2002 Elfriede Jelinek

 

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