Gelassenheit

Gelassenheit tut not, aber was macht derweil die Not selber? Was tut die? Sie hat es nicht mehr nötig zu sprechen. Sie ist heiser. Zuviel gesprochen. Zu oft. Angeblich immer gesagt: alles Nazi wie: alles Walzer. Naziland. Alles Naziland. Zu routiniert, soso.  Längst zu routiniert. Die nötigen Grundlagen unserer Freiheit sind ja längst geschaffen, warum noch länger schaffen in der Kunst, über diese Leute, und dafür untergestellt bekommen (aber nicht dicht genug, und jetzt wird diese Meinung naß und die dort auch), daß unser Schaffen ein Anschaffen wäre? Wem hätten wir je was anzuschaffen gehabt? Die wirklich Schaffenden waren doch viel zu sehr damit beschäftigt, was Schönes für den Staatshaushalt anzuschaffen. Warum den anderen, und vor allem: was? Ein bissel dran denken, in welches Land wir gehören. Viele von uns haben gesagt in welches. Ich hab immer gesagt, was man mich nicht gefragt hat und was unbedacht war. Ich hätte vorher nachdenken sollen, daß es kitschig ist, wenn man sagt, was alle sagen. Über uns wurde immer gesagt, wir würden alle überall Nazis sehen. Wir würden alle als Nazis sehen. Wir würden über alle Anlaß zu Standpauken, nein, zu Standpunkten suchen, die zu der immergleichen Standpunktpauke führen. Immer dasselbe. Über das Selbstverständliche das Verständliche vergessen, aber nur nicht sich selbst. Das wird noch immer gesagt. Es wird gesagt, wir sagten immer dasselbe. Ohne Gelassenheit.  Wir hätten keine Neugierde, weil wir alles schon vorher wüßten, aber von allein wären wir auch wieder nicht draufgekommen. Es mußte uns gesagt werden, und wir haben es nachgesagt. Wir haben uns entschieden, das zu übernehmen, was uns nicht selbst eingefallen ist, als könnte man entscheiden, welches Wesen man annehmen soll und welches nicht. Wir konnten nicht anders. Aber jetzt können wir anders. Wir können nicht anders, denn die Ereignisse haben uns dazu getrieben, und jetzt treiben sie uns eben nicht mehr. Sie treiben es miteinander, von gleich zu gleich, aber sie treiben nicht mehr unser Mühlrad an, das  mit immer demselben Wasser gewaschen, aber nicht naßgemacht wird. Wer hat uns zugewiesen, was wir sagen sollten? Wir waren so lächerlich, aber es mußte einfach sein. Es sieht so aus, als hätte es sein müssen. Tut mir leid, daß es zur Unzeit gemußt hat. Ich muß jetzt auch. Bitte warten Sie einen Moment. Diese jüngsten Ereignisse, wie man so schön sagt, der Graf mit den Gaskammern, die physikalisch gar nicht leisten konnten was sie mußten, wie der Graf denkt und plötzlich niemand mehr lenkt, oder der Siegfriedskopf, der steht aufrecht, nein, doch nicht, ich sehe soeben, der liegt flach, und auf den könnte noch vieles, vielleicht gar alles draufpassen, was wir uns ausgesucht hätten, nur nicht als eigenen Kopf, ja, der Kampl, wenn der nur ruhig halten würde, dann darf er wieder ein schlichter Siegfried sein, aber dann darf er nicht mehr Präsident im Bundesrat sein. Entweder ein Denkmal oder Präsident. Oder vorher Präsident, nachher Denkmal.  Aber Moment, so schnell kann man ja gar nicht schauen, er hält seinen Kopf jetzt ruhig und versteckt, man hat den Kopf bearbeitet, aber ein Kunstwerk ist er trotzdem nicht geworden. Zuwenig behauen? Zu kernig das Holz? Zuviele Astlöcher, die aber wieder zu klein zum drauf Sitzen sind? Macht auch nichts, in der Aula der Universität haben wir noch einen Kopf aus Stein in Reserve. Vor dem wird manchmal sogar gebetet. Schmissig das Ganze. Der Siegfried! Wer kann der kann. Was soll man noch sagen? Wenn alle es sagen, müssen wir nichts mehr sagen. Wir Dichter sind keine Machthaber, es sprechen jetzt diejenigen, die sich so lang im Unbestimmten verloren haben und jetzt endlich was Bestimmtes gefunden haben, was wir schon lang gefunden hatten, so, den Firnis tun wir weg, wir Dichter wollen ja sehen, was dahinter ist, ich meine darunter. Wir sind unter allen. Wir sind auch nicht mehr als alle. Lieb, daß Sie es uns auch sagen, Herr Gelassenheit! Wir hätten es sonst nicht gewußt, daß es eine Notwendigkeit ist, gelassen zu sein. Soso. Wir haben also ununterbrochen gesagt, das, worin wir leben und uns wohlfühlen, sei ein Naziland?  Danke für die Info. Ohne die hätte ich baden gehen können. Mir geht dies oder jenes ab, und Herabwürdigungen sind das, was jedem zugesteht, der auch ordentlich das Geständnis ablegt: Naziland! Dafür ist es immerhin nicht abgebrannt. Seien wir froh. Jetzt ist die Zeit zum Frohsein angebrochen, und da sie nun mal angebrochen ist, essen wir sie gleich so, aus dem Papierl, auf dem sie steht. Wir haben es immer noch, was? Das Land? Ja, das Land, ist das nicht fein. Die Übersetzung ist uns schon in andre Länder vorausgeeilt und hat uns dort immer schon erwartet, wenn wir ohne Not über Das Land geschrieben haben. So. Und jetzt spreche ich mit Not über das Land dafür überhaupt nicht mehr. Wer sollte mich daran hindern. Die Übersetzung stimmt mit dem Original nicht überein, das von uns Dichtern stammt. Wir haben schließlich dieses Land erfunden, das es gar nicht gibt. Es stammt von uns. Es gibt dieses Land nicht, weil wir es erfunden haben. Auch wenn jemand andrer es erfunden hätte, könnte es das nicht geben. Diese Vorstellung von einem Land, wie sie nur wirklich Macht- und Anspruchslose haben können, ja, genau, die stammt von uns! Das haben wir Dichter gestiftet und auf ein Taferl geschrieben, das an ein Bankerl genagelt wurde. Wir waren Originale, aber jetzt sagen es alle. Wie soll man da ein Original bleiben? Jetzt sagen alle, was richtig ist, was, und wir, die letzten Originale, sollen es auch noch sagen? Das ist vollkommen überflüssig. Das ist medial hochgespielt worden, sagt ein Gebruder Scheuch  über einen andren Bruder Baum, nein, Bauern, dem er sich verbunden fühlt, dem er aber trotzdem leider das Amt nehmen muß, bevor er es noch hat. Es steht ihm zu, aber jetzt hat er es nicht mehr, bevor er es noch gehabt haben kann. Darüber soll man schreiben? Aber ja doch. Und es geht weiter. Ich kann gar nicht so schnell schauen, wie es weitergeht. Man kommt ja nicht mehr nach. Jetzt auf einmal will jemand Worte von mir! Was ist mit denen, die ich schon hergeschenkt habe? Kein Dank, nirgends? Als hätten wir uns entscheiden können, welche Wahrheit wir sagen, nur damit sie auch schön in Vergessenheit bleibt? Lächerlich? Wir alle lächerlich? Was bleibt der Wahrheit denn andres übrig, als es sein zu lassen. Als das Sein zuzulassen? Was haben wir denn schon geschafft? Keine Spur haben wir hinterzogen, keine Verweigerung haben wir hinterlassen, keine Verzögerung haben wir zugelassen, keine Tür haben wir offengelassen. Aber es wollte keiner durch, um keinen Preis. Da gehen eher die Kühe der Scheuchbrüder durchs Gatter als wir durch diese Tür. Dafür nehmen wir nichts weg. Wir geben nichts, aber wir nehmen auch nichts. Es ist alles noch da. Alles Nazi, sollen wir gesagt haben, und das ist Kitsch. Ja. Das ist wahr. Und unsere Verweigerung, weil jetzt alle es sagen, sogar die Scheuch-Gebrüder es dem Kampl hineinsagen, der Bundeskanzler es zu uns heraussagt, der Bundespräsident das sagt, was er zu sagen hat, weil alle alle alle es sagen, alles dasselbe, alles eins und das andre auch gleich, die Sache ist hiermit erledigt, ein für allemal, einer für alle mal, die ihn alle mal können (und der Herr Graf ist allemal immer noch Bundesrat, im Seniorenstudium mit Physik beschäftigt: wieviele Menschen können zur gleichen Zeit nicht atmen, weil keine Luft mehr da ist, sondern nur noch Gas? Und bitteschön, der Raum ist begrenzt. Deswegen braucht man ja mehr Raum im Osten. Im Westen ist ja keiner mehr. Aber wenn wir ihn kriegen können, nehmen wir ihn auch von dort. Wir sind nicht wählerisch. Das muß erst mal bewiesen werden, daß die Firma Topf und Söhne solche Öfen überhaupt erzeugt hat! Ob sie etwas überhaupt erzeugen konnte, das es gar nicht geben kann! Das muß bewiesen werden, daß etwas nicht da ist, das es nicht geben kann. Und weil es noch da ist, kann es durchaus sein, daß ich es glaube, aber es ist trotzdem nie da gewesen. Und wenn es bewiesen ist, dann glauben wir es auch nicht, und wenn es nicht bewiesen werden kann, dann glauben wir es schon gar nicht,  weil nicht wir es nicht bewiesen haben, sondern die Physik, und der glauben wir schon gar nichts. Die sagt ja selbst, alles ist relativ. Ach so, die Wahrheit ist, es ist schon bewiesen? Na, nicht von mir, nicht von einem Diplomingenieur, nein, ich bin kein Diplomingenieur, aber ich glaube ihm alles, und er glaubt es nicht, egal, was auch bewiesen wurde, ich sage es immer noch. Hier herrschen Redefreiheit und Gedankenfreiheit. Hier herrscht keine Freiheit für Aufgeregtheit. Hier tut Gelassenheit not. Und hier herrscht, in aller Gelassenheit, mit der man herrschen muß, weil einem sonst der Apfel aus der Hand fällt, daß man glauben muß, was alle glauben. Es herrscht nicht mehr, wer spurlos dem Leben verweigert wurde. Wo soll denn das Sein herkommen, wenn soviel davon weg ist? Woher nehmen und nicht stehlen? Es ist aber überhaupt egal, was gesagt wird. Wozu die Empörung? Ich bitte Sie, gesagt ist gesagt, aber es ist egal was! Was heraus will, muß heraus. Ich muß das sagen. Wenn keiner es sagt, dann muß ich, bitte, ich muß einfach! Die ganze Welt kann ihr Sein gerade noch davor retten, keine Luft mehr zu kriegen. Aber mehr kann die Welt nicht tragen. Nur was sie eh schon am Leibe trägt. Was soll man denn sagen? Es wird alles gesagt. Es wird mir das Wort aus dem Mund genommen, noch bevor man es mir dort umdrehen konnte. Vielleicht schmeckt die andre Seite ja besser? Nur keine Wellen. Nur keine Aufregung. Aufregung ist Kitsch. Das stimmt sicher. Wem das Gewand der Aufregung hingehalten wird, der sollte erst mal innehalten, bevor er es sich anzieht. Aufregung schadet nur. Es ist ohne Aufregung erledigt worden, daß der Herr Kampl Präsident wird, und es ist ohne Aufregung erledigt worden, daß ich mich aufrege. Ich bin empört, aber das ist egal, das ist ein leerer Rahmen, in dem ich etwas vorstelle, indem ich nichts sage und mir nichts mehr vorstellen mag. Man will sich ja sogar seine Verweigerung noch vors Gesicht ziehen wie einen durchlöcherten Fetzen, man schämt sich noch, daß man soviel gesagt hat. Einzige Entschuldigung, die nicht gewährt wird: Damals haben es noch nicht soviele gesagt. Jetzt sagen es alle, was auch immer. Jeder einzelne sagt es. Viele sagen alles. Alle sagen vieles. Jeder sagt derzeit etwas, das richtig ist. Aber morgen wird er wieder etwas ganz andres sagen. Jeder sagt, was er sich nicht vorstellen kann, aber das wichtigste: er sagt, darf ich mich vorstellen? Mich werden Sie nicht so schnell vergessen, da Sie mich nun kennen.

28.4.2005


Gelassenheit © 2005 Elfriede Jelinek

 

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