Die Anmessung des Urteils
Viele jubeln über Erfahrungen. Manche verzichten. Manche würden gern verzichten, aber sie machen trotzdem ihre Erfahrungen. Alle erschrecken. Manche erschrecken mehr als andre, oft vor etwas, das sie im Grunde verzärtelt, sie erschrecken nicht nur vor ihren, sondern vor allen Erfahrungen. Die meisten sehnen sich nach dem, was alle ersehnen, etliche achten das, was andre außer acht lassen. Dieser hier legt sich hin, der dort steht auf. Viele gehen. Sie gehen hinaus und kommen nicht mehr herein zu uns. Sie wollen zwar gern dabeisein und sich, schon ermüdet vor lauter Selbstkontrolle, einmal von andren kontrollieren lassen und nicht nur Reisepaß und Wagenpapiere. Sie wollen sich aus der Hand geben, notfalls in die Hand von anderen, und wenn sie sich hergeben, dann merken sie erst, daß sie je schon in der Hand von anderen waren, die sie nicht benennen können. Sie können ihr Haustier beim Namen benennen, das Denken, das neben ihnen herläuft, egal, wo man seiner Wege geht. Man ruft das Denken beim Namen, und es gehorcht oder nicht. Wo das Äußerste beginnt, in das man sein Denken äußerln führt, bleibt es mit seinen Ausscheidungen nicht in seinem Bereich. Sogar dort will es über sich hinaus, aber es kommt doch immer (weiß der Denker sich in der Umwelt auch nur halbwegs zu orientieren) in einen unbeschrifteten Plastikbeutel und dann in den Müll. Dieses Paket ist weg von der Straße, aber immer noch da. Die anderen, die ganz anders denken, egal wie anders sie sein mögen und wie anders ihr Denken ausfällt, sogar ausfällig wird, werden sich und ihrer Natur immer fremder, und sie werden immer mißtrauischer dort, wo sie aufhören und Nachbarschaft anfängt, die man mit Denken ja stört. Die Natur versucht behutsam, sich mit ihnen anzufreunden, doch diejenigen, die mit Denken stören, bleiben trotzdem in ihrer eigenen Natur stecken. Da kommen sie nicht mehr raus. Sie erkennen nichts. Sie sehen den Mistkübel nicht, in dem sie sich und ihr geäußertes Denken ent-sorgen müßten, folgten sie der festgeschriebenen Vorschrift. Es entsteht ein unentwirrbares Knäuel Natur, die eine Natur will raus aus uns, damit sie uns aus der größeren Ferne besser erkennen kann, die andre will rein, wissen aber nicht wo. Sie sehen es erst, wenn es zu spät ist. Wir brauchen jetzt endlich eine Natur-Verkehrsampel, die aber doch nur besagt, daß kein Verkehr geregelt werden dürfe, weil er dann schon kein Verkehr mehr wäre, ein Miteinanderverkehr, der eigentlich ein ständiger Gegenverkehr ist, auf dem wir als Geisterfahrer unbekümmert unterwegs sind, aus dem dann natürlich jeder wieder entsetzt rauszukommen versucht, so schnell wie möglich (oder aber er denkt, daß er als einziger in der richtigen Richtung unterwegs ist, ja, das kann auch sein). Der Verkehr, der gleichzeitig ein Gegenverkehr geworden ist, verlangt selber verzweifelt nach seinen neuen Schreib- Regeln. Doch das Schreiben gehorcht keiner Regel, wie die Natur. Es gehört zwar zur Natur, daß man denkt, aber man spricht zuviel. Es kommt nicht in Frage, daß einer zuhört, und eine Antwort ist auch nicht zugesagt worden. Ist das der Grund, weshalb sie nie kommt? Man sagt etwas. Man bekommt keine Zusage dafür. Dieser Miteinanderverkehr hat sich lang von allein geregelt, aber jetzt soll das gefälligst jemand andrer übernehmen. Er selbst hat sich entschieden übernommen, als er Regeln aufzustellen versuchte. Da ist ein Dichter, aber er jubelt nicht über seine Erfahrungen. Er ist, im Gegenteil, im schönen Park verzweifelt, einem spitz vorspringenden Plätzchen mit großem Ausblick, ein ambulanter Patient, wie er überall Patient ist, aber nicht immer ambulant (er braucht die Ambulanz, aber irgendwann wird er stationär werden, aufgenommen, nein, nicht aufgenommen, verwahrt, und dann wird er sterben. Das wird kein Spaziergang sein), er wird vom Leben behandelt und ist und bleibt verzweifelt. Die Treppe zu ihm hört in halber Höhe nutzlos auf, wozu die Treppe, zu ihm geht’s ja nie bergauf, zu ihm geht’s immer bergab. Die Ketten der Zugbrücke hängen vernachlässigt an den Haken herab. So schaut Kafka eine Landschaft auf einer Reise an und lernt den Verzicht auf sich. Und während er auf sich verzichtet, verzichtet er auf alles, was er da sieht. Indem er verzichtet, gibt er uns, was er sieht, und dann sieht er es selbst nicht. Er hat es ja hergegeben, sein Sehen. Er hatte keinen Grund zu schauen, und jetzt merkt er, daß er im Grundlosen steht, wenn er sein Schauen weitergibt. Er versinkt. Wenn schon das Sehen so dumm ist, sich auf der Stelle in Sprache zu verwandeln und daher sofort zu entgleiten, zum nächsten Sehen, zum nächsten Satz, so ist das Sehnen nach etwas anderem noch viel dümmer. Wozu auch? Diese Verwandlung wie dieses Herumwandeln, um etwas zu sehen, führt einen ohnedies überallhin, man muß nur warten. Hat die Sprache jetzt Zeit für uns oder nicht? Klingeln wir mal, wir werden sehen, ob da etwas ins Offene kommt, damit wir ihm großräumig ausweichen können. Vorbeigehen muß man. Man kann nichts besitzen als den Platz, auf dem man sitzt. Dann steht man auf und rührt sich wieder. Geht weiter. Kafka ist für mich ein Autor der äußersten Rührung. Die Sehnsucht nach dem Alleinsein eilt ihm voraus, er eilt ihr hinterher, und so ist er natürlich nicht oft allein. Solange das Alleinsein an dem Platz, den es erreicht hat, auf ihn wartet, ist er schon nicht mehr allein. Weil er irgendwo nicht mehr allein sein wird, ist er es jetzt schon nicht. Danach ist er dann aber wieder allein. Über kaum einen Dichter ist soviel gesagt worden wie über Kafka. Ich kann dem nichts hinzufügen, was einen Wert hätte, das ist mir bewußt. Wenn ich das Erleben Kafkas verfolge, dann verfolgt es sofort mich mit seiner eigenen Reisebeschreibung des Stillstands. Ich sehe ein Regal, in das ein, jeder (nicht ein jeder!) Herr K. verzweifelt Bretter einschiebt, damit er etwas drauflegen kann. Sofort fällt das Brett, er weiß nicht warum, wieder heraus. Es hält nicht. Die Bretter halten nicht. Sie würden an sich ja halten, wenn sie auch nicht an sich halten könnten, aber sie können sich im Gestell nicht festhalten. Da ist ein Freund, der in der Fremde sich nutzlos abarbeitet, vielleicht ist er krank, nein, wahrscheinlich ist er krank geworden, weil er fremd ist in der Fremde, in die er wollte, halb vom Freund gesandt, halb ohne Frankierung, ohne Stempel abgesandt, immer falsch beraten, aber dort in der Fremde ist er vielleicht gar nicht, so wie der, der von ihm spricht, in dem Augenblick, da er sich setzen und über ihn sprechen will, schon wieder herausgeschleudert wird aus seinem Sprechen. Er spricht jetzt weiter, weil er seine Sprache gefragt hat, und die hat es ihm erlaubt zu sprechen. Das Brett aus Sprache, das er ohne jede Schlichtheit eingeschlichtet hat, ist jedoch bereits herausgerutscht, es fällt, es gleitet, es hat keine rechte Verbindung, womit auch immer, mit seinen Landsleuten im Ausland, mit seinen ausländischen Freunden im Inland, kein rechter Verkehr kommt auf, ein andrer Verkehr kommt von der Straße ab. Wie soll man einem Mann schreiben, der sich zum Beispiel für ein endgültiges Junggesellentum eingerichtet hat, da er ja keinen Verkehr hat und keinen will? Ein andrer wird ewig für die Gemeinschaft zugerichtet und ist jetzt schon übel zugerichtet, man schlägt aber weiter auf ihn ein. Man schlägt auf ihn ein, nicht auf seine Sprache, die niemals beleidigend ist, aber trotzdem beleidigt, denn man ist sie fragend angegangen, obwohl man wußte, daß sie keine Antwort hat. Das nächste Brett da fällt, und man hatte schon ein weiteres Sprachhäufchen hergerichtet, um es, diesmal mit Schwung, darauf zu werfen, um dann, wenn das Brett hält, eventuell die eigene Existenz darauf zu verlegen. Mal sehen, wie es dort ist. Vielleicht hat man Aussichten von dort. Aber, wie gesagt, das Brett rutscht ab, bevor es richtig liegt, denn es liegt nirgendwo richtig, schon gar nicht bei uns, bei uns liegen Sie nie richtig, und natürlich fällt das, was man darauf lagern wollte, auch. Es fällt mit. Es gefällt nicht, es fällt. Es besteht für nichts ein Hindernis, also ich sehe keins, aber diese Hand da fällt, und dieses Brett hält auch nicht. Kaum ist eins eingeschoben, fällt es herunter, manchmal scheint es liegenzubleiben, dafür fällt ein andres. Das, was man grade reingelegt hat, wird auch gleich wieder ins Rutschen geraten. Trotz aller Ratschläge wird es ins Rutschen geraten. Alle bisherigen Versuche mißlungen, das steht fest. Man sollte von den Versuchen ablassen, aber man kann nicht. Man startet einen neuen Versuch. Altes Ergebnis, das immer älter wird, je mehr man versucht, einen neuen Versuch zu starten, für ein neues Ergebnis. Gleichgültige Menschen, gleichgültige Mädchen, nicht einmal Briefe fallen in den Postkasten, auch sie fallen vom Postkasten herunter. Sie fallen lieber hinunter als hinein. Man will etwas tun, doch man rutscht ab. So, jetzt verschrauben wir die Halterung für das Brett, vielleicht geht es dann. Ja, sieht so aus, als ob es jetzt besser ginge: das Personal muß man verdoppeln, den Umsatz hat man verfünffacht, ein weiterer Fortschritt steht zweifellos bevor. Das wäre eine Veränderung, aber eine gute. Das hält. Das paßt. Allerdings kann man es dem Freund nicht sagen, dem man in der oft besprochenen Fremde, diesmal in Rußland, eine glänzende Zukunft in Aussicht gestellt hat, was nicht recht zu funktionieren scheint. Im Regal ein leises Ächzen, das man schon kennt. Man kennt die Vorahnung, die jetzt kommt. Man hat sie so oft gekannt, nachdem sie gekommen ist, daß man sie diesmal schon vorher kennt. Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen angezeigt. Die Abstände der Bretter kommen einem schon irgendwie komisch vor. In dem einen ist viel Luft über den Bücherköpfen, über die das Sprechen dahinzieht, auf dem andren Brett kann die Sprache zwischen den Pappdeckeln nicht einmal aufrecht stehenbleiben. Also das sollte sie schon können. Vielleicht ist sie inzwischen zu alt geworden? Gespräch mit der Verlobten. Sie will den Freund kennenlernen. Bis dahin sind schon so viele Regalbretter, die man doch so sorgsam eingepaßt hat, herausgefallen, daß man vor lauter dauerhaftem Sich Bücken, nur mehr den Boden sieht, und auf dem Boden ein Satz. Ein Bodensatz. Ich verstehe das nicht. Wo kommt der Satz plötzlich her? Der Vater ist immer noch ein Riese, aber plötzlich ist er kaputt. Hier ist es ja unerträglich dunkel. Das nächste Brett gerät in Gefahr. Man will das Nichts, die absolute Leere eines Gestells, aus dem alles herausgefallen ist, mit einer Antwort abstützen auf die Frage eines Vaters (es gibt immer einen Vater, wer immer es ist, er wird sofort zum Vater, indem er fragt, weil er schon fragt, sage ich ihm: Sie sind jetzt der Vater): Bin ich gut zugedeckt? Fragt er. Da fällt das Brett, die Decke schwingt auf einen zu wie ein einflügeliger Vogel, der sich in der Luft zu halten sucht, das Brett sucht das Gestell, ja, auf einmal ist es umgekehrt, das Brett würde gerne halten, aber das Gestell ist weg, ein Mensch, ja, genau: der Vater, entfaltet sich im Flug, steht plötzlich aufrecht im Bett. Nur eine Hand hält er leicht an den Plafond. Und jetzt steht gar nichts mehr. Du wolltest mich zudecken, aber zugedeckt bin ich noch nicht, triumphiert der Vater. Jede Ordnung, die man herstellen, jede Rede, die man gern einräumen würde, jeder Einwand, der schon entkräftet ist, bevor er seine kräftigende Suppe essen konnte, zerfällt in der Sprache, dieser Grund da fällt weg, er ist herausgefallen, die Folge wird kommen, aber auch nicht halten, was sie versprochen hat; dieses Brett da fällt, jedes fällt, alles. Nur die Schuld fällt nicht. Die fällt nicht ab. Alles fällt, aber die Schuld und die Scham, die bleiben, aber sie halten nicht. Sie bleiben einfach, ohne daß sie halten würden. Es ist nichts. Nichts ist etwas. Die beiden Herren, einer legt K. die Hände an die Gurgel, der andre stößt ihm das Messer tief ins Herz und dreht es dort zweimal, nahe am Gesicht K’s, an seinen brechenden Augen, Wange an Wange aneinandergelehnt die Mörder vor ihm, und sie beobachten Die Entscheidung. Sie fällt. Sie fällt jetzt. Sie wird beobachtet, während sie fällt. Aber sie fällt. Es fällt der wahrscheinlich berühmteste Schlußsatz der Literaturgeschichte: „’Wie ein Hund!’, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Es ist alles herausgefallen, aber K. ist, als sollte die Scham ihn überleben. Er wird es nie erfahren, denn er kann es nirgendwo festmachen, was das ist, das ihn überleben wird, denn schon zu Lebzeiten ist ihm alles zusammengefallen, aber nicht in Eins, das wie eine Eins auch stehen könnte. Es kann nichts stehen, obwohl hier doch auch etwas steht. Es kann sich aber nicht behaupten, gerade weil es etwas behauptet hat. Es dauert nicht, und es dauert niemanden. Es ist ein Anspruch entstanden, er ist verschwunden, und man muß sich fügen. Man fügt sich in etwas, aber man fügt sich nicht ein. Man will sich ja fügen, aber man fällt heraus. Soll man verzichten, auf alldas? Verzicht ist leicht gelernt. Was man muß, das lernt man schnell. Da ist eine Erfahrung gemacht worden. Wem gehört sie jetzt? Ich schreibe sie auf, und sie gehört allen. Aber was ich aufschreibe, verschwindet sofort wieder. Dem Vater, jedem Vater, ist das Schreibzeug (noch) nicht weggenommen worden, und so hat er geschrieben. Diese Briefe werden ungelesen mit der linken Hand zerknüllt, während die rechte andere Briefe, die Briefe Des Vaters, sich zu Lesen vorhält. Aber das Gelesene kann nicht vorhalten. Es hat eben keinen Grund und keinen Boden. Es hat ein Opfer für Grund und Boden gebracht, aber das Opfer ist nicht angenommen worden, und so hat das Opfer keinen Grund sich aufzugeben. Vielleicht liegt der Wert ja zwischen dem Grund und dem Boden? Nein. Dazwischen ist auch nichts. Da ist eine Trennwand. Die ist doch nicht nichts! Die ist es, was gesucht worden ist: der Grund des Bodens. Der Boden des Grundes? Man kann sich diese Trennwand nicht vorhalten, um wenigstens irgendetwas zu bedecken, wenn man sich von der Wand schon nicht trennen mag, aber da muß überhaupt nichts bedeckt werden. Da ist nichts. Das ist ja nichts. Nur die Scham und die Rührung sind da. Wenn man sich auf die verläßt, ist man schon verlassen, sagt der Volksmund. Die sind aber doch fest zugesagt. Sie sind nicht fest zugesagt, aber immerhin zugesagt. Nein, zugesagt auch nicht. Es gibt keinen Anforderungsschein dafür. Es gibt vielleicht eine Gebrauchsanweisung, aber damit kriege ich das Gestell nie zusammen und die Bretter nie dazu, daß sie halten. Es gleitet alles davon, und nicht einmal auf Wasser. Es fügt sich nicht zu einem Wassersport, der besagt, daß die Menschen nicht fügsam zu sein brauchen, denn der Sport ist immer wild. Er soll es sein, er darf es sein. Sogar das Schwimmen ist wild, besonders wenn man es im Wildwasser betreibt. Das, was bleibt - es kann auch nichts sein, ja, das ist eine reale Möglichkeit oder ist es möglichst realistisch, in Cinemascope? - bleibt vorenthalten, nicht vorgehalten. Es bleibt aber auch nicht. Man begibt sich in die Nähe zum Entzogenen, vielleicht um das Brett selbst herauszuziehen, als Rest einer Willensanstrengung. Wenn schon Verlust und Versagen, dann will man wenigstens das in der Hand behalten, was man bereits hat. Wenn alles rausfliegt, dann kann man es vielleicht auffangen und so tun, als wollte man dieses Scheitern. Als hätte man es immer schon gewollt. Als hätte man nichts anderes je gewollt. Aber es fällt daneben. Sogar das Scheitern fällt daneben. Zwischen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen steht er grade noch, dieser Freund, nein, gerade steht er nicht. Warum hatte er so weit wegfahren müssen? Er ist verraten worden. Er hat nichts verraten. Als das Todesurteil verkündet wird dem unschuldigen Kind, das ein teuflischer Mensch geworden ist, das Todesurteil des Ertrinkens, hat man kein Brett, an das man sich klammern kann. Man weiß, obwohl soviele Bretter gefallen sind, die schwimmen könnten, obwohl sie es nie lernen mußten, wird man sich an sie nicht halten können und auch nicht an das, was man in sie, ebenfalls nie, einschlichten konnte. Jeder Omnibus kann mit Leichtigkeit den Fall eines Menschen übertönen. Also läßt man sich halt fallen. In aller Liebe. Bei aller Liebe muß man sich fallenlassen, den Schlag, mit dem der Vater hinter einem aufs Bett stürzt, noch im Ohr. „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“, wird von einem gesagt, der sich ausspart, weil er, indem er von sich spricht, nicht von sich sprechen kann, aber auch nicht von einem anderen, und er läßt endlich das Geländer los, das er festgehalten hat „wie ein Hungriger die Nahrung“. Die Hände werden schwächer, dann, nein, zuvor, nein, danach sieht er den Bus, der ihn übertönen und auslöschen wird. Nein, erst das Wasser wird ihn dann auslöschen. Bei allem Verlust, der noch mehr ist als Verlust, nicht weil er der Verlust von allem wäre, sondern weil alles Verlust ist, verkehren andre weiter, unendlich. Nicht einmal ein Regal kann fertiggestellt, das ist: festgestellt werden, alles verschwindet, und alles ist dann da. Die Feststellung verschwindet, sobald sie da ist, nein, nicht die Feststellschraube mit ihrer lieben Kontermutter, mit der sie untrennbar verwandt ist. Bis die Verwandlung einsetzt. Das, was da ist, wurde erlangt, aber man kann nicht einmal hoch genug gelangen, um eine bessere Stellung zu bekommen. Man kann gehen und gehen, aber man kann nicht einmal einen Weg erreichen, obwohl man sich auf einem Weg vorwärtsbewegt. Man ist bewegt. Es ist einem etwas anvertraut worden, aber man hat es längst verloren. Es ist etwas verwandelt worden, aber nein, mit der Verwandlung, die ihren Einsatz erhielt, hat es ja begonnen, aber in das, was man vorher hätte sein sollen, kommt man nun nicht mehr zurück. Die Verwandlung ist ja der Ausgangspunkt. Aber ohne Plan geht es nicht zum Ziel. Es gibt kein Ziel. Man würde gern ein Verhältnis haben, vielleicht sogar heiraten, aber man weiß, daß kein Verhältnis eine Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Wort stiften kann. Kein Wunder, daß alles stiften geht, ich sagte es schon, kein Wunder, weil es kein Wunder gibt. Also das wundert mich jetzt schon! Ich fürchte, auch das Wort ist nicht das Verhältnis, das seinen Gegenstand einbehalten kann, fesseln für einen Ehebund oder zusammenbinden für ein Büchergestell oder festschreiben für eine Buchgemeinschaft. Kafka weiß, daß nichts etwas wird, nur weil man es einbehält, als ein Wort für ein Ding. Das Sehnen danach setze ich als bekannt voraus. Aber ich habe schon so vieles als bekannt vorausgesetzt, das dann auch nicht gehalten hat, was es versprochen hatte. Gute Menschen? Die gibt es nicht. Ohne Ruhe kein Entkommen. Nach dem Entkommen - erst recht keine Ruhe. Das Wort wird höflichst eingeladen, sich, mit seinen Gefährten auf dieses Brett zu begeben, aber das Wort weiß schon, daß das der unsicherste Grund ist, auch wenn viele von uns im Kreis darum herumsitzen und den Affen mit einem Stecken dort kitzeln, wo es ihm angenehm ist. Er würde, sollte er einmal eingeladen werden, eine Fahrt auf diesem Schiff, auf dem er hergekommen ist, mitzumachen, diese Einladung gewiß ablehnen, aber ebenso gewiß ist, daß er nicht nur häßliche Erinnerungen an seine Überfahrt hat, auf der er sich immerhin etwas Kostbares erwerben konnte: Ruhe. Die Ruhe kann einen vor der Flucht abhalten, der ein Affe ist. Wenn er leben will, das ahnt er von einem bestimmten Moment an, den er im Rückblick genau bestimmen kann, dann weiß er, daß er einen Ausweg suchen muß, der aber nicht durch Flucht zu erreichen ist. Flucht sollte immer möglich sein. Wieso ist sie dann nicht möglich? Wieso hat die Freiheit so wenige Anhänger, obwohl sie überall hinkommen kann, als Freiheit, aber auf den Anhängern steht nichts drauf, und so kann man nie an die richtige Adresse zugestellt werden. Dafür kann man Beobachtungen anhäufen, aber wo? Die Bretter sind ja alle rausgefallen. Es gibt keinen Ort. Es gibt nicht einmal ein Nirgends. Es gibt keinen Gegenstand, also braucht man auch keine Worte für ihn. Es gibt Worte, aber die Gegenstände halten nicht einmal so lange, wie man sie aussprechen kann. Es ist nicht egal. Das ist kein Regal. Ein Regal hätte etwas, an das man sich halten könnte, wenn man stürzt. Es gibt kein Regal mehr, es ist doch selber eingestürzt. Ich an Ihrer Stelle hätte mich an diesem Regal nicht angehalten, selbst wenn es gehalten hätte. Ja, stellen Sie sich nur hin und halten Sie es fest, umgreifen Sie es und halten Sie es fest! Drücken Sie es dann aus und verhelfen Sie ihm dazu, daß es raus kann. Es gibt aber keinen Ausweg. Warum sollte etwas rauskommen, wenn es doch keinen Ort hat, woher es kommen könnte. Was überhaupt ausdrücken? Es bleibt schon lange nicht, was die Dichter stiften. Es hat keinen Platz. Dieser Platz war dafür vorgesehen, aber auf diesem Platz hat sich nichts halten können. Wir klammern uns mit aller Selbstkontrollierung an dem Regal fest und halten nur Luft. Etwas ist verschwunden. Millionen sind das Etwas, das verschwunden ist. Millionen Haltegriffe wären da gewesen, aber nichts da, an das man sie hätte montieren können. Nichts da, auf das man sich hätte einlassen können. Niemand da, mit dem man sich hätte einlassen können. Millionen fort. Keiner zu Hause.
Dankesrede zum Prager Franz-Kafka-Literaturpreis 2004. Abgedruckt im Heft 1/2005 von Literaturen . 19.1.2005
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