Die Leere öffnen

(für, über Jossi Wieler)

Ich habe eigentlich keine Veranlassung, woanders zu leben als daheim, wo die Menschenwurfgeräte stehen, aber da sind Regisseure und Schauspieler, und die wollen alle aufs Spielfeld einlaufen und mit sich selber werfen. Dort eingehen wollen sie nicht. Was habe ich ihnen schon zu bieten? Eine eigene Wurftechnik? Am Ende liegen doch nur immer ihre Körper dort unten. Ich kann sie leider nicht schonen. Zuerst muß ich ihnen die Sachen bezeichnen, mit denen sie auf der Bühne zum Wurf kommen sollen. Bis sie nichts mehr haben und eben: sich selbst als Einsatz geben müssen. Und sie setzen alles ein, sich selbst und meine Worte, die sie oben draufhauen (wer braucht schon meine Worte?), eine reine Zugabe, die verhindern soll zu suggerieren, daß die Wesen auf der Bühne verschieden sind, denn mit der Verschiedenheit von Personen arbeite ich grundsätzlich nicht. Die Unterschiedlichkeit von Personen herzustellen, das überlasse ich Regisseuren wie Jossi Wieler. Ich kann das nicht. Ich kann mich mit dem Daß beschäftigen, mit Tatbeständen des Menschenmäßigen, als Sachverständliche, nein, das nicht, als Sachverständige mit dem Selbstverständlichen, was bedeutet, daß ich die Realität sowieso ausblenden muß, denn als Sachverständige verstehe ich  von der Sache nichts, was also bedeutet, daß ich, als erstes, mir irgendwo hole, einhole (aber woher, woher nehmen und nicht stehlen? Ich entscheide mich für stehlen. Es ist egal, denn die Menschen – es ist schon oft gesagt worden – sehen höchstens ihre eigenen Schatten, ohne sie als solche zu erkennen.  Warum soll ich mir also nicht ihre Schatten, ihr schattenhaftes Sprechen, das immer schon ein andrer vor ihnen gesagt hat, nichts als Schattenboxen, dieses Sprechen!, borgen und nicht mehr zurückgeben, warum nicht? Denn welche Figur auch immer beschrieben wird, sie muß sich selber ausgeben an etwas, das gegeben ist, und der Geber gewinnt nicht automatisch immer beim Kartenspiel), daß ich mir herhole, was Sache ist (ich muß sie mir mit aufgesetzter Sonnenbrille holen gehen, damit ich sie ausblenden kann, ohne vorher von ihr geblendet zu werden), jedoch muß ich als nächstes öffentlich dementieren oder eher: ausblenden, daß die Taten, die gesetzt werden, die Taten einzelner Menschen sind. Ich sage das Sprechen, und es ist das Sprechen anderer, die, von mir aus, und von mir aus gesehen sowieso, austauschbar sind. Denn diese Menschen soll ja jemand wie Jossi Wieler aus dem Sprechen andrer, das mein eigenes geworden ist, erst erschaffen, dem Selbstverständlichen das Raumartige verleihen, es in einen Ort stellen und eine Konstellation herstellen, in „er nicht als er“ ein Schweizer Altersheim mit einem einzigen Bewohner und dessen fragwürdigen, fraglichen, fragefreudigen Besucherinnen, wer hätte sich so  eine Konstellation vorher vorstellen können oder hinterher nachstellen können? Das Was ist es eben, das dazukommen muß, und es muß immer von einem andren kommen als von mir, von jemand, der dem, was ich hergestellt habe, unvoreingenommen begegnet und es mit etwas ganz anderem, als ich je gedacht hätte, einnehmen kann, damit die Sprache meiner Figuren entweder gezügelt oder angespornt wird, damit die Figuren auf der Bühne lernen, und zwar am liebsten das Nichtgelingen, sonst müßten sie ja überhaupt nicht lernen. Das ist seine Aufgabe, die des Regisseurs, das Was und das Wie, das Steuern dessen, daß da jemand oben ist oder nicht. Ich mache das nicht, dieses Steuern. Ich schaue mir lieber z.B. in Jossi Wielers Inszenierung der „Mittagswende“ an, wie ein Boot gesteuert wird, auf dem sich Gestrandete vor dem Schiffbruch befinden und was sie sich dabei als ihre Wahrheit denken und was sie als Wahrheit aussprechen. Aber daß man diese Wahrheit als alles andre denn wahr erkennt, das muß der Regisseur erzeugen, er muß erzeugen, daß man merkt: diese Wahrheit ist erzeugt worden. Sie ist nicht verschwiegen worden. Bei Claudel spricht ja das Schweigen, bei mir schweigt das Sprechen nie. Das Sprechen sind die Personen, deren Verhalten und deren Verhältnisse erst der Regisseur macht. Und die Personen muß er dann auch noch herstellen, nachdem er ihre Verhältnisse zueinander bestimmt hat. Ich habe nur ein einziges Verhältnis, das zur Sprache. Ich mache ja nicht das, was Menschen sind oder tun, zu meinem Thema, sondern das, was das Gleiche an ihrem Handeln ist, die Struktur ihres Handelns, also wonach sich die Figuren verhalten, ohne zu sein. Sie sind da, aber sie sind nicht. Meine Figuren gibt es nicht. Trotzdem, von irgendwoher müssen sie ja kommen, irgendwer muß ja zu Hause sein, wenn schon mal angeklopft wird, und meine Worte sind das, womit ich die Wurfgeschosse derer ausstatte, die grade auf der Bühne zu Hause sind, damit sie treffen, die Geschosse. Der Gehalt der dramatischen Handlung, der von meinen Figuren gesetzt wird (nicht die Handlungen werden von ihnen gesetzt, sondern der Gehalt, das, was in ihnen drinnen ist und was dann aus ihnen heraus agiert, ohne daß sie das wollen und oft, ohne daß sie es überhaupt wissen oder merken!), der Gehalt also schaut aus diesen Wesen heraus, und zwar dort, wo der Kopf hingehört hätte, den sie schon, nein, nicht unterm Arm, sondern auf der Zunge tragen, eine umgekehrte Revolution, in der den Leuten alles abgehackt wird, nur nicht der Kopf, denn etwas muß ja sprechen. Und sie sprechen, wie gesagt, immer, meine Figuren. Außerhalb ihres Sprechens existieren sie nicht, und ich verweigere auch die Illusion, daß sie außerhalb dieses Sprechens auch nur existieren könnten. Ich bin Damen- und Herrenausstatterin. Ich statte mit Sprache aus, die alles ist und sein kann, ja, unter Umständen sogar nur Beigabe, unter Umständen, die der Regisseur herzustellen hat.

Jossi Wieler macht alles, denn er kann Menschen machen, was mir leider verwehrt ist, ich weiß nicht, von welcher Instanz. Er kann eine Bühnenperson von der andren abgrenzen, ohne daß er das, was sie ausmacht, definieren müßte (ich verweigere dieses Definieren aber auch, wir verweigern einander gegenseitig vieles, damit etwas entstehen kann!), nur: Wenn er es verweigert, entstehen bei ihm trotzdem Menschen, ohne daß er von ihnen behaupten würde, sie existierten. Muß er auch nicht, jeder sieht doch, daß sie da sind, weil sie irgendwo entsprungen sind, das heißt, weil sie ihren Ursprung im Hinblick auf ihre Bestimmung als eine Figur bekommen haben, die als natürliches Produkt, als Mensch (leider manchmal verunreinigt) in der Wildbahn vorkommt, die öfter einen Unfall hat, weil niemand ihre Schienen pflegt, mit seinem Hämmerchen abklopft (auf was auch immer), die Schienen, auf denen die Existenz dahingleiten sollte, so wäre es für sie vorgesehen. Das ist es vielleicht bei diesem Regisseur, das ist vielleicht der Punkt, verfertige ich jetzt einen fortschreitenden (nicht weiterführenden!) Gedanken: Er bestimmt Menschen auf der Bühne, und sie sind Menschen, indem er sie dazu bestimmt, für Gleisarbeiten an der Wildbahn ist da keine Zeit, obwohl das wilde Tier Mensch es gern bequemer hätte. Der Regisseur bestimmt Menschen, obwohl es ihm wahrscheinlich egal ist, ob sie so, wie sie sind, überhaupt existieren könnten oder nicht. Sie sind im Grunde sehr normal und erscheinen vernünftig, also haben sie jedes Recht auf Existenz. Die Unvernünftigsten erscheinen noch vernünftig, die Vernünftigen allerdings genauso, aber nicht deshalb, weil sie vernünftig wären, wie soll ich es sagen, dieses Paradox fassen? Wie weit kann das Imaginäre, aber Beabsichtigte, also das absichtsvoll geschriebene Stück, überhaupt erfahren werden? Die Unvernünftigen sterben nicht aus, die Vernünftigen aber auch nicht. Wie kann das Unvernünftige wie das Vernünftige, wie können die Absichten von Personen in die Realität des Symbolischen einfließen, so daß sie wieder real erscheinen, ohne es zu sein, nein, falsch, ohne es sein zu müssen? Sie werden von diesem Regisseur in jedem Fall so gezeigt und gezeugt, als könnten sie existieren, weil einmal einer geschrieben hat, sie existierten so, wie der Autor sie bestimmt hat, weil er sie einmal so kennengelernt hat (z.B. eben in Claudels „Mittagswende“). Die Absicht dieses einen Regisseurs ist, nicht nach dem Sinn von etwas zu fragen, das ein Autor beabsichtigt hat, aber trotzdem Personen und Sinn zu konstituieren, das heißt, Realität zu schaffen, die Realität erst wird, indem man sie (Regisseure tun das normalerweise immer, aber dann scheuen sie das Normale, das im Außergewöhnlichen haust, sie wollen nicht, daß es herauskommt, bei Jossi Wieler ist es umgekehrt: Er prügelt, nein, bitte um Entschuldigung, er lockt das Normale aus dem Außergewöhnlichen heraus) ein zweites Mal betrachtet, und sie entsteht sozusagen sekundär, erst nach einer nachträglichen Bearbeitung durch einen anderen, der dem, was ist, sein Wesen gibt, nein, nicht sein Wesen (der Regisseur hält sich als Person möglichst raus, was aber auch wieder nicht geht), sondern etwas andres, das er mit einer Einstellung an seiner Stellschraube, welche am Gerät rechts angebracht ist, vom Publikum aus links, fixiert. Was gibt er also? Das Wesen dessen, was schon einmal, als Theaterstück, entstanden ist, kommt jetzt erst dazu und betritt seinen Raum (ich meine nicht, es kommt dazu, den Raum zu betreten, ich meine, es kommt hinzu und betritt den Raum), und die Realität entsteht, indem sich ein zweites Bewußtsein darauf richtet, ähnlich dem Vorgang, daß Natur erst entsteht, indem es eine zweite Natur gibt, die die erste längst überlagert hat, sie aber durchschimmern läßt, so daß die meisten Betrachter glauben, sie sähen Natur, aber was sie sehen, ist das, was sie in Naturfilmen gesehen und gelernt haben und jetzt über die Natur drüber projizieren. Das Benennen von etwas ist beispielsweise für mich sehr schwierig - eine Gegend für meine Worte finden, die ich doch auch selber erst finden muß (es hat sie mir keiner vorher zugeworfen!), bevor ich sie wieder wegschmeißen kann. Zu Haus hab ich ja keine Verwendung für sie. Können Sie sie mir nicht vielleicht einpacken, für später, die schönen Worte, die ich mir aufheben will? Nein. So, jetzt kommen sie also schon wieder wie diese wilden Tiere daher und schleppen die Kadaver herein, die sie erlegt und erledigt haben (dabei sind sie doch selber Beute, das haben sie wohl schon vergessen!), und spucken sie vor die Leute hin. Der Regisseur wartet. Er denkt, er wäre vorbereitet. Aber er ist auf alles, bloß nicht auf meine zusehends alternde Sprache vorbereitet gewesen, die da mit blutverschmierten erhobenen Händen (erhoben deshalb, nein, nicht erhaben, damit der Boden nicht dreckig wird, nicht mit Blut befleckt, nein, stimmt auch nicht: damit der harte Boden den verletzten Händen nicht wehtut. Der Soldat trägt dazu sein Kind, sein Sturmgewehr, auf den Armen, und die Hände müssen fürs Gewehr frei bleiben) herangerobbt kommt. Ja, das tut weh! Wen störts. Wen interessierts. Es tut ja nur mir weh. Sie ist nicht heiß, nicht kalt, diese Sprache, denn sie heißt nur so. Sie ist bloß umgefallen wie eine alte Frau. Alte Männer fallen anders, sie fallen immer ins Tragische, während alte Frauen meist ins Lächerliche kippen. Dieses armselige Wesen muß er erst mal irgendwie aufrichten, was schwierig ist, denn es ist ganz vom Fleisch gefallen und liegt den Figuren jetzt vor den Füßen herum. Sie fliegen gleich drüber, wenn sie nicht aufpassen, diese armen Figuren. Dafür erhebt der Regisseur nun seine volle Stimme. Da soll wieder Leben hinein. Was soll das? Ich versuche mit dieser heruntergerutschten ausgeleierten Sprach-Unterhose doch nicht etwa, z. B. das Politische, das einmal so berühmt war und jetzt leider verstorben ist, was es mit vielen Berühmtheiten gemeinsam hat, ich versuche doch nicht etwa Vorgänge, die sich selbst bereits tausendmal ausgesprochen haben, nur leider nicht miteinander, die überlagert wurden, nur leider voneinander, und zwar aus meinem hoch-stapelnden Mund heraus, etwas, das sich außerdem noch  tausendmal mit den anderen Menschen aussprechen durfte, was die Paarung mit ihnen bislang eigentlich immer recht gut ersetzen konnte, also, sags endlich, heraus damit, mach schon!: Ich versuche doch nicht, ausgerechnet sowas wie das Politische, das ich als Bedenkenlosigkeit gegenüber dem Nachdenken definieren könnte, aber auch ganz anders (Nachdenken über die Bedenkenlosigkeit anderer? Aufwecken der Besinnungslosigkeit, jaja, die Besinnungslosigkeit aufwecken!), ich versuche doch nicht etwa, na, endlich, jetzt kommts, jetzt kommts endlich heraus: das Politische zu fassen? Jetzt trau ich mich das, hinzugreifen, entschlossen, jetzt, da es längst weg ist (Brecht, Aischylos, Heiner Müller, Kroetz, Euripides, vorbei, nein, nicht schon wieder! Aber wenn, dann bitte mit Sahne! Und genau das ist diese unglaublich genaue „Alkestis“-Inszenierung Jossi Wielers eben nicht: Sie hat oben nichts drauf, aber sie hat alles drauf. Der Mythos als Familien-Konversationsstück, das Private als das Politische, meinetwegen, nehmen wir dieses ausgelutschte Bonbon nochmal in den Mund, obwohl man es vor lauter Bazillen gar nicht mehr sehen kann, und trotzdem bleibt dieses Private - und nur das Private des Jossi Wieler bitteschön!,  nicht das von einem andren Privaten! - immer noch Mythos, immer noch groß, indem es sich klein und alltäglich macht, keine Ahnung, wie ein Regisseur sowas schafft, wirklich keine Ahnung, aber das, was eigentlich weg ist, ist plötzlich wieder da, und es ist nicht durch die Hintertür hereingekommen)!  Na, das haben schon viele versucht, wenn auch in letzter Zeit nicht mehr so oft, da auch der Letzte kapiert hat, daß er der Letzte ist, das werde ich doch nicht noch einmal versuchen? Versuchen kann ichs ja, aber fassen werde ich es niemals. Dieses Fassen würde ja voraussetzen, erst mal von der Realität vollkommen abzusehen und sie damit erst herbeizulocken; neugierig schnüffelnd wie ein scheues Tier höre ich sie lang schon, bevor ich sie sehe, und plötzlich ist sie dann da, diese Realität, aber sie wird mit einem andren Bewußtsein als dem alltäglichen wahrgenommen, und das nicht nur, weil Leute eigens ins Theater gehen  müssen, um sich das anzuschauen. Nein, das versuche ich nicht, das Politische, also das Sein, das, was darunterliegt, unter den Interaktionen der Figuren, die also faktisch auf ihrem Sein dauernd herumtrampeln, zu fassen - da wär ich ja blöd. Warum soll ich denn die letzte sein, die das tut? Soll das heißen, es einzuwickeln, was ich, unzählige Worte schwätzend, die von meinen Figuren wie ausgeschwitzt werden, offenkundig zu versuchen scheine, was aber in Wirklichkeit, trotz der vielen Worte, die gewechselt werden (oder monologisiert, der Einfachheit halber, es ist eh egal, wer was sagt), letztlich doch wieder, trotz aller Wortkaskaden, ein reduktionistischer Vorgang ist, ein Hervorsprudeln, nur um die Quelle zu fassen, die man dann runterschmeißt, damit sie eine ordentliche Kaskade wird, wozu sie ein Gefälle braucht, die Quelle also zu fassen, bis man sie in einer Hand zerquetschen kann, und das Wasser, das ja irgendwie raus muß, einem die Finger überspült, in gefaßter Fülle? Wasser. Unfaßbare Fülle, die dennoch gefaßt werden muß, damit sie was hergibt und irgendwem was nützt. Es nützt aber nichts. Es nützt sich alles nur ab. Ich habe etwas geschrieben, um der Realität auf die Schliche, um der Realität aufs Reale zu kommen, was ich gerne bestimmen würde, mit meinem Realitätenbestimmungsbuch, in dem die Preise der Grund-Stücke verzeichnet sind, denn alles hat seinen Preis, ich habe es wieder nicht geschafft, Realität zu schaffen, wieder nicht, kein Leben, keine Realität, aber bitte, Sie können doch wirklich das Wirkliche meiner guten Absichten als Realität in Ihrem Bewußtsein verankern, seien Sie so gut! Diese Hose (auch von ihr war, glaub ich, schon mehrmals die Rede, oder? Aber das ist es ja: Es ist immer vom selben die Rede, nur ist es einmal so geschnitten und einmal so) hier z. B. hat keine Haltung und bekommt auch keine mehr. Ich weiß doch nicht einmal, was das ist, das Politische, aber was eine Haltung ist (eine gefaßte Quelle, die die Fassung ständig verliert), das weiß ich; egal, dieses Theater und dieser Regisseur Jossi Wieler geben mir jedenfalls meine Art Raubtier-Arbeitslager, wo sich die diversen stinkenden Teile inzwischen stapeln, weil keiner was davon brauchen kann. Es paßt keinem. Der Regisseur hat sich immerhin gerade gebückt, unentschlossen. Gleich schmeißt er wieder hin, was er da aufgehoben hat. Ich kann ihm nicht helfen. Ich habe ja kein Werkzeug (der Fuchs, der Wolf, die haben auch keins, die tragen ihr Besteck an sich, im Maul, und müssen alles damit zerfetzen und zerbeißen), um dem Zeug irgendwie beizukommen und endlich mit der Kleiderverteilung zu beginnen.

Ist das vielleicht das politische Theater, das mir hier von diesem Menschen Regisseur endlich ermöglicht wird, indem er mir alles nimmt und gleichzeitig alles gibt, nur etwas anderes, besseres, als ich vorher hatte, in einer besseren Ausführung, was nicht identisch ist mit einer besseren Aufführung? Leere in der Leere? Nachsagen des Nie-Gesagten? Des dauernd Gesagten? Endlose Wiederholungen des Beutemachens von sinnlos brüllenden Worten, und dann darf man, was man gefangen hat, nicht einmal selber essen, man muß es vor die Leute hinspucken. Iiieh, das blutet ja noch! O je. Das habe ich ebenfalls schon gesagt. Ich habe immer alles immer schon gesagt, bevor ich es überhaupt noch sagen konnte. Bevor ich überhaupt irgendwas sehen konnte. Mir doch egal. Ich verantworte es nicht, denn es ist je schon gewesen, na, irgendwo wird es schon gewesen oder passiert sein, was ich sage, ich muß es ja nicht persönlich kennen; es hat immer schon stattgefunden, bevor es beginnt, und ich wars nicht: Geschichte vielleicht, die die  Beziehung zwischen mir und meinem Gegenstand ist. Es kostet mich nichts, das zu behaupten. Viele Wolken? Ein einziges Heim, das sich selbst aus sich vertreibt? Ein Heim mit Wolken, das Jossi Wieler erzeugt hat, indem er Beziehungen hergestellt hat aus etwas, einem Text, der keinerlei Beziehungen unterhalten hat, am wenigsten unterhaltsame, und schon gar nicht zur Autorin (die meidet er ohnehin wie die Pest, obwohl sie seine Mutter ist, aber das ist das einzige, was man  mit einer Mutter tun sollte: sie meiden, sobald es geht), aber auch nicht zum Regisseur, und keiner von den beiden, Autorin wie Regisseur, hat die Frage nach irgendeinem Sinn gestellt, denn zuerst haben sie, wie gesagt, diese Quelle gefaßt, aber dann haben sie den Sinn durch das Abfließen des Wassers gemeinsam und einträchtig wieder verloren, nein: aufgegeben! Vielleicht könnte man sagen, daß wir beide, Jossi Wieler und ich, solche sind, die durch das Erzeugen von etwas von vornherein ständig aufgeben in dem Sinn, daß wir lang an etwas herumarbeiten, nur um es dann doch einfach: geschehen zu lassen, so wie Geschichte selbst eben geschieht, während sie die ganze Zeit die ihr vorgesetzten Geschehnisse in sich hineinmampft, egal, was ihr angeboten wird. Ich gebe auf, indem ich etwas hinfetze und es mir dann nicht mehr anschauen mag, er, Wieler, indem er sehr genau hinschaut, das Vorgegebene in immer kleinere Segmente einteilend, und es dann doch dahinfließen läßt. Ein Kind, das einen Bach aufstaut und am Ende doch nur die Steine aus dem Bachbett räumt, um die vorübergehend höhere Fließgeschwindigkeit zu beobachten. Aber bald ist alles wieder wie vorher. Normal. Dieses Aufgeben, das ich meine, geschieht nicht im Sinn von etwas auf die Post Tragen und Befördern, ins Abseits, egal, von mir aus auch Treffer landend, wenn zufällig die Adresse stimmt, aber es bleibt doch ein Aufgeben – mir fällt kein andres Wort dafür ein - , ein totales Aufgeben im paradoxen Sinn von etwas herstellen, indem man es läßt (aber in diesem Lassen - einem Seinlassen wie einem sein lassen - steckt sehr viel minutiöse Arbeit, denn Personen, Figuren, sogar von Figuren erzeugte Figuren, deren Sprechen geschrieben ist und meist schon irgendwo geschrieben war, bevor z.B. ich es schreiben konnte, haben kein Verhältnis, nicht zu sich selbst, nicht zu einem anderen, am allerwenigsten zu dem, der dieses Sprechen erfunden bzw. gefunden hat, er hätte dieses Sprechen ja nicht aufheben müssen, selber schuld! Aber wie macht Jossi Wieler das? Seine Gestalten auf der Bühne sind da, obwohl sie immer ganz weg sind. Sie sind, wie das Publikum, immer ganz Auge und ganz Ohr für das, was ihnen begegnet, obwohl sie nicht sind, sondern, wie gesagt, sein gelassen wurden, indem sie von diesem Regisseur überhaupt erschaffen wurden). Denn wenn ich gesagt habe, daß wir nach dem Was fragen, indem wir zeigen, daß etwas ist, so extrahiert Wieler aus meinen Texten, die sowieso ziel- und zügellos sind, eben unwissend, indem sie vorgeben, alles zu wissen, so extrahiert er also die Weise, wie sie sein könnten, die Figuren, die diese Texte sprechen. Denn diese fassungslose, nein, sie ist ja gefaßt, diese gefaßte Quelle also muß eben irgendwohin auch wieder abfließen. Vielleicht ist es so: Ich sehe zwanghaft, geradezu zwanghaft, von der Existenz meiner Theaterwesen ab, ich muß es tun, weil ich die Menschen nicht kenne und auch nicht kennenlernen will, nein, danke, ich hab schon, ich hab schon genug; aber ein Regisseur wie Jossi Wieler ist einer, der nicht nur das, was die Figuren da tun, erfindet und damit bestimmt, sondern auch die Existenz für die Figuren erschafft, während ich in meiner Autorschaft eben strengstens davon absehe, diese Existenz zu bestimmen. So ein Regisseur zeigt auf einem schlichten Hintergrund aus Sperrholz und Papier oder was das halt ist, was seine Welt ist, er zeigt, daß Menschen auf der Bühne einander nicht natürlich gegenüberstehen, weil er keinerlei Natürlichkeit für sie konstruiert, sondern er läßt die Personen, die er auf seine Nadeln spießt, einander als nicht natürlich erfahren, indem er ihre falsche Natürlichkeit auf natürliche Weise zeigt, mit der die Akte, die sie setzen, ihr Sein immer wieder total verschleiern, indem er diese Personen als gewissermaßen unnatürlich natürlich zeigt, wobei ihre Natur das, was sie tun, andauernd verschleiert und das, was sie da tun, ihre Natur verschleiert, bis nur noch Schleier zu sehen sind. Genau dafür brauche ich gerade diesen Regisseur: daß er verdeckt, indem er bloßstellt, oder bloßstellt, indem er verdeckt. Wie die Personen auf der Bühne SIND, das muß indirekt aus ihrem Verhalten erkennbar sein, das ich ihnen vorschreibe. Der Philosoph würde also, gemeinsam mit mir sagen: Ich (E.J.) mache das Daß, der Regisseur macht das Was. Die Kunst des Regisseurs ist es, dieses Was nicht als etwas Zufälliges, wie Menschen eben sind, sprechen und handeln, zu zeigen, sondern den Vorhang zu öffnen, indem er ihn zuzieht, die Quelle zu fassen, indem er sie zustopft, diese Quelle, die ja das Entspringen von etwas Durchsichtigem, von Wasser eben bedeutet, aus der also das hervorquillt, was fassungslos als etwas geschrieben worden ist, das niemals ist und niemals sein darf, was es gerade ist, sondern ein Etwas, das ausspricht, daß etwas ist, und zwar endlos, immer (die Nichtexistenz können wir uns ja nicht vorstellen, den Tod), allerdings nicht aus sich heraus, nicht von selber. Dieser Regisseur bestimmt Existenzen, und die Figuren, die er erschafft, lassen sich nicht mehr definieren als solche, die auch anders existieren könnten. Sie sind für diese eine einzige Aufführung definiert als die, die sie sind, während der Autor, die Autorin, die angebliche Autorität gar nichts bestimmt, in meinem Fall jedenfalls, ich bestimme nichts, es wird geredet und geredet, und meine Figuren könnten in jeder andren Weise auch noch existieren, solang sie nur weiterreden dürfen, denn ich sehe ja zwanghaft von jeder Vereinzelung ab. Während ein Regisseur wie Jossi Wieler eben, wie gesagt, Existenz bestimmt als ein Unverwechselbares. Also ein gegenläufiger Vorgang, der, wie alle Vorgänge, die einander knurrend angreifen, weil sie einander scheinbar ausschließen, ganz besonders produktiv ist: Das, was ich vage gemeint habe (und meist nicht einmal sprechenden Personen zugeordnet habe!), fließt quellenhaft in die Realität, die der Regisseur auf der Bühne schafft, ein, nicht als eine Ergänzung eines Textes, sondern als dessen Wirklichkeit. Meine Möglichkeitsform wird in die Wirklichkeit des Regisseurs gegossen, nicht ein Inhalt in eine Form, sondern eine Form von Sein (Wasser, Quelle!) in eine andre (Fassung! Abfluß!).  Es interessiert ja doch niemanden, und trotzdem darf ich es hier mitteilen, denn die Geschichte hat es mir persönlich in mein Mitteilungsheft geschrieben, das ist das kleine Buch, in dem das Verhalten des Kindes, mein Verhalten, von den Lehrern beurteilt wird, je nachdem, wie es mit anderen fleißig zusammenarbeitet oder nicht. Na, urteilen Sie selbst! Das Wort hat sein Herrchen längst verloren und schreit jetzt nach ihm, weil es nach Hause will, wo sein Fressen wartet, aber das ganze Fressen liegt noch auf dieser Bühne herum. Moment, vielleicht darf es ja hin, das Wort, das gute, und sich auch noch ein bissel was holen! Nachdem wirklich alle es schon gefleddert haben. Aber das Tier, das wüßte, wo ihm sein Fressen hingelegt wurde, das wäre kein Raubtier mehr. So bin ich auf der Bühne zahm geworden. Und das Wort ist zahm geworden. Es ist leider doch nicht Fleisch geworden. Allerdings: Welches Wort auch immer, ein wildes oder ein gezähmtes, es wäre sinnlos, bekäme es keinen Ort, wo es heraus darf und nach etwas schnüffeln und suchen, auch wenn es noch gar nicht weiß was, es weiß ungefähr wo, und dieser Ort befindet sich genau vor Ihnen. Schauen Sie hin! Sie werden ihn als: Die Leere sehen, nicht zu verwechseln mit Ihrer Freundin, der Lehre, aber die Geschichte ist sich natürlich viel zu gut, eine tiefe, auf Vertrauen gründende Beziehung mit mir eingehen zu wollen. Sie ist ja selbst noch nicht gegründet. Sie ist ganz unbegründet. Sie braucht das nicht, eine Beziehung, man streitet sich dann nur um das Programm, es sind auch schon zuviele in ihr eingegangen und verschwunden. Sie bittet darum, endlich verschont zu werden. Ich soll meinen Dreck alleine verantworten und mich nicht auf die langweilige Frau Geschichte berufen. Ich versuchs also ganz allein, was nicht meine Art ist, noch einmal, aber anders, denn inzwischen borgt mir niemand mehr ein einziges Wort: Dieses Theater dient mir dazu, Verschwundene sichtbar zu machen. Das ist der kürzeste Nenner, auf den ich das Wort bringen kann, damit es etwas anderes benennt als das, was ich schon weiß. Was weiß ich schon? Nicht ich weiß etwas. Es kann nicht ich sein, die etwas weiß. Es gibt mich ja gar nicht. Also muß ich wenigstens meinen Gegenstand benennen, oder nein, er benennt sich ohnedies ununterbrochen, indem er redet, redet, redet, und ihn hier vor Ihnen hinschmeißen, damit er endlich ruhig ist, was nie passiert. Die Unbekannte bin ich, aber keine Angst, mich müssen Sie nicht aus dieser einen Unbekannten errechnen, die Sie nicht kennen, aber gern kennenlernen würden, das lohnt sich nicht, schauen Sie sich lieber das an, was ausgerechnet ich, die gar nicht rechnen kann, mir ausgerechnet habe! Lauter gute alte Bekannte, das ist es nach all dieser Mühe geworden. Mehr nicht. Nichts Neues.

Und jetzt kommen hier also auch noch Bewegungen hinein ins Haus. Menschen setzen sich mit ihrem Einsatz dafür ein, sich mit etwas auseinanderzusetzen. Sie werfen sich in die Leere hinein, und wie schwätzende Kinder in der Schule werden sie dann wieder auseinandergesetzt, man trennt sie völlig willkürlich voneinander, damit sie sich nur umso heftiger mit etwas auseinandersetzen sollen. Diesmal ohne Ablenkung. Da wird, und alle müssen mitarbeiten, ein Theater aufgemacht. Der Regisseur (diesfalls, jedenfalls J.W.) ist aufgebracht, ich hab auch etwas gemacht, und für alles ist es vielleicht längst zu spät. Denn, wie gesagt: Die Leere wird immer nur einer andren Leere geöffnet, der Vorhang wird immer nur vor einem andren Vorhang aufgezogen, die Figuren sind sowieso immer aufgezogen, und dann wirft man von oben die Gestalten hinein, so wie ich als Kind mit den Glasfiguren diverser unvollständiger Brettspiele und Küchengeräten eine Bühne gebastelt und Stücke mit Mensch ärgere dich nicht-Figuren inszeniert habe. Vielleicht um endlich zu vergessen, daß ich nicht Ich war, daß es mich nicht geben durfte, daß ich nur in diesem Mich-Loslassen und Mich-in-kleine-Glasdinger Hineinwerfen existieren konnte. Das war meine sehr kleine überschaubare Leere. Meine täglich wechselnde Stimmung hat die Figuren gestimmt, bis sie mit einem merkwürdig dumpfen Ton aufgeheult haben, hilflos wie Glas, über das der Schöpfer, natürlich stets ich, mit dem Finger fährt. So war die Wahrheit in meinem Küchentheater sehr wechselhaft. Je nachdem, wieviel Wasser im Glas, wieviel Druck auf meinen Glasfiguren war. Wie das Wetter, das ich immer wieder bemühen muß, weil ich ja sonst nichts erlebe. Noch halb voll Regen. Wer hat es ausgerechnet in mein Bad hinein ausgeschüttet, wo ich doch nie was auszubaden habe? Inzwischen habe ich die Wahrheit, die ich meine, obwohl sie leider nicht meine ist, in mein jeweils Jüngstes Gericht eingebacken, das eine Ungewißheit ist, die ich diesem Regisseur weiterhin vorsetzen werde. Von mir aus kann nichts geschehen. Von mir aus wird nichts gesehen, auch wenn ich oben in einer Loge oder auf einem hohen Rang sitze. Hier wird aber immerhin zugelassen, daß etwas geschieht. Wo ein Wille, ist egal, dort unten ist jedenfalls der Weg, soll ich ihn vielleicht noch anstrahlen, damit Sie ihn sehen? So gut aufgelegt bin ich nun auch wieder nicht. Aber auch der Weg verliert sich in dieser Leere. Aus der Leere heraus die Leere eröffnen, damit man losrennt, das Glas in sich hinein ausrinnen läßt, nur um rechtzeitig dort zu sein, wo etwas geschieht. Das geschieht jetzt, und das können wir ja immerhin ein Stück probieren. Ein Stück lang, ein Stück breit. Endlose Leere ein Stück weit.

Für das Buchprojekt "Ensemblekunst - der Regisseur Jossi Wieler", im Alexander-Verlag
Foto: Münchner Kammerspiele

24.11.2006


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