Theatergraben

(danke, Corinna!)

Wer kennt schon die Welt so gut, daß er sie abbilden könnte? Ich jedenfalls nicht. Sie aber auch nicht, Sie glauben es vielleicht, aber Sie kennen sie nicht. Sie zeigt Ihnen immer nur ein bestimmtes Gesicht. Warum sollte also das Theater es versuchen, das gar nichts kennt, sondern nur aus dem schöpft, was die Zuschauer zu kennen glauben? Die wollen für einen Abend ihre Wachsamkeit an etwas festbinden, das sie sehen, nur um wieder ein paar Stunden nicht zu schlafen, denn sie wollen ja unterhalten werden! (angeblich die einzige Todsünde des Theaters: das Publikum zu langweilen!). Unter diesem Halt ist aber keiner. Wenn man glaubt, man hat jetzt den Haltegriff für die Unterhaltung gefunden, dann rutscht er einem unter den Händen gleich wieder weg.  Man muß also vielleicht seine Tageswachsamkeit, alles was man von sich und anderen weiß, eben wieder losbinden. Dann wird man, übernächtig vom Tag, der ja gar keiner ist, übermächtigt, nein, überwältigt vom Sein andrer, die es nicht gibt und nie gegeben hat. Heute geben wir einmal den Don Carlos, aber wir haben ihn ja gar nicht. Peinlich. Figuren auf dem Theater, deren Sprechen es aber auch nicht gibt, die werden gewünscht, aber sie sind nicht erwünscht. Es ist ihnen gegeben worden von solchen wie mir, die auch nichts wissen. Die manchmal, wie in meinem Fall, noch viel weniger wissen als jeder einzelne, der zuschaut. Ist dieses Losbinden ein Sprung, der vermeintlich zu den Figuren rauf auf die Bühne geht, oder ist es ein Sturz in den Graben? Funktioniert Theater überhaupt erst, wenn man alles losläßt, vielleicht sogar wegwirft, sich selbst und das, was man sieht? Indem man verzichtet, in diesen Figuren irgendetwas sehen zu wollen? Die an uns mühsam festgebundene Wirklichkeit, die uns nicht leiden kann, denn sie hat uns auf dem Buckel und wir sie, und wir mögen sie meist auch nicht, aus demselben Grund, die an uns festklebende Wirklichkeit durchmächtigt uns, wir werden sie nicht los. Sie hat uns durch einen Strohhalm, an den wir uns doch klammern wollten, ausgetrunken. Aber wir können sie vielleicht, im Wissen, daß wir sie nicht loswerden, auf die Bühnenfiguren werfen, bevor wir ganz leer sind. Bis die dann vor Verzweiflung in den Abgrund springen, weil sie das alles nicht aushalten können, was wir von ihnen erwarten, ja verlangen.  Was wird denn da immer verlangt? Daß Wirklichkeit abgebildet wird? Da doch jeder einzelne Theater-Wiedergänger im Publikum seine Wirklichkeit, die er gar nicht kennt, auf diese Figuren schmeißt, von denen er nichts wissen kann, weil er gar nichts wissen kann, weil er über nichts etwas wissen will. Sich unterhalten, das will er. Aber er hat nichts, worüber er mit sich selbst reden könnte, er hat für diese Unterhaltung keinen Widerpart, nur Parts, die von andren Leuten gespielt werden. Da haben sie keine gute Partie mit sich und mit denen dort oben gemacht. Von denen werden sie zum Beispiel oft angespuckt, wenn sie vorn sitzen und die dort oben gegen die Bande krachen.

Theater müßte eine Art Verweigerung sein. Das kann doch nicht so schwer sein, wenn man davon ausgeht, daß keiner was weiß, aber jeder glaubt, etwas zu wissen. Warum dann nicht gleich alles zurückhalten (zurücklassen, wie eine müde Geste mit der Hand, es soll alles gehen, denn es geht sowieso alles. Alles ist möglich, damit hat schon die Klassenlotterie geworben, die den Leuten suggeriert, sie könnten mittels eines harten, aber neuen Loses, das nicht ihres ist, aber ihres werden könnte, die Klassenschranken überwinden, wenn sie dieses Los nur erst kauften, aber wenn sie es nicht kaufen, dann haben sie nur ihr altes altbackenes hartgewordenes Los)? Warum nicht ein Theater der Zurückhaltung, wo Fremde zu Fremden Fremdes sprechen,  nur aus andren Mündern, die auch fremd sind, aber wissen, was ein andrer gesagt hat? Fremdes sprechen, das nur irgendwann einmal einem vertraut war, der darin zu Hause war? Es ist alles längst gesagt. Warum sollte ausgerechnet das Theater also etwas abbilden, das jeder zu erkennen glaubt, aber keiner kennt, denn wer versteht schon sein eigenes Leben? Es ist alles unverständlich, erst recht dieses eigene Leben, wo wäre denn sein Erklärer, sein Nachhilfelehrer? Das Theater wird das sicher nicht machen, dem wird zuwenig gezahlt dafür. Wenn der Zuschauer aus dem Nichts schöpft, das er auch nicht kennt, denn es ist bodenlos, und keine Taschenlampe reicht bis auf seinen Grund, warum sollten dann die Bühnenfiguren aus einem Leben schöpfen, das keiner je gesehen hat, und hätte er es gesehen, könnte er es nicht verstehen? Und sogar die Verweigerung des Theaters, etwas wie Wirklichkeit vorzuführen, ja, auch das ist schon oft gemacht worden, also auch die Verweigerung, etwas zu zeigen, zu beherbergen, nein, herzugeben, nein, hinzugeben, das man nicht kennt, diese Verweigerung besteht ja nicht in einer Art Enthaltsamkeit (man bittet die Leute ins Theater und dann zeigt man ihnen: gar nichts), sondern eben in diesem Sprung in den Abgrund, der sich über die Macht hinwegsetzt, etwas sehen zu wollen, etwas gezeigt zu bekommen, und das ist dann aber kein Sprung in die Ohnmacht, keinesfalls. Bitte, man ist vielleicht ohnmächtig, wenn man vom Geschehen auf der Bühne überwältigt wird, aber man vergißt (weil man ja in der Ohnmacht alles vergißt, wenn auch nur kurzfristig), daß es ja das eigene Leben ist, von dem man, wie gesagt, nichts weiß, das man da wegwirft, um Bühnenpersonen stattdessen das eigene Leben weiterführen zu lassen, während man ohnmächtig ist (was man sowieso ist, nur weiß man es oft gar nicht, wie sollte man auch, man ist ja eben: ohnmächtig). Man ist ohne Macht, aber man weiß, daß da etwas ist, das man an fiktive Personen, die von realen Personen verkörpert werden, weitergibt, zur Verleugnung der Ohnmacht? Über die Ohnmacht hat man ja keine Macht, sonst wäre sie ja Macht und man würde ein Theater nicht brauchen. Man wäre man selber und könnte bestimmen, endlich. Da man selber, der man nichts von sich weiß, ich sagte es schon oft, aber es ist immer noch wahr, da man selber also jederzeit die Enthaltsamkeit, die Möglichkeit, etwas nicht zu tun, was man tun könnte, verweigert, man will ja möglichst viel Leben in möglichst kurzer Zeit einfangen und dann gefangenhalten, denn Besitz bleibt einem nicht freiwillig, und das Leben schon gar nicht, ist der Sprung über den Graben und auf die Bühne unvermeidlich geworden. Er ist nicht mehr zu umgehen. Alle Auswege sind versperrt. Da man ohnmächtig ist, merkt man auch das nicht, aber man weiß auch in der Ohnmacht: man will wieder Macht. Wieder an die Macht kommen, um jeden Preis. Und wären es nur Figuren auf der Bühne, die an unserer statt damit ausgestattet werden, aber nur, weil wir es ihnen erlauben. Das ist unsre Macht. Eher klein, finde ich, aber gut, wenn Sie unbedingt wollen...

Besser, wir springen selber auf die Bühne oder wir werfen das, was wir von uns nicht wissen, aber zu wissen glauben, hinauf zu denen, die auch nichts wissen, aber uns das widerspiegeln, was wir zu sein glauben, wenn wir von unserem wahren Sein (das muß es doch geben, das wahre Sein, aber wo, aber wo?) schon nicht wissen können. Wir wissen nur, daß es ist. Wie es ist, das wollen wir gezeigt bekommen, nicht um es nachzumachen, sondern um überhaupt eins zu bekommen. Fremdes Sprechen eilt unaufhörlich dahin, es kann und darf sich nicht aufhalten, dort kommt schon das nächste Sprechen, von einem anderen. Keiner weiß etwas, aber sie sprechen alle, so wie nachher die, die auch nichts wissen, sprechen werden, als wüßten sie etwas. Und die Verweigerung wäre vielleicht noch geschwätziger als all die Worte es überhaupt sein könnten. Da fügt sich auf der Bühne Fülle zu Gefühlen und Gefühle wieder zurück zur Fülle, die wir in uns hineinstopfen, aber es paßt nie zusammen, weil es aus dem Nichtwissen ins Nichtwissen platscht wie eine Kröte, die oben von einer Krähe aufgepeckt worden ist, die der Kröte etwas Leben herausgefressen hat, wählerisch, denn sie nimmt nur die Teile, die ihr am besten schmecken, die Leber, die hat schon dem Adler an Prometheus am besten geschmeckt, und es gibt ja soviele Kröten, und auch wir müssen sie immer wieder schlucken, wozu?, und irgendwann platzt die Kröte dann, wenn sie sich aufbläht. Ihr Leben kommt durch dieses kleine Loch heraus, das die Krähe gepeckt hat. So ist es vielleicht mit dem Theater. Keiner weiß etwas, aber aus einem winzigen, unsichtbaren Loch, das ein gieriges Tier gebohrt hat, das unser Sein will und sogar unsere Enthaltsamkeit will und sogar das will, was wir überhaupt nie gewollt, aber trotzdem gemacht haben, und sogar das will, was sonst keiner will, und sogar das will, was der Ohnmächtige freie Entscheidung nennt, nur weil er sich dran klammert, aber in der Ohnmacht muß er natürlich alles loslassen, also aus einem winzigen Loch, das von einem Tier stammt und in ein andres Tier hineingemacht wurde, entweicht vielleicht etwas, ein heißer kleiner Dampfstrahl, ein wässriger Blitz zwischen viel fremdem Sprechen und viel fremdem Sprechen, das man für eigenes ausgibt, und viel Geld, das man nicht auszugeben hat und überhaupt, dieser kleine dünne heiße Strahl, der ist es vielleicht! Aber der hat so einen Druck drauf, daß er sich nie zu einem Ganzen fügen kann, damit man das Kind mit dem Bad ausschütten könnte, denn ein ganzes Bad kommt durch diesen winzigen Strahl nie zustande, da müßte man ja Jahre im Theater sitzen, ununterbrochen, ja, vielleicht ist es genau dieser sehr dünne heiße Strahl. Wenn die Wanne dann voll ist, ist es uns zu heiß. Oder zu kalt, weil das Einlaufen so lang gedauert hat, und wir wären doch gern zumindest so groß geblieben wie wir einmal waren. Und ich kann immer noch sagen: aus mir kommt er nicht! Ich wars nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts.

8.5.2005


Theatergraben © 2005 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com