Der Lauf-Steg

Mit Hilfe der Technik werden Bühnen und Menschen heraufgehoben, einmal überwiegt die Bühne, dann die Person darauf. Es ist wie eine riesige Waage, bei der sich die Schalen neigen. Das eine zu schwer, das andre zu leicht.  Immer ist etwas in Gefahr herunterzufallen. Auf jeden Fall ist Theater ungewöhnlich, weil es das Gewohnte ungewohnt zeigt. Die Bühne ist ja auch nicht dazu da, daß Leute dort wohnen sollen, als wären sie zu Hause, also ich jedenfalls würde dort nicht wohnen wollen. Dauernd angestarrt werden. Manche mögen das. Ich mag es nicht.  Aber irgendjemand muß dorthin, sonst würde es sich ja auch nicht lohnen, eine Brücke oder zumindest einen schmalen Steg aus Brettern von der Bühne in den Zuschauerraum zu legen. Wenn der Steg nicht da ist, kommt keiner, von keiner Seite her. Tief in unserem Wesen versteckt sich also das Gewohnte, dann springt es plötzlich auf, es hat den Steg zum Ungewöhnlichen entdeckt, vielleicht weil unser Wesen alles, was es nicht kennt, schon für ungewöhnlich hält, und natürlich will es jetzt dorthin. Genau dort will, zumindest für einen Abend, unser Wesen wohnen, um ins Ungewohnte blicken zu können. Ich renne, auch wieder natürlich, ich bin eine notorische Einzelgängerin, sofort in die andre Richtung, und ausgerechnet auf diesem winzigen Not-Behelfssteg stoßen wir zusammen, wir alle, als wären wir hereingetriebene Herden, die flüchten wollen. Nur ich will flüchten. Die andren wollen es mitnichten, die wollen ins Lichten. War das jetzt Applaus? Höflicher Applaus war es. Denn die Leute wollen endlich diese Unwesen da taumeln sehen, sie wollen sehen, wie sie ins Taumeln geraten, die Autoren und ihre Figuren und die, die ihre Figuren darstellen, und das, was ihre Figuren darstellen, und dann noch ihr ganzes Wesen, das sie diesen Figuren mitgegeben haben, obwohl die es gar nicht gewollt und sich dagegen verwahrt haben. Dieses Unwesen also gerät ins Trudeln, in immer schneller werdendes Sich Drehen, bis irgendwas wegspritzt. Ist das Fett? Ist das Textfett, das ich den Figuren mitgegeben habe, damit sie nicht vor aller Augen verhungern? Oder ist es jetzt so, daß die Figuren auf der Bühne da ihr ganzes Wesen von sich spritzen, oder ist es die flüchtende Autorin, die in die falsche Richtung, auf die Bühne, gestürzt ist? Kampf auf der Brücke. Kampf auf der letzten Brücke, nein, zum Glück kommt morgen wieder eine neue, wir haben sie schon bestellt. Morgen soll sie geliefert sein. Also mir werden ja oft diese sogenannten "Textflächen", die ich auf die Bühne stelle, um die Ohren gehauen. Aber wollen Sie wirklich, daß statt eines molligen, weichen, herzigen Textes, der keine feste Form hat, damit er Ihnen nicht wehtun kann, ja, er paßt sich Ihnen nahtlos an, wollen Sie also, daß Ihnen wirkliche Menschen da, schreiend und schwindlig und ineinander verkrallt, entgegentorkeln, weil sie dummerweise versucht haben, sich auf diesem schmalen Steg aneinander festzuklammern, wollen Sie wirklich, daß die alle da ins Bodenlose fallen, nur um dort, irgendwo dort unten, ausgerechnet - also von mir nicht, von jemand anderem ausgerechnet - irgendeinen verborgenen Grund für das alles in sich zu finden und dann, rückprojiziert noch einmal auf sich selbst, eine andre Ausrede für sich selbst zu finden, denn man selbst ist, zumindest für sich selbst, ja immer das, der Kostbarste überhaupt,  ausgerechnet dort unten im Dreck und Staub?  Wollen Sie einen Grund? Wollen Sie, daß andere einen Grund finden und unsanft dort aufprallen, nur damit Sie diese Figuren in sich selbst oder sich selbst in diesen Figuren wiedererkennen können? Naja, vielleicht wollen Sie das, aber von mir kriegen Sie es nicht. Das steht so fest wie dieser Steg nicht fest ist, das merke ich sofort, daß der nicht fest ist, denn ich habe schon öfter dagegen getreten, und er hat sich jedes Mal bewegt, und geschrien hat er auch, glaub ich zumindest. Ich weiß die Wahrheit nicht, die ich sagen will, aber wer auch immer sie weiß, er ist keine Person, er ist keine Figur, er ist unerreichbar für mich, weil er auch keine Form hat, aber ich sage ihm: willkommen, raus mit Ihnen! Es sind eh schon so viele da, Sie tun ja niemandem weh, keine Sorge! Nur heraus, ja, dort ist das Licht! Rein mit Ihnen! Zuerst raus, dann rein. Keinesfalls umgekehrt! Und ich gebe den Texten, na, ich gebe ihnen so Namen halt oder wie soll ich das nennen, was ich mache, und jeder nimmt seinen widerspruchslos und brav an, egal was ich wem zuteile, es widerspricht mir niemand. Sind ja nur Texte. Was glauben Sie, was los wäre, wenn das Menschen wären! Die würden sofort die Augen vor dem, was nicht möglich ist, versperren, und dann vor dem Ungewohnten und dann vor dem Ungewöhnlichen und dann überhaupt, und auf diese Weise werden sie nie einen klaren Blick gewinnen auf das, was darüber hinaus möglich ist. Und ihre Namen wären ihnen auch nicht recht. Sind ja nur Menschen. Sind halt einfach nur beschränkt. Ich spreche nicht Menschen. Ich lasse Verhältnisse entstehen, aber ein Verhältnis möchte ich mit ihnen deshalb noch nicht anfangen. Es kann ruhig seltsam sein, was ich da zeige, wenn es runterfällt, blutet es nicht, und es macht sich nichts, und es macht überhaupt nichts, und es macht auch keinem andren was. Aber sie kriegen diesen Steg von mir, die Lauf-Texte, von denen Sie sich gern was abschneiden können. Hier haben Sie sie, meine Texte und die Planken vom Lauf-Steg auch, und wäre es nur, damit sie über die Eselsbrücke, die ich gebaut habe, in Sie hinein flüchten können, die dummen Texte; und in der Mitte des Stegs entsteht großes Gedränge, niemand weiß mehr, was jetzt der weiche Text ist und wo die harten, schwer zu bohrenden  Bretter anfangen, aber man spürt es doch irgendwie: Der Text ist das Weiche. Er ist gleichzeitig die Weiche, welche alles auch wieder in die Bahn lenkt, damit es möglichst geräuschlos wieder verschwinden kann. Aber davor:  ein Gewirble von Sätzen, Armen und Beinen, und doch werden Sie sich, obwohl Sie mittendrin sind, nicht sonderlich wehtun, wenn Sie an die Grenzen meiner Sätze stoßen. Keine Angst. Soviel, aber nicht mehr  Spielstätte gewähre ich Ihnen und meinen Sätzen, und wäre es nur dafür, daß die sich dort vergessen. Mehr nicht. Also das will ich mir jetzt nicht mehr vorstellen, was passiert, wenn die alle sich jetzt dort vergessen!

 

Rede gehalten am 20.6.2004 in Mülheim/Ruhr, anläßlich des Mülheimer Dramatikerpreises 2004.

21.6.2004

 


Der Lauf-Steg © 2004 Elfriede Jelinek

 

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