Ivan Nagel

 

Ich möchte gerne einen gewissen Zärtlichkeitsruf, wie Robert Walser sagen würde, in dieses Grab schicken, einen Ruf, vielleicht leisen Schrei, wie man ihn unwillkürlich ausstößt, wenn man sich irgendwo oder an irgendwas wehgetan hat, an einer Ecke, einer Kante, ja, so einen Ruf möchte ich gerne abschicken, die Adresse ist mir ja jetzt bekannt, und Robert Walser war eins der wichtigsten Themen, das ich mir ausgewählt hatte, als Ivan Nagel mich damals nach Salzburg geholt hat. Als Dichterin zu Gast, wie die Reihe hieß, die er begründet hatte. Aber Gast ist Ivan nicht in diesem Loch, er bleibt dort, man kann es kaum aushalten, daß jemand, irgendjemand, stirbt, aber in diesem Fall ist die Tatsache, daß Ivan tot und jetzt endgültig verwahrt ist, schwer auszuhalten. Die Erde sei ihm leicht, sagte man früher bei Begräbnissen, aber in diesem Fall wird sie es sein, leicht einem Leichten, der Schweres getan hat. Er war jemand, der für mich zu Lebzeiten nur schwer zugänglich war, und so scheine ich es kaum ertragen zu können, daß ich jetzt überhaupt keinen Zugang zu ihm haben soll, zu einem Mann des Geistes (wenn das je auf einen Menschen gepaßt hat, dann auf ihn), der für mich auch ein Mann des Rätsels war, des Rätsels der Kunst, aber auch seiner selbst. Stimmt das denn auch? Ich habe keine Ahnung. Zwei Dinge, die in einem Menschen zusammengestoßen sind und nicht aufzulösen waren, das Schwere und das Leichte, was bei Ivan zusammengekommen und zu einem einzigen geworden ist, das ich nicht benennen kann, aber was kann ich schon! Benennen kann ich gar nichts.

Das Rätsel der Kunst ist von einem Mann aufgelöst worden, der selber ein Rätsel geblieben ist. Für mich zumindest, ich habe ihn ja nicht gut gekannt, ich kenne niemanden wirklich gut. Es ist aber nicht so, daß ich einen Bogen um diesen Menschen gemacht hätte, doch, es ist so, eine Art Vermeidung aus Scheu vor seinem unglaublichen Wissen, mit dem Gegenstand Kunst, Theater, und diese Gegenstände waren für ihn immer ein sinnliches Vernehmen, nicht ein sinnliches Einvernehmen, denn er hat sich nie mit seinem Gegenstand gleichgesetzt oder sich wohlig in seinem Wissen (als einziger, der weiß!) gesuhlt, er hat nie Distanz zu diesem Gegenstand gehalten, aber er hat sich auch nie an ihn angeschmiegt. Es war ein seltsames, eben: schwebendes Dazwischen, und das Dazwischen hat ihn dann ganz umgeben. Ein Mensch, der die Dinge unglaublich genau erfaßt und gefaßt hat, aber dieses Erfassen hat ihn mir nicht nähergebracht, sondern in eine Entfernung, aus Scheu, aus Berührungsscheu, ja, einer, der so viel berührt hat (und den so viel berührt hat), konnte, zumindest von mir selber nicht berührt werden, weil all diese Dinge und Stücke und Inszenierungen, die er untersucht hat, einen Raum geschaffen haben, in den ich nie einzudringen gewagt hätte, und in den man vielleicht wirklich nicht eindringen konnte. Ein Fremder, der gekämpft hat, kein Fremder mehr sein zu müssen, buchstäblich. Und in diesem Kampf, seine Anwesenheit in Deutschland und im Deutschen zu legalisieren (was für eine Ungeheuerlichkeit, daß einer wie er darum kämpfen mußte!), hat er mit einem sanften und doch unglaublich präzisen Griff die Dinge gefaßt und gleichzeitig (immer für mich!) einen Raum geschaffen, der die Menschen, die Welt von sich ferngehalten hat, eine Leere, die nicht zu füllen war, indem er sie ständig gefüllt hat, immer anwesend war, wenn es etwas zu sehen, zu hören gab, das ihn interessiert hat, wenn er sich für andere eingesetzt hat, die ihm wichtig erschienen sind, ja, auch für mich. Das ist nur scheinbar paradox, daß einer sich auf das sinnliche Vernehmen mit Kunst verlegt hat, gleichzeitig das Einvernehmen mit jemandem wie mir (ich bin da vorsichtig, weil ich nicht weiß, mit wem er wirklich eng und freundschaftlich verbunden war und wenn, mit wievielen) hergestellt hat, ich aber immer vor diesem Einvernehmen zurückgewichen bin, ja, aus Scheu, um nicht zu sagen Ehrfurcht. Das Theater ist ein flüchtiges, vorübergehendes Erlebnis, wie das Leben, das im Erlebnis drinnensteckt, sich mit hineingezwängt hat, ob das Erlebnis nun das Leben vertragen hat oder nicht. Und während man es noch erlebt, stirbt etwas in einem, der das beschreiben soll, es stirbt das Ereignishafte, das Einmalige des Erlebens, doch etwas andres bleibt, das dann beschrieben wird, ich kann es nicht benennen, etwas bleibt übrig, und wäre es eine Leere, in die etwas hineinragt, aber Ivan Nagel konnte es, und er hat es benannt und aufgeschrieben.  Das Flüchtige (eines ehemaligen Flüchtlings!), die Luft, ein Element, das ihn umgeben hat und mich daran gehindert hat, ihm näherzukommen, das war er, und das war auch das um ihn herum. Es war eine große Ehre für mich, daß er meine Büchnerpreis-Rede gehalten hat. Er hat darin davon gesprochen, daß bei diesen Salzburger Festspielen, zu denen er mich geholt hatte, jemand mein (sehr großes) Foto von der Mauer des Festspielhauses gerissen hat. Wo einmal etwas war, da war es jetzt leer. In meinem Land hat das niemand zur Kenntnis genommen. Vielleicht hat sich Ivan dieses Entfernen von etwas, das einen stört, das man nicht mag, deshalb zum Anlaß genommen, weil er ein Sensorium hatte für das Fehlende, eben: die Leere. Doch, indem er sie mit seiner immerwährenden Liebe zur Kunst, zu jeder Kunst, aber natürlich zu jener ganz bestimmten, die er dann auch genau definieren und analysieren konnte, gefüllt hat, ist er selbst in die Unfaßbarkeit zurückgewichen, ja, er war im Er-fassen im wahrsten Sinn des Wortes selbst ein Unfaßbarer geworden, je mehr er sein Thema, seinen Gegenstand fassen konnte. Als würde er die Werke der von ihm geliebten und bewunderten Künstler an sich raffen, und gleichzeitig entstünde um ihn herum ein immer größer werdender Raum der Leere, er hat sich ja alles genommen, was er gewollt und gebraucht hat. Und dann war er selber ent-rückt, genauso wie das, was er sich genommen hatte. Da muß ja etwas bleiben, nicht im Sinn von: das Bleibende, sondern eher die Leere, nachdem man etwas der Packung entnommen hat. Während er noch die Kunstwerke zurechtgerückt hat, war er selbst ein Entrückter, weil der leere Raum um ihn herum sich immer mehr vergrößert hatte. Jemand, an den man nicht rühren konnte, also so habe ich ihn empfunden. So wie, frei nach Hölderlin, das, was nahe dem Ursprung wohnt, schwer den Ort verläßt, so hat Ivan Nagel diesen Ort immer wieder geschaffen, diesen Ursprung, und von dort hat er den Sprung gewagt, da er ihn im Gehen nicht verlassen konnte. Da er ihn einmal, zum  Verlassen des Ortes gezwungen, der ursprünglich seiner war, eben verlassen mußte. Danach war alles Der Ort, nur er selbst war fort. Was er mußte, das hat er seit damals getan, weil er nie mehr etwas tun wollte, was er mußte. So war das, was er tun wollte, auch das, was er tun mußte. Vielen Dank für alles. Er ist mir jetzt im Tod genauso fern wie er es im Leben war, und das ist mir doch ein Trost. Es hat sich alles geändert, weil sich nicht viel geändert hat.  

 


Ivan Nagel
(Foto: Jakub de Chyzy)

 

20.4.2012

 


Ivan Nagel © 2012 Elfriede Jelinek

 

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