Musik und Furcht

einige Überlegungen zu "Inseln" von Olga Neuwirth

In der Oper wohnt, manchmal unvorteilhaft, weil das Haus zu klein ist, die Musik. Freiwillig geht die dort nicht raus, denn den Fühlenden und Denkenden ist Text und Handlung zu bieten, und da sind Personen, die unsere Zufriedenheit empfindlich stören, etwa wenn Isolde den Liebestod stirbt. Olga Neuwirths Oper "Bählamms Fest" hat die Erscheinungen, die sie auf die Bühne geschickt hat, eine Weile beobachtet, und dann hat sie sie hinausgeworfen, obwohl das Textgefängnis sie bis zum letzten Moment mit Gittern verzweifelt zu umklammern versucht hat.

Diese Oper mußte also einige ihrer Teile auslassen, die dann als Inseln forttreiben durften. Wie weit ragen Eis/Schnee-Inseln in den Raum hinein, und was bleibt unter Wasser, um die Inseln aufrecht halten und, falls nötig, Schiffe aufschlitzen zu können? Die Inseln Olga Neuwirths schleppen unterirdisch, wie die Schwerter dieser Schiffe, vieles mit sich, das man nur andeutungsweise, in Umrissen, mehr erahnen als erkennen kann, aber man kann oft nicht sagen was wichtiger ist, das was man sieht/hört oder das andere. Diese Musik hat Submusiken (Subtexte), die sie mitschleift wie ein Gespenst die Fetzen seiner Leintücher. Meist wird es dann unheimlich, und man fürchtet sich. Die Oper "Bählamms Fest" kommt ja aus der Tradition der Gothic Romance (und der traumhaften Unlogik der Surrealisten), spielt mit ihr, ironisiert sie auch, und sie spielt auch in ähnlicher Weise mit der Zeit, die vergeht, das Heimliche spielt mit dem Unheimlichen (in diesem Fall das Heim mit dem Draußen, und beides fließt dauernd ineinander), und wenn man sich fürchten soll, dann muß man das, was einen bedroht, hinter dem Schranken der Vernunft auch herauslassen, und man muß auch das, was einen in der Zukunft einmal bedrohen könnte, erst einmal heranlassen, um es zu erkennen, bevor man sich überhaupt fürchten kann. Sonst wäre da ja nichts Unheimliches.

Das Ironische in der Musik und das Unheimliche. Beides ist Olga Neuwirth eine Herausforderung, aber auch für eine Herausforderung muß man erst einmal sehen, wer oder was der Gegner ist. Wovor hat man Angst? Dann kommt die Angst selbst und dann, worum es geht bei all der Furcht (es kann auch etwas sein, das schon einmal geschehen ist und die Möglichkeit der Wiederholung in sich trägt). Und die Musik schafft es, daß alles gleichzeitig abläuft, daß eine Opern-Chronologie (und was für eine! Die Handlung dieser Oper ist sogar so kompliziert, daß man sie nur sehr umständlich nacherzählen könnte, aber das hat natürlich in erster Linie mit dieser Raum-Zeit-Struktur zu tun) nein, nicht plattgemacht wird, auch nicht zu einem Teig gewalkt oder zu einem Wäschestück flachgebügelt, sondern daß dieser zeitliche Hintereinander-Ablauf zu einer Struktur wird, die eine Befindlichkeit ausdrückt, eine psychoanalytische und eine analytische solo. Innere und äußere Kälte der Menschen, Grausamkeit und Unschuld der Tiere und Schönheit der Natur, verlorene Kindheit und gleichzeitig ihr Wiederfinden im hohen Alter. Zerbrechliche, fragile Glasklänge und das Toben und Brüllen des Entsetzens, einträchtig nebeneinander. Musik kann ja nicht sagen, was ist, Musik sagt, zumindest bei Olga Neuwirth, durch sich, wenn sie Schrecken beschreiben möchte, was da geheuer und was ungeheuer ist, und sie sagt es in einem, im gleichen Atemzug. Und sie hält sich nicht damit auf, daß sie sagt was ihr im Fürchten begegnet und wovor sie wieder wegläuft; ich glaube, diese Musik läuft vor sich selbst weg. Es ist ein gleichzeitiges Fortlaufen und Bleiben, im Verstreichen der Zeit, die aber keine heilende Salbe ist. Sie braucht letztlich keine Wer-Wölfe, diese Musik, die über die Heide schnüren, keine Schafe mit zerbissenen Kehlen, keine schönen Frauen, die unter dem Terror männlicher Normalität zusammenbrechen und sich bis zu ihrer völligen Selbstaufgabe Tierwesen verschreiben, die wiederum halb menschlich sind. Diese Musik kann in sich selbst herstellen was furchtbar und bedrohlich ist, sie kann hören lassen, woher es kommt, was da so furchterregend ist, und sie kann einem geheuer und ungeheuer zugleich sein, und sie kann die Flucht vor sich selbst sein, ohne daß diese Flucht ein Fliehen wäre, denn man bleibt ja, und die Musik zieht an einem vorbei. Sie naht heran und sie ist die Nähe selbst. Olga Neuwirths Musik ist, und das ist das eigentlich Bedrohliche für mich, ein ununterbrochenes Herankommen, aber gleichzeitig Fernbleiben, sie bleibt von sich selbst verhüllt. Das ist ja das Furchtbare: daß, was da ist oder war oder sein wird, verhüllt ist, aber man weiß: es ist furchtbar. Man kann ihr begegnen, bevor sie einen trifft, diese Musik, aber ausweichen kann man nicht. Da ist eben dieses unaufhörliche Herannahmen, das nie ankommt, man hebt schon die Hände, um wenigstens das Gesicht zu schützen, aber es ist nicht da. Es nähert sich, aber es ist nicht da. Es ist entsetzlich, aber es ist nicht da.

Die Kinderlieder zum Beispiel, da ist das ganze auf die Spitze getrieben: unklare, ferne Klänge - dazu eine live-elektronisch veränderte und in den Raum projizierte Tuba -, Klänge, die ihre kleinen Händchen ausstrecken, um sich zu Melodien zusammenschließen, grad nur an den Fingerspitzen, jeden Augenblick können sie einander wieder verlieren, es sind Melodien, die es schon vorher gegeben hat und durch Olga Neuwirth jetzt wieder gibt  (fragmentierte Kinderliedermelodien von Mordechaj Gebirtig: "huljet, huljet kinderlech, kolsmar ir sent noch jung, wajl fun friling bis zum winter is a kaznsprung" und andere), ein Gleichzeitig der Lieblichkeit von Kinderjahren, die in der Erinnerung geblieben sind, obwohl die Barbarei und Brutalität sie längst ausgelöscht haben. Durch die Verlangsamung des Tempos (als ob alles in Zeitlupe ablaufen würde) entsteht ein Netz aus Jetzt und Vergangenem, das sich in sich selbst fängt, denn das Grauen ist eben das Herannahen einer Nähe, es würde einem ja nicht grausen, wenn dieses Herannahen Nähe nicht ständig suggerieren würde, aber eine Nähe, die halt ununterbrochen nah ist, aber nie zu einem Da wird. Nur Musik kann so etwas, und Olga Neuwirth kann das auch mit ihrer eigenen Kindheit, weil sie eben die Musik dafür hat, eine Kindheit, die für sie Freiheit und Spiel bedeutet, und sie sehnt sich danach zurück; die Musik weiß aber, daß sie dort nicht mehr hinkann, und daß auch Olga nicht mit ihr dorthin zurückgehen kann. Auch eine der vielen Möglichkeiten des Un-Heimlichen: Nicht nur, daß das, was naht, schrecklich ist, weil es nie da ist, sondern auch daß das, was war, ja jederzeit sein könnte, aber nicht ist. Musik ist die Kunst der Gleichzeitigkeit aller Möglichkeiten und allen Geschehens, weil sie die Zeit aufhebt, indem sie Zeit vergehen läßt. Also die Zeit sitzt da und sieht sich selber zu, wie sie als Schiff vorübertreibt (und vergeht, aber nicht verschwindet, in sich aufgehoben wie sie ist), von sich selbst als Strömung getragen. Und es gibt ja auch noch die Möglichkeit des Ausbleibens. Sie gaukelt einem vielleicht eine gewisse Sicherheit vor, die Kälte (diese Musik ist meist sehr kalt, daher Eis-Schnee-Inseln, sehr fern, die Zeit selbst ist zu sich selbst erstarrt, das heißt, sie wird etwas größer, und wenn sie schmilzt, dann rinnt sie aus, aber diese Musik macht, daß sie eben nicht schmilzt oder immer grade am Schmelzen ist durch die Möglichkeit, daß etwas, die verlorene Kindheit, vielleicht doch wieder hergestellt und geheilt werden könnte - grade am Schmelzen, aber nicht flüssig. Die Melodien werden verzerrt, aber man erkennt sie noch, sie balancieren aber am Rand des Nicht Mehr Erkennens), ein im Eis Gefangensein wie ein Saurier im Permafrost gaukelt sie vor, aber diese Sicherheit ist, wie jede Sicherheit in dieser Musik, prekär. Das Sein wird nicht sich selbst überlassen, um sich, wenn es mal dazu Lust hat, außerhalb der Geschehnisse zu begeben und dort herumzuspazieren, während im Hause Carnis (einem der Schauplätze der Oper) grausige Ereignisse ablaufen, sondern es ist etwas, das herannahen könnte, ausgesetzt wird, und erst dadurch IST es. Dadurch daß sich etwas nähern könnte. Die Musik gibt es frei, nicht damit es kommt, sondern damit es die Möglichkeit bleibt, jederzeit zu kommen (nicht damit ihm die Möglichkeit bleibt zu kommen, was auch immer kommen mag), aber damit das geschieht, müssen die Zügel losgelassen werden, muß dem Kommen der Kopf freigegeben werden wie einem der unaufhörlich ängstlich wiehernden Pferde in "Bählamms Fest", und zwar wird dieses Kommen freigegeben, indem es DA ist. Und so ist das mit der Musik Olga Neuwirths: Indem sie da ist, gibt sie sich sebst frei zu kommen, aber sie ist nie da. Wie das, was einem Angst macht.

 

Olga Neuwirth, Hamburger Aufführung

28.6.2004


Musik und Furcht © 2004 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com