Im Theater habe ich einmal wirklich das Nichts gesehen,
was nicht heißt, daß ich nichts gesehen hätte, im Gegenteil!
Ich konnte ALLES sehen, was sich unten auf der Bühne abgespielt hat,
aber, schwer zu sagen, die Körper waren dann, später, unten
in die Ebene geworfen wie Gefallene, und ich war sehr hoch über ihnen,
im vollkommen leeren Burgtheater, aber oben im vierten Stock oder so,
da bin ich gesessen, heimlich, damit der Regisseur mich nicht sieht, und
auch andere sollten ihn und was er mit den Menschen dort unten zu machen
versuchte: nicht sehen. Nur er durfte sehen, die Szenen, die er grade
geprobt hat. Aber davor, da war etwas: Ich wurde dort oben in ein Nest
gesetzt, eine Loge, während diejenigen, welche unten arbeiten sollten,
noch Pause gemacht haben, und so war das Theater, bevor die Menschen unten
in die Unendliche Ebene geströmt sind, eine Weile vollkommen leer.
Ich bin also dort oben gesessen, eine alte Krähe in ihrem Plüschnest,
in das keine Jungen mehr hineinkommen werden, weil ich, die Betrachterin
ohne etwas, das sie hätte betrachten können, innen ebenso leer
war wie das ganze riesige Theater-Haus, ohne Gedanken, und so habe ich,
während der riesige leere Raum von allen Seiten auf mich eingeströmt
ist (und sich gleichzeitig vor mir auch wieder zurückgezogen hat!),
unten jeden Moment eine Bewegung erwartet. Und indem ich sie in völliger
Ruhe (die ausgezeichnetste Bewegung von allen!) und vollkommen allein
erwartete, hat es mich andrerseits, um diese wunderbare Ruhe zu beenden,
unwiderstehlich hinuntergezogen, der Leere entgegenzufallen, in einer
unaufhörlichen Bewegung, die in eine andere, ebenfalls unaufhörliche,
Bewegung eindringt, ohne vorher anzuklopfen, welche sich über die
Bühnenebene unten ausbreiten würde wie ein Flächenbrand
und sein Gelöschtwerden zugleich, nur wann?, als würden die
Körper aus Kübeln dorthin ins Feuer geschüttet, und wenn
diese Ebene der Bühne sich unendlich ausdehnen würde, so würden
sich auch die Körper unendlich und immerwährend weiterbewegen,
und ich würde endlich einmal Teil dieser Bewegung sein, die doch
vom Regisseur so genau ausgedacht, berechnet, angeordnet wäre und
dennoch letztlich ohne Ende und Ziel, auf das man schießt, indem
man über es hinausschießt. Aber der Autor ist nie ein Teil,
und er ist auch kein Teil von einem Teil, er kann höchstens: teilen.
Im Grunde sind alle Körper dann, in diesem unendlichen Raum, auf
dieser endlosen Ebene, gleich, und daher kann keine Bewegung vor einer
anderen ausgezeichnet werden, und daher sind alle Bewegungen nur eine
einzige, in die sie zusammenfallen. Denn Natur umfängt sie, wo immer
sie sind. Ich hatte früher gedacht: Jede Bewegung hat ihr eigenes
Gesicht, jedes Vorhandene hat seine eigene Färbung, das Blatt dient
nicht dem Baum, der Baum nicht dem Park, wo er seinen Platz eingenommen
hat, vor vielen Jahren. Es gibt feste Erscheinungen und weiche, wenn man
sie nicht behindert. Der Regisseur läßt das bei den Menschen
ja nicht zu, daß sie sich so eng miteinander befreunden wie die
Bäume im Wald, wo sie freiwillig gewachsen sind. Alles was freiwillig
ist, darf schon einmal nicht sein, das steht fest. Der Himmel schreit
bereits: Ich bin Ihr Freund! Verlassen Sie sich nur auf mich, das Wetter
wird nicht so, wie der Bericht und sein Chorführer es Ihnen ausrichten,
es wird so, wie ich es sage! Die Gedanken lassen sich ordnen und sammeln,
wir aber nicht, wir Bäume. Das sagen die Schauspieler ja auch, aber
es nützt ihnen nichts. Ich sitze also dort oben und warte auf die
unvermeidlichen Eingriffe des Regisseurs ins Leben, um mich danach einigermaßen
wieder zu sammeln, denn ich sehe nicht gern, wie Menschen Befehle erteilt
werden, ich sehe lieber das Frühlingsgrün, dessen Farbe vielleicht
auch gern eine andre wäre und vielleicht nur deshalb ist wie sie
ist, weil sie mir halt so gut gefällt. Wieso verwechsle ich jetzt
das Unangekündigte mit dem Bericht, der noch nicht kommt, aber erwartet
wird? Und sogar mit dem, wovon der Bericht handeln soll? In meine Leere
dort oben kann kein Bericht mehr dringen, und es können keine Gestalten
dort unten irgend etwas tun, das auch nur irgendwie, mit sanftester Hand,
von mir gelenkt wäre. Dabei habe ich doch das Stück selbst geschrieben!
Weiß der Himmel wie, na, er weiß es ja, aber der Bericht sagt
etwas andres aus als der Himmel heute vorhat. Dort unten wird es jeden
Moment anfangen, daß die Leute angeschrien werden, damit sie ihren
Ort in der und der Zeit dort und dorthin verlagern, auf der ihnen unten
vorgezeichneten Bahn, die aber keine ist, sondern eben: eine Unendlichkeit.
Daher gibts, soviel sich der Regisseur auch abrackert, keine präzisen
Standorte unter die Leute zu verteilen, das ist es nämlich! Man kann
ihnen was sie auf der Bühne tun sollen nicht wie Lose zuwerfen, nicht
einmal ein Grundzug kann ihnen zugeteilt werden, nein, der Grundzug fährt
diesmal nicht ab, obwohl er der einzige ist, in dessen Abteilen sich alle
entfalten können, in denen sie ihre Fragen und Antworten finden sollen,
welche ihnen der Regisseur bereits tausendmal vorgesagt hat. Es gibt also
keine Bestimmtheit mehr, nicht für die Schauspieler unten, nicht
für mich dort oben im leeren Raum. Auf mich bezieht sich nichts,
denn ich bin ja gar nicht da! Also können sich die dort unten auch
nicht aufeinander beziehen. Ist deren Bewegung eine Ortsveränderung,
oder besteht sie darin, daß sie wiederum andere bewegen sollen,
die aber zur Zeit gar nicht da sind? Ich selber hoch droben kann mich
so wenig bewegen wie der Dachstein, weil sich ja nichts auf mich beziehen
und ich mich also auch auf nichts, das dort unten gleich kommen mag, beziehen
kann. Da keiner weiß, daß ich hier sitze, bin ich überhaupt
nicht da. Ich bin herausgefallen, aus mir bricht ja nicht einmal ein Ton
hervor! (Na, bevor ich mich einen Ton von mir zu geben traue, beiße
ich mir lieber die Zunge ab!) Also die Leere ist das was die Natur nicht
will. Sie scheut davor, das ist ja bekannt. Und doch bestimmt sich alles
nach der Natur der Körper, der Stein, der fällt, sogar ganz
besonders. Mit ihm hat es angefangen, daß man die Natur berechnen
wollte. Mit meinem Stück hat es angefangen, daß der Regisseur
die Körper berechnen wollte, und jetzt entziehen sie sich schon im
vorhinein, auch wenn sie gleich kommen werden. Sie entziehen sich, werden
später aber trotzdem: länger dableiben müssen. Länger
ab wann? Sie müssen immer nach-sitzen. Müssen Natur sein, Natur
bleiben, aber alles, was der Regisseur mit ihnen vorhat, ist gegen ihre
Natur. Wie gut, daß ich deren Gesetze alle außer Kraft gesetzt
habe!, und zwar indem ich mich unsichtbar gemacht und dann ganz habe verschwinden
lassen. Gerade indem ich dort hineingesetzt worden bin ins leere Haus,
ohne daß es irgend jemand weiß, ist alles, was die dort unten
machen werden, verfallen wie ich, verschwunden, von der Natur aufgefressen,
bevor es überhaupt getan werden konnte. Die Halteseile reißen,
und wir werden gewiß gleich alle miteinander ins Leere stürzen.
Der Grund dafür besteht darin, daß, indem ich fehle, der Ort
der im Theater sich Bewegenden aufgehoben wird, und sie selbst der Ort
werden müssen, ja, sie werden zum Ort, in dem wiederum ich keinen
Platz habe. Aber indem ich diesen Platz nicht habe, nehme ich auch allen,
die hier agieren sollen, den ihren sogleich ab. Geben Sie mir nur Ihren
Platz, ich hänge ihn derweil in die Garderobe! Das schaukelt sich
immer schneller gegenseitig auf, denn eins schlägt dauernd ins andre
um, und die Körper werden, ohne Fernbedienung, von einem Ort zum
anderen übertragen. Ich mache nicht Platz, sondern verschlinge den
ganzen Raum, indem ich unaufhörlich verschwinde (Verschwinden als
äußerste, einzige Selbstbehauptung!). Ich brauche wiederum
keinen Raum mehr (kann ihn also ruhig verschlingen), weil ich ja weg bin
und all diesen Schauspielern, obwohl ich total unwirksam bin, keinen Platz
zum Atmen lasse. Ich war ursprünglich einmal der Weg, den diese Schauspieler
gehen sollten, aber jetzt ist dieser Weg eben weg. Und alles, was der
Regisseur noch wollen könnte, verschwindet in ihren bodenlosen Staubsäcken,
mit denen sie ihren Pfad ins Nichts säubern und damit überhaupt
erst: herstellen sollen. Der Weg hat sich jetzt in das aufgelöst,
was er ursprünglich war, Natur. Sehen Sie, und genau die hab ich
ja außer Kraft gesetzt! Der Weg hat sich und sein zielgerichtetes
Wollen ab-, nein, aufgespult gleich einem Ariadnefaden, der sich zusammengerollt
hat wie ein schlafendes Tier, und wurde eine Art Himmelskörper, der
Kreise beschreibt, also die vollkommene Bewegung schlechthin, während
alles was dort unten sich noch abspielen könnte, sofort, wann?, später,
immer, nur unvollkommen sein kann, gewaltsam, vielleicht gerade, nein
gerade nicht!, sondern: geradeaus (in Wien sagt man: "haltaus",
wenn etwas sofort anhalten soll), was überhaupt die falscheste von
allen Bewegungen wäre.
Fotos: Burgtheater
18.1.2003