Else Lasker-Schüler

Als Schülerin habe ich eine bunte exotische extravagante Gestalt geliebt: Else Lasker-Schüler. Ich wollte solche Gedichte schreiben wie sie, und ich habe sie, als ich noch Gedichte geschrieben habe, sicher oft nachgeahmt. Ich wollte interessant angezogen sein und wunderbare Sachen schreiben. Aber so herumzulaufen wie sie, mit Glöckchen an den Knöcheln, im Gewahrsam einer Prinzentracht, gleichzeitig vor der Öffentlichkeit geschützt und ihr bis zum Parodiertwerden ausgeliefert, das habe ich mich nicht getraut.  Da wollte ich lieber hübsch aussehen.  Dieser Dichterin hat das, wie wunderbar sie auch geschrieben hat, wie verrückt sie auch angezogen war und herumgezogen ist, keine Zugehörigkeit zur deutschen Heimat beschert, sosehr sie auch darum gekämpft hat, anziehend zu sein. Bis zur endgültigen grauenhaften Bescherung nicht, wo nicht mehr geschenkt, sondern nur mehr genommen wurde. Es hat nie einen Anschluß für sie gegeben, wie „gewagt“ für ihre Zeit sie auch aufgetreten ist, wie immer sie über die Gegenwart geschrieben hat und die Vergangenheit. Sie war immer eine Ausgeschlossene. Und das Entsetzliche, das Tragische ist, daß sie immer wieder, verzweifelt fuchtelnd wie eine selber längst irregeleitete Verkehrspolizistin, immer noch etwas regeln wollte, einen Weg weisen wollte, wie man zu sein hätte, sozusagen einen Weg zum Wesen des Menschen, wie sie ihn sich vorgestellt hatte: zum Beispiel wie ihren Vater. Allein die verzweifelte Idylle, die sie, trotz aller drohenden Schrecknisse und Belästigungen des jüdischen Kindes und seiner Familie, in ihrem Stück  „Arthur Aronymus und seine Brüder“ beschworen hat! Etwas beschwören heißt es herholen, es aber auch gleichzeitig wieder verstoßen, verbannen können, durch eigene Kraft. Nur durch das Denken. Aber was verstoßen wurde, wurde nicht von ihr verstoßen, und was hergeholt wurde oder nicht, war, obwohl ein Lebewesen unter Lebewesen, das sich selber denken und nicht nur untersuchen, erforschen kann, was es aber trotzdem viel lieber und immer wieder gerne tut (zum Beispiel die Gefrierschnitte der Gehirne ermordeter Kinder!), das war auf einmal also zur Vernichtung bestimmt. Abfall. Die letzten Reste der menschlichen Gehirn-Abfälle sind erst vor wenigen Wochen bestattet worden. Daß das geschehen ist, dagegen hat die Dichterin nichts tun können. Als wäre es nicht wahr, daß das Zusammengehören von Lebewesen (also zur belebten Welt im allgemeinen Gehören) diese als Seiendes unter anderen Seienden definieren, ihren Seinsanspruch bestimmen würde. Doch gerade aufgrund ihres Seins wurden diejenigen, die sie so liebevoll in ihren Werken fassen wollte, die Juden, ihre Familie, von ihrem Sein sozusagen getrennt, sie wurden umgebracht, und zwar eben dadurch, daß sie waren was sie waren. Nicht wie sie waren. Was sie waren. Da ist sie mit all ihren Beschwörungen nicht durchgekommen. Sie ist ja selber grade eben noch so durchgekommen.

Indem die Dichterin also ihren Vater in diesem Stück „Arthur Aronymus“ ehrt, das mich immer so rührt, weil es, gerade im Wissen, daß nichts stimmen kann, alles stimmen läßt, indem sie aus ihrem Vater, den sie als Kind zeigt, einen schlimmen, vernünftigen, gescheiten kleinen Buben macht, der alle Gegensätze zusammenbringt  in eine Art Einheit, die der Zauberstab der Dichtung, sonst aber nichts,  hervorholt und damit: herstellt. Aber schau (ja, schau nur hin, du wirst, wenn der Zauberer gut ist, nicht merken, wie er es macht, diesmal aber doch!), da ist, obwohl der Stab geschwungen wurde, das weiße Kaninchen schon unten herausgefallen, und der Sternenmantel ist heruntergerutscht und hat ein Skelett auf einem apokalyptischen Pferd enthüllt, allerdings in einer Herrenreiter-Uniform mit glänzenden Stiefeln dazu, und der Himmel ist sofort untergegangen - , und was ist das überhaupt für ein unfähiger Stab, das Dichten, lächerlich, den kann ja ein Hauch zerbrechen, und, nachdem der Hauch das geübt hat, kann dann jede Menge Atem ausgeblasen werden, und die Windstille ist gleichzeitig schon der Sturm selbst. Der Stab kann das nicht aufhalten; also wie ist das mit dem Sein von Lebewesen, die alle zusammengehören, wo nicht einmal die Juden, die Ausländer, die Schwachen, die Armen, nicht einmal die etwas sonderbar Gekleideten dazugehören? Manchmal wird man in Wien sogar lächerlich gemacht und mit dem Spott der Rotte markiert, wenn man als Frau einen anderen als einen Trachtenhut trägt.

Man kann viel beschwören und auch viel von einer Gemeinschaft der Lebewesen sprechen, man kann viel Richtiges darüber sagen und viel Falsches, was man dann immer noch zur Dichtung erklären kann, ohne es wirklich erklären zu müssen oder zu können. Aber damit unterstellt man den Menschen, daß sie ihrer Natur nach, wie alle Wesen,  zum Leben gehörig sind, auch wenn sie sich noch so ungehörig aufführen, aber zum Leben gehören sie eben nicht mehr, seit man weiß, wozu sie fähig sind. Und alles, wozu sie fähig sind, haben sie auch gemacht, und sie könnten es jederzeit wieder tun. Daran kann man verzweifeln, und ich glaube, daran ist die Dichterin, nach der dieser Preis benannt ist, verzweifelt. Wie schön wäre es, wenn der Mensch ein Tier wäre, dann könnte man ihn wenigstens manchmal ein bißchen liebhaben, oder? Nein, vom Tier unterscheiden wir uns natürlich, und diese Differenz wollen wir uns auch gern gönnen, so wie wir uns manchmal einen guten Schluck oder ein gutes Essen gönnen. Oder einen Theaterbesuch. Dann setzen wir uns in die letzte Reihe, bevor man uns dorthin verweist, weil wir vorne gestört haben, wir setzen uns lieber gleich nach hinten, damit wir stören können und dabei nicht gleich entdeckt werden, und wir versuchen, uns als Geist zu setzen, der es nie gewesen sein kann, weil er ja nur gedacht hat. Weil wir uns als ihn gedacht haben. Das haben wir uns so gedacht! Und gedacht war er als, ach,  ich weiß nicht was. Gedacht hat Else Lasker-Schüler des lieben Namens ihres gottseligen Vaters, der, ein Kind noch, mit seiner ganzen großen Familie, dazu einem katholischen Bischof und einem Kaplan, den Sederabend zu Beginn des Pessachfestes feiert, und zwar mit allen gemeinsam. So hat sie es im Arthur Aronymus geschrieben. Und nichts paßt zusammen, obwohl sie so sehr wollte, daß es zusammenpaßt. Obwohl sie sogar Legenden und fromme Lügen über sich und ihre Familie erfunden hat, damit es wenigstens auf dem Papier zusammenpaßt.  Schüchtern hat da der Mensch dem anderen auf die Schulter geklopft und auf sein Sein hingewiesen, das dazugehört, egal was dieser Mensch auch tut. Da war sogar jede Möglichkeit, jede Station, die die Vernunft einem noch zum Einsteigen, und wärs im letzten Moment, gelassen hätte, längst abgebrochen oder abgereist. Nein, sie hat zuvor nicht auf christliche Weise für ihre Sünden gebüßt, sie mußte gar nicht büßen, sie hat, als Subjekt des Büßens, halt einfach gemacht was sie wollte, na, einfach war es nicht, aber sie hat es trotzdem gemacht, die Frau Vernunft, und zwar weil sie, als Vernunft, immer anwesend war und bis zu ihrer endgültigen Abreise nicht nein gesagt hat. Sie war schon abwesend, während sie noch da war. Ich kann ja selber nichts dazu sagen, denn auch ich verstehe nichts. Aber ich habe keinen Grund, nichts zu verstehen, während die Dichterin jeden Grund hatte, auch nichts zu verstehen. Sie hätte das gern bewahrt, dieses Abendmahl, das gleichzeitig auch ein christliches Osteressen sein könnte, wenn es nur wollte, nur ohne Verrat und ohne Wandlung, die zu dem Zweck erfolgt, damit man einen Gott buchstäblich als Fleisch und Blut zu sich nehmen kann.  Aber nicht weil der Mensch ein Mensch ist, wie Brecht sagt, hätte die Dichterin diese Einheit von allen gerne gewahrt gewußt, sondern weil der Mensch ichweißnichtwas ist, ich will auch nicht sagen, daß er kein Mensch wäre, also weil er ist was er ist, und ich weiß nicht, was das ist, und die Lasker-Schüler hat es auch nicht gewußt, und deshalb, weil er das ist, was ich nicht weiß,  kann der Mensch nicht bewahren was er selber ist. Und er will offenbar auch  niemanden sonst bewahren, weil er es bei sich selber auch nicht schafft. Er kann das, was er ist und was ich eben nicht weiß und nicht kenne, nicht als sein Wesen bewahren und nicht als seine Bestimmung,  egal, ob er allein ist oder zu mehreren, zu vielen (dann ist er besonders gefährlich!), und er hat auch das Recht verwirkt, sich als irgendetwas auch nur zu denken, obwohl er sich doch als so ziemlich einziges Wesen eben: denken kann (aber als was er sich nur allzu gern denken würde, das kann man sich schon denken!), er ist in der Dichtung der Else Lasker-Schüler nicht, war es nicht und wird es nie sein: aufgehoben. Die Dichtung kann sich sowieso nichts aufheben für später. Sie wird vielleicht aufgehoben, aber selber aufheben kann sie sich nicht. Und von meiner Arbeit will ich gar nicht erst reden, ich will mir ja genauso wenig aufheben, weil ich weiß, daß nichts es wert ist. Nachdem das Unwerte als Unwertes auch deutlich erklärt worden ist, seither ist überhaupt alles aufgehoben, diesmal nicht im Sinn von geborgen oder bewahrt, sondern: aufgegeben, annihiliert, ausradiert, soviel Aufhebens auch immer es von sich und seinen Produkten auch machen möchte. Und es ist nie aufgehoben, auch wenn diese Dichtung der Lasker-Schüler, die es nicht schafft, sich etwas aufzuheben, das letzte ist, was bleibt. Ihr Gegenstand ist ihr längst durch die Finger geronnen, und er müßte jedem durch die Finger rinnen, weil er sich nicht fassen läßt, und ich weiß nicht einmal, was es ist, das da zu fassen wäre. Ich weiß nichts. Das kann ich immerhin sagen. Ich bin zwar einbetoniert in meine Existenz als Mensch, aber es gibt so starke Maschinen, die holen einen da heraus wie nichts, die Existenz ist in Sekundenschnelle zertrümmert, und nicht einmal, wenn ich die Trümmer sehe, weiß ich, wo ich da eingelassen war, denn ich war zwar in Beton eingelassen, aber niemand hat mich wirklich eingelassen, und niemand wird je wieder jemanden einlassen dürfen, egal worauf er sich da wieder einläßt.


Rede gehalten am 20.11.2003 in Mainz anläßlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises.

Bild aus: www.stanford.edu

13.6.2004


Else Lasker-Schüler © 2004 Elfriede Jelinek

 

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