Ikarus

Ein höheres Wesen

Ich küsse meinem Vater die Hände, die schläfrigen goldenen Handwerkerhände, der entwirft nämlich und hilft mir beim Bauen der Geräte. Damit wir beide, nach seinen Anweisungen allerdings, das Fliegen erlernen können. Möglicherweise wird ein einziges Mal reichen, und es würde dann kein weiteres folgen. Wir bauen uns selbst, und wir machen gleichzeitig ein Aufbautraining. So verdienen wir uns das Geld für die Flugstunden, die wir uns aber selber geben müssen. Es gibt noch kein Beispiel für uns. Auch unser Gerät sind wir selbst. Er bezahlt stundenweise die Luft, daß sie uns trägt, mein Vater, der Erbauer des Labyrinths, das, wie die Luft, dazu dient, daß die Leute verlorengehen. Wieviele Möglichkeiten verlorenzugehen gibt es überhaupt? Ich selbst bin noch arbeitslos. Dafür schüttet die sich über uns, als hätte sie nichts andres zu tun,  drückt uns hinunter: die träge Luft. Wir kriegen das auch heute nicht wirklich hin, fürchte ich. Wieder nicht. Das Wachs tropft uns von den Händen. Überall die blöden Federn, Überbleibseln von solchen, die es bereits konnten. Weil sie so leicht waren! Sie waren in Leichtbauweise hergestellt.  Uns fällt sowas schwerer, es verdunsten uns die Augentröpfchen von der Glut der Himmelskochstelle, wo die Menschheit langsam, aber unerbittlich aufgeheizt wird.  Beim ersten Mal haben wir es nicht geschafft, als Bombengeschwader aufzutreten vor einem Heer aus keinen Menschen. Fliegen ist derzeit nicht Krieg, der Krieg ist - wie das Wetter - das, was uns die andre Wange hinhält, weil wir auf dem Boden zuviel gewagt haben. Überall jetzt Federgestöber. Geflüster. Leises Bombengeschwafel. Aber die Luft hat dann nicht mit uns mitgespielt. Zur Belohnung: noch mehr Krieg! Wieso geht das nicht, daß wir die Arme heben und wie die geborenen süßen jungen Windbeutel mit unserem Gerät auf- und zuklappen, nur damit wir endlich in die Kiste kommen? Zu schwer sind wir. Mit diesen Flügeln geht schon mal gar nichts oder zuviel, je nachdem, wie mans nimmt. Böse Sonne, paß auf! Sonne, halt! Kannst du nicht ausweichen? Da hakt etwas, mein lieber Vater und du, mein lieber Schwan! Wir wissen derzeit nur, daß wir gewogen und für zu schwer befunden wurden. Wie sollen wir das ändern?  Hauptsache, die Flamme, dieses gewisse Etwas, fehlt unseren Augen noch nicht, sie lodert hochauf, diese Flamme, unser Publikum, das ebenfalls schon ganz heiß auf uns ist.  Denn wir erfinden etwas, das über uns hinausgeht. Warum macht man so etwas? Es ist mir klar: um uns über uns selbst zu erheben! Über alle andern natürlich auch, das ist ja sowieso immer im Preis inbegriffen. Wir nehmen diesmal Business Class, da haben wir mehr Beinfreiheit. Platz zum Rudern ist ja wichtig. Die Freiheit im allgemeinen ist das Wichtigste überhaupt. Wir kommen augenblicklich in Betrachtung, und zwar von unten, so sieht man Menschen eher selten, aus der Froschperspektive. Aus der Leichenperspektive der Fische. Wir sind nun oben und wissen schon gar nicht mehr, wie klein wir einmal gewesen sind. Ich stehe derzeit höher als mein Vater im Kurs. Blöde Sonne, ich sage es nicht noch einmal! Wenn du nicht hören kannst, muß schließlich ich fühlen! Du spürst ja nichts, aber ich! Dafür wissen es die andern, die Betrachter dort unten, welche unsere Größe beim ersten Mal versäumt haben. Sie heben die Köpfe und bringen uns zum Erscheinen. Es ist gar kein Ausdruck: fliegen. Doch schon beginnt mein Abstieg, indem wir uns erhoben haben beginnt er schon.  Ich stürze wie etwas, das schon im Busch ist und sich sinnloserweise trotzdem verstecken möchte. Es gibt noch keinen Ausdruck für das, was wir da treiben. Wir treiben es in der Luft und mit der Luft. Jetzt haben wir es uns genau ausgerechnet: Wenn eine bestimmte Geschwindigkeit überschritten wird, entsteht an der Flügeloberfläche durch den speziellen Anstellwinkel dieser Flügel ein Unterdruck und an der Unterfläche ein Überdruck. Wenn das Produkt aus Unter- und Überdruck bei einem bestimmten Tempo das Gesamtgewicht des  Flugkörpers überschreitet, dann geht die Post ab, und wir werden alle abgeschickt.

Manche haben ihre Adresse vergessen. Die sind in der Luft total verloren. Es gibt aber noch über zweihundert Gründe, warum es dann letztlich doch nicht funktioniert. Und ich muß das alles sowieso noch selber machen. Mit meinem ganzen Körpereinsatz, den mir keiner gibt. Wo ist der Dirigent? Mein Einsatz bitte! Mein Ziel bitte! Vieles wird hart mit uns umspringen, das befürchte ich sehr. Noch einen Kuß auf meinen Vater, der mit roten, von der Sonne zerfetzten Wangen mein Hobby teilt und mich angestiftet hat. Wir werden nicht stürzen, wir werden über die Luft herfallen, Raubtiere, wir werden sie mit uns selbst zerreissen! Ach so, nur ich selbst werde stürzen? Sonne, ich sags jetzt nicht noch einmal! Platz da! Wer weiß, wie das ausgehen wird, wenn du nicht weggehst. Die Luft hat so etwas noch nie erlebt, daß sie so verletzt worden sein wird.  Wie soll die denn wissen, wie sie sich jetzt zu verhalten hat? Sie tobt beleidigt und beleidigend, es bleibt aber folgenlos, denn sie ist unsichtbar und unbelehrbar. Oder sehen nur wir die Folgen nicht? Wir wollen den Folgen der Luft, daß sie nämlich unter bestimmten Umständen fest sein kann,  doch gerne hinauf folgen, aber wohin geht das Hinauf, wo geht es bitte ins Unsichtbare? Und wo können wir uns bitteschön am Unhaltbaren anhalten? Es ist das erste Mal. Ich sehe hier ein, zwei Wolken wie Wiesel rasen. Geschwader von lieben jungen Männern ziehen gleich hinter uns bergauf, im Schwarm, nichts Leichteres als das. Wir haben es ihnen vorgemacht. Leider können wir es nicht mehr selbst erleben, aber wir schauen es uns dafür im Fernsehn an, das geht ja. Nichts Leichteres als Vögel kommt ihr hinein, der guten Luft.  Hat sie gedacht. Kann den Hals nicht vollkriegen. Hätte ihr jemand gesagt, wie viele uns nachkommen würden, sie hätte Maßnahmen ergriffen, bevor unser Maß noch an sie angelegt werden konnte. Sie muß es ab sofort tragen und ertragen, daß sie ganz dick mir Menschen vollgesteckt wird. Achtung, Luft! Wir kommen jetzt. Wir brauchen dich! Es paßt alles, Windrichtung, Geschwindigkeit und das mit den Düsen kriegen wir auch noch hin. Unser Pech ist, daß wir uns nicht einfach ruhig auf dieses unruhige,  zwielichtige Element legen können, immer müssen wir herumstrampeln. Ans Licht ans reine.  So gehts nicht. Die Tragflächen wissen schon von allein, was sie zu tun haben. Wir jungen Männer kommen und werden überhaupt bald überall sein, das ist halt so unsre Art. Die Luft ist gezwungen, mit uns zu teilen.  Und will sie das nicht, dann reissen wir ihr einen Teil von sich, den sie liebhat oder nicht, egal, dann reissen wir ihr einen Teil von sich aus den Händen. Oder sie wird gleich ganz verdrängt, dort, wo wir hinkommen. Sie müssen uns das glauben: Kindlich sind wir nicht mehr, obwohl wir so große Ideen haben, größer als wir sind, daß andre nicht einmal ein Ende absehen könnten.  Es gibt bald Krieg auch im Wasser. Das ist das, worauf die Luft liegt und schläft. Deshalb müssen wir ja in die Luft hinauf, das einzige Element, das noch nicht von uns geschändet wurde, aber jetzt kommt es dran,  es hilft nichts, das ehemals saubere Element, die Luft, ihre Straßen und Hauptplätze, ihre Nebenerscheinungen, ihre Spiegelung im Meer. So. Das Wachs kocht bereits, wir machen diese Frauenarbeit gern, denn wir werden uns über sie erheben, Papa und ich.  Wir werden uns sogar über uns selbst erheben. Wir können uns dabei nicht überheben, denn wir sind wir, und mehr als uns haben wir nicht und müssen wir auch nicht tragen. Wir kleben uns das jetzt so dran, was wir hier gebaut haben, was immer es ist. Wäre die Luft ein steinernes Gewölbe, müßten wir zu andren Maßnahmen greifen, Hammer, Meissel, Preßluftbohrer. Aber so ist die Luft nicht. Sie ist fest, und wir sind die Festkörper darin, die Teilchen. Aber die Luft will nicht mit uns teilen, sie denkt wohl, es wäre keine natürliche Fortbewegung in ihr möglich. Doch schauen Sie sich diese Vögel an, wie die das können! Wir müssen auch Vögel werden, sind aber schwere Schulbuben. Strampeln in unseren Strampelhosen aus Federn und Wachs. Und die neuen Windjacken aus Wachs, ich meine gewachste Windjacken - natürlich nicht auf uns gewachsene - die wir uns eigens übergezogen haben. Diese Striemen sind auch nicht zu übersehen, mit denen wir beweisen können, daß uns immer wieder eins übergezogen wird, wenn wir nicht folgsam sind. Aber einmal wehrt sich der Mensch. Es wird ihm soviel angetan, na, dann fliegt er halt davon, das haben wir uns so gedacht.  Aber auch dieser Fluchtweg bleibt ihm verschlossen. Was bleibt ihm also übrig? Zuerst vor einem Krieg davonfliegen, dann losfliegen, um in den Krieg hineinzukommen. Jeder Mensch will grundsätzlich immer in andre Menschen hinein und dort als ein Luftheer verheeren, was andres kann er nicht. Die Luft gestattet aber nur langsame, gemütliche Bewegungen. Schauen Sie sich nur den Albatros an, wie schön der fliegt und was der aufführt, wenn er zum Boden zurückkehrt! Man kann ja gar nicht hinschauen! Sie genügen nicht um zu töten, diese träumerischen Bewegungen, die wir machen. Sie genügen nicht, um nicht zu töten. Da wird etwas heiß von der Sonne, der ich ursprünglich in ihrem Studio mein Gesicht hingehalten habe, aber was besonders viel abbekommen hat, das ist mein, vor allem mein Flugaggregat. Das ist gleich hin. Ich glaub, ich bin irgendwie zu hoch. Muß korrigieren. Achtung. Ich bin gleich hinüber, auf die andre Seite. Welches Element dort herrscht? Keine Ahnung. Böser als die Luft kanns zu uns nicht sein. Die Sonne blendet so, ich sehe es nicht.  Ich sehe überhaupt nichts. Sehe auch meinen Vater nicht mehr, er muß irgendwo neben oder unter mir sein, aber nicht einmal das Nächste sieht man ja in der Luft und seine lieben Nächsten auch nicht, nur der Luft eigene Spiegelung. Nichts. Das Nichts im Nichts. Und wir mittendrinnen. Das kann nicht gut ausgehn. So. Jetzt sind wir endlich oben. Dankeschön. Da tropft etwas, keine Ahnung. Hat mein Vater unseren Lebenswasserhahn, für den er schließlich verantwortlich war, nicht ordentlich zugedreht? Jetzt ist es zu spät. Jetzt läuft zumindest mein Abfluß mit mir selber voll und über. Da rinne ich auch schon aus.  Na schön. Jetzt kommen wir. Kommen wir halt! Achtung, wir kommen! Platz da. Schauen Sie auf Ihre Köpfe, sonst trifft es Sie an der falschen Stelle! Das Meer. Jeden Tag mit dem falschen Fuß aufgestanden. Uns hat es auch auf dem falschen Fuß erwischt. Das Meer. Unser ewig Ruhelager. Das Meer ist Geräusch und Frechheit,  nimmt es uns überhaupt? Es nimmt uns, weil es nicht Frechheit, sondern im Grunde Freiheit ist, weil wir wiederum zu der Luft so frech gewesen sind.  Hätte nie gedacht, daß die Elemente dermaßen miteinander rivalisieren! Denen haben wir den Krieg gebracht und den Krieg beigebracht. So. Keine Luft mehr. Aber wir brauchen sie auch nicht mehr. Wir sind ja schon angekommen, bevor wir abgeflogen sind. Wir haben die Zeit angehalten, aber die Zeit nimmt keine Anhalter mit. Viel zu gefährlich.

Bilder: Otto Lilienthal

 

 

28.12.2002


Ikarus © 2002 Elfriede Jelinek

 

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