Requiem auf eine Oper

Ich wollte vom Begehren schreiben, das von sich nicht sprechen kann, aber ein Objekt benötigt, das ES spricht. Das Begehren braucht den Umweg, die Reizquelle, um entweder vor ihr zu fliehen oder sich ihr zu stellen. Es geht nicht einfach auf sein Ziel los wie die direkten Reize, die einen treffen und dann, nachdem sie gegrüßt haben (falls sie noch Zeit dazu hatten) wieder weitergehen. Auch Freud unterscheidet ja zwischen Trieb und Reiz, die gleichzusetzen er ausdrücklich warnt. (Austrocknung der Schleimhäute des Schlundes, Anätzung der Magenschleimhaut – stets allerdings vorausgesetzt, daß man Hunger oder Durst hat und nicht einfach eine Gastritis. Dann geht das aber direkt rein, und man will sich die Befriedigung dieser Bedürfnisse möglichst rasch verschaffen! Weil man sonst sterben würde). Freud weist darauf hin, daß man von einer Herrschaft des Lustprinzips über den Ablauf seelischer Prozesse nicht reden könne, sonst müßten ja die meisten unserer seelischen Prozesse von Lust begleitet sein.  Es läuft aber das Haustier Unlust und Verlangen und Sehnsucht meist neben uns her und schnappt nach unsren Beinen, damit wir schneller gehen, womöglich rennen, hinter etwas her, nicht vor uns davon, um uns das zu verschaffen, was wir haben wollen, um uns zu stillen, aber nicht: still zu sein. Die Oper ist das Gegenteil von Stille, auch wenn sie natürlich auch damit arbeitet. Wir haben Sehnsucht nach Lust, aber wir bekommen sie nicht so oft, nie so oft, wie wir sie brauchen könnten, denn die Verhältnisse, die widersetzen sich und wollen kaum jemals so wie wir wollen. Und die Differenz ist Sprechen oder Schweigen.

Ich habe mich im Libretto „Der Fall des Hans W.“ für das Sprechen über das Schweigen entschieden. Und die Musik sollte nicht mit sich reden lassen, sie sollte sprechen (wenigstens sprechen lassen hätte man sie sollen!). Olga Neuwirths Musik hätte am allerwenigsten mit sich reden lassen. Der Musik ist es egal, wen sie verführt, und darin ist die Musik selbst ein Don Juan. Denn wenn das Sinnliche spricht, dann spricht es Musik, und wenn Musik vom Sinnlichen spricht, dann spricht sie von sich selbst. Musik spricht immer von sich selbst, während die Stille schon lange nicht mehr schweigt. Die Zeiten sind vorbei, da Kunst sich durch Schweigen geäußert hat. Heute schreien auch Bilder und Skulpturen, die immer ihre Ersparnisse zusammenkratzen müssen, um gesehen werden zu können, und bereit sein müssen, sich jeden Augenblick zu vergeuden. Don Juan, der ewig Redende, hier als der ewig Verschweigende (als Musik selbst, selbst Musik), bis zum Stillen nicht des Kindes (das Kind wird vorher noch gebraucht, das heißt in diesem Fall des Hans W.: mißbraucht), sondern bis zum Stillsein, was wieder ein fortdauerndes Sprechen, Schreien, Singen, Brüllen nach sich zieht. Die verbotene Lust des Kinderschänders (und die Kinder werden „sonder Zahl“ benützt, also dem Nutzen einer Autoritätsperson zugeführt. Es sind nicht ganz so viele wie die berühmten 1003 Stück Frau „allein in Spanien“, derer sich Don Giovanni, ausgestattet nur mit der Autorität und der Anziehungskraft der Begierde, angenommen hat, soviele Kinder hat man in ganz Kärnten nicht an einem Ort zusammenziehen und zur späteren Entnahme  kasernieren können, das ging allerdings mit Kindern aus einem Erziehungsheim, die, welche Umstände auch immer sie in dieses Heim zur Erziehung gebracht hatten, darunter wahrscheinlich auch solche, die mit dem Lustprinzip zu tun hatten, dort ein hübsches kleines Menschenreservoir – nicht: Reservat, dort ist man ja geschützt! – gebildet hatten, aber es sind doch etliche zusammengekommen, wenn auch nicht freiwillig. Keiner hat sie gefragt. Und dann sind sie in ein Spital verbracht worden, wo das Kranke hingehört, und dann sind sie zum Schwanz des Herrn Professor - ausgestattet allein mit der Autorität und der Anziehungskraft seines Amtes und seiner Macht - gerufen worden, lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer wird ein Himmelreich sein!, damit dessen Lustprinzip und seine Erfüllung nur ja nicht gehemmt werden. Und das alles will ja ständigen Wiederholungszwang, die Begierde trägt in sich, daß sie immer wiederholt werden muß, da sich ja, nach jeder Befriedigung, sofort die Unlust einstellt, die nach der nächsten Befriedigung verlangt). Vom Lustprinzip der Kinder war nicht die Rede, sie waren nichts und niemand, die Kräfte des Staates haben sich diesem Prinzip bei diesen Knaben widersetzt, was zu der in den Krankenakten vermerkten gewissen  Schwierigkeiten der Knaben mit der Außenwelt geführt hat, und die wiederum bringen das Kind ins Heim oder ins Spital, vom Heim zurück ins Spital und vom Spital ins Heim zurück, wie in einem dialektischen Ping Pong, das keinen Ausweg kennt, und einen Ausweg kennt doch sogar das Begehren, und wäre er ein winziges Schlupfloch. Denn es kennt seine Befriedigung, die es eben immer wieder haben will, und damit ist der Ausweg zum Weg gemacht worden. Die verbotene Lust des Kinderschänders also wird bei mir, in meinem Libretto, zur Parodie des sinnlichen Begehrens, die ihrerseits parodiert wird, indem das kindliche Opfer des Professors, als es erwachsen wird und die Macht spürt, die es über die Begierde des Schänders gewonnen hat, diese Macht gegen den Professor, seinen Vater-Peiniger (beides in einem!) wendet. Der Konsument dieses ehemaligen Kindes und späteren jungen Mannes wird vom Vater/Besitzer/Über-Ich zum Opfer seines ES, sobald dieses ES zur Person wird, also vom polymorph-perversen Kind zum Subjekt. Dann wendet sich die Konstruktion um und schlägt zurück, bis das ausgeschlossene Dritte (die Frau des Professors, die der Triebbefriedigung ihres Mannes, aber auch deren Wiederspiegelung im Materiellen, im Geld, im Besitz, entgegensteht, also dem universellen, konkreten Tausch Geld gegen Körper – im Gegensatz zum abstrakten Tausch Geld gegen Ware) zum Opfer der beiden wird, zum Opfer ihres Mannes und seines Sohnesopfers, das wiederum zum Täter wird, um sich zum Besitzer seines bisherigen Besitzers zu machen, und dazu muß die Mutter, die zum Feind wurde, getötet werden (das Opfer Abrahams: Ihr kehrt beide vom Berge zurück,  sagt Jehova, der die Opferung des eigenen Sohnes von Abraham scheinbar verlangt, schon wissend, daß ein Gott sowas nicht von einem Vater verlangen könne, und der Vater weiß auch, daß er seinen Sohn nicht wird hergeben müssen und tatsächlich: der Sohn kommt unversehrt vom Berg wieder zurück.  Das Opfer wurde nicht angenommen, weil es nicht gefordert werden konnte. Aber in unserem Fall war da ein Drittes, eine Frau, die zum eigentlichen Opfer werden kann! Ein bissel was geht immer. Solang noch eine Frau da ist, die Opfer werden kann, sind die männlichen Täter wie die männlichen Opfer losgesprochen, noch bevor sie ihre Tat überhaupt begehen können). Das alles natürlich fein säuberlich im Raum des Imaginären, im Reich der Musik und des Wortes abgehandelt und abgelegt. Und zu den Akten gelegt. Die Verführung wie die Musik beharren auf ihrer Sprachlosigkeit, das haben die beiden eben gemeinsam. Und den Tod haben sie auch gemeinsam, diesen Rächer des Lebendigen, der alles jeder Begierde letztlich entzieht. Und alles allem entzieht, jeder Kettenbegierde, die, gleich einem Kettenbrief oder einem Pyramidenspiel, sich am Leben erhält, indem sie begehrt und begehrt und begehrt, damit alles mehr werden soll, und am Ende kriegt einer immer alles, und das ist der Tod,  bis also der Tod das Spiel, als letzter Verführer (in romanischen Sprachen eine Frau) beendet.

Die Begierde besitzt, was ihr Gegenstand werden will, doch ohne es begehrt zu haben, und besitzt es also: nicht, sagt Kierkegaard. Doch im Fall des Hans W. ist diese Begierde keine schwebende, die herabsinkt (und auch noch still! Oh, sink hernieder, Nacht der Liebe! Entschuldigung. Andre Oper) auf den Knaben, nach dem in Sehnsucht er sich verzehrt, nein, der Begehrende nimmt sich seinen Gegenstand, aufgrund seiner Autorität als Medizinprofessor, ohne größere Widerstände zu erwarten. Er nützt seine Macht, und er wird die Macht noch zu spüren bekommen, sobald sein Objekt sich einmal zum Subjekt gewandelt haben wird. Das dauert noch. Die Begierde des Hans W. klebt aber an dem begehrten Objekt, an dem sie sich befriedigt, ohne Widerstände, ohne Sublimationszwang. Und kein Erwachen trennt sie von ihrem Gegenstand, sondern das Erwachsenwerden des begehrten Objekts, das, im gleichen Maß, in dem es sich zum Subjekt wandelt, aus der Gegenstandshaftigkeit des Begehrtwerdens herausfällt und zum geldverschlingenden Dämon wird, in perfider Umkehrung zum Peiniger des ehemaligen Peinigers, dieses Erwachsenwerden bringt dem Vater/Besitzer/Besetzer des fremden jungen Körpers Befriedigung nur noch gegen Materielles (Autos, Autos, Autos! Das wollen junge Männer halt am liebsten, ich habe einmal einen Text geschrieben „Begierde und Fahrerlaubnis“, das hat sich in späterer Ironie erfüllt, in einem Kriminalfall, in dem die Begierde eines Kinderschänders zum ewigen Autokauf mutierte; die Käufe wurden getätigt, bloß damit der greise Liebhaber sein geliebtes Objekt behalten konnte. Damit der Geliebte bei der Pleuelstange blieb. Kaum ist ein Auto hin, kommt schon ein neues, ein Autokauf-Kettenbriefsystem, bei dem der Professor nur verlieren kann). Das ist eine Begierde, die niemals eine Ahnung ihrer selbst zuläßt, die immer ausschöpft bis zum letzten, und das Ausschöpfen des Tabus, des Verbotenen (das Schänden von Kindern, dieser größten erotischen Konkurrenz der Frau) anstrebt, wobei sie alles Schwebende, jede Bewegung, alles, was den Gegenstand dieser Begierde im Ungewissen läßt, wie zwanghaft immer wieder aufsucht, um immer wieder ins Leere zu fallen, ins Nichts, denn das ist der einzige Ort, wo sich nichts kennt und man sich selbst nicht mehr kennt und den anderen erst recht nicht, da es nur im Nichts den anderen nicht mehr gibt und der andre also wieder: Alles wird. Allerdings nur sich selbst. Sein Alles. Sein Eines, sein Anderes und sein Alles. Endlich. Selbst wenn Don Giovanni Tausende Frauen in verschiedenen Ländern vögelt – besitzt, wie man früher sagte – bleibt da doch dieses Schwebende in ihm, das ihn ständig nach neuen Frauen Ausschau halten läßt, wohl wissend, daß er auch sie (jede! Indem er jeder nachjagt!) bekommen wird, in dieser ständigen Differenz/Indifferenz, daß er eine womöglich doch nicht bekommen könnte.  Die erfolgreiche Annäherung ist das Ziel. Es ist eine Annäherung wie in Zenons Paradoxon mit Achill und der Schildkröte, die von Achill im Wettlauf bekanntlich nie eingeholt werden kann, wenn sie auch nur einen kleinen Vorsprung hat.  Denn um nur den Ausgangspunkt der Schildkröte zu erreichen, müßte Achill bereits zahllose, unendlich viele Räume durchlaufen haben, in infinitum. Würde Achill das Tierchen einholen, dann hieße das, daß es möglich sein könnte, die Unendlichkeit zu beenden (und was will alle Lust? Ewigkeit!), es wäre ein unlogisches Phänomen. Keine Wahrheit, keine Realität, kein wahres Sein, sondern nur eine Täuschung, wie Nietzsche sagt. Das ist, als würde die Zeit in immer kleinere Teilstriche eingeteilt (es kann ja auch gesagt werden, daß Zenon in seinem Gleichnis zusätzlich vergaß, auch die Bewegungszeit in unendlich kleine Abschnitte zu teilen. Würde man das nämlich berücksichtigen, ergäbe sich für jeden immer kleiner werdenden Abschnitt eine immer kleinere Zeit, in der er zu durchlaufen wäre). Und nun endlich, aber unendlich  unerreichbar, zur Lust: Sie besteht schließlich darin, daß sie der Befriedigung immer nur näher und näherkommt, und zwar nicht, damit die Vorlust endlos ausgekostet werden kann, sondern indem, nein, DAMIT Befriedigung bereits stattgefunden haben wird und die Befriedigung in der nächsten (und übernächsten) Lustbefriedigung bestehen kann. O je, jetzt ist Achill über die Schildkröte gestolpert! Das ergibt nämlich (unterm Strich?) ein unaufhörliches Vorwärtshetzen in der Gewißheit, bereits bekommen zu haben (danke, ich hab schon!), so doppelt paradox das klingt, denn bis zu dem Punkt, da das Ziel des Niederbrechens der jeweiligen Frau, wie man ein Tier niederbricht, erreicht ist, in dieser Hemmung, etwas bereits bekommen zu haben, was man doch  endlos bekommen möchte - und die Hemmung kommt daher immer zu spät – in diesem gleichzeitig vorwärts wie rückwärts Schauen, um zu bekommen, zu haben und gehabt zu haben,  manifestiert sich für mich die Figur des Don Juan.  Ja, das ist es, glaub ich: das Zuspätkommen dessen, der bereits gehabt hat. Don Juan läuft sozusagen rückwärts ab, wird vom Sog der Begierde nach vorne gezogen, aber vom  Sog des Wunsches nach Erfüllung der Begierde, die immer schon (je schon! Von Anfang an) stattgefunden hat, wieder zurückgerissen. Und seine Leine hat er selbst in der Hand, aber locker!, nein: wenn auch locker. Das Realitätsprinzip ist das Selbsterhaltungsprinzip des Ich, das aber (Don Juan, der den Komtur und Vater ermordet hat, das ewige Gespenst, nein, das muß ich anders sagen: Gespenst schon, reines Bewußtsein und daher jeder Macht von vorneherein entzogen, bevor er überhaupt stirbt, wie Kierkegaard in Bezug auf diese Figur anmerkt, im Fall des Professors Hans W. folgerichtig die ermordete Gattin des Kinderschänders, die Gespenst wird und Gespenst schon war, bevor sie ermordet wurde, Don Juan fährt buchstäblich zur Hölle, allerdings ohne Auto) den eigenen Wiederholungszwang nicht akzeptieren kann, denn der ist ja narzißtische Kränkung, bedeutet ja Abhängigkeit, und wäre es eine von sich selbst, und da auch das sozusagen rückwärts läuft, während es doch immer bloß vorangeht, zum nächsten Objekt, gibt Don Juan sich selbst auf, übergibt sich diesem Nichts, das sicher das tollste Erlebnis überhaupt sein wird, denn dort wird er endlich allein sein mit seinem Begehren, dessen einziges Objekt wahrscheinlich er selber ist (zumindest möchte er sich das gern einreden, da ihm sein eigenes Geschlecht, außer eben sein eigenes, ja verboten ist), als Objekt und Subjekt in einem, riskiert jeden Moment, begleitet von seinem Diener-Sekretär, der gewissenhaft Buch führt über die Frauen (im Spital, wo der Professor seinen Dienst an den Kindern versah, wurde gewiß auch Buch geführt, von irgendwelchen Sekretärinnen, Schwestern oder Arzt-Unterläufeln, aber dieses Buch sagt nichts, es war keiner dabei, nur die Opfer waren immer dabei, keine einzige Krankenschwester bei keiner einzigen Untersuchung, denn wozu haben wir denn eine Intimität, und wozu brauchen wir sie, wenn wir sie doch haben?, es ist eine Schrift, eine Niederschrift, eine Bilanz,  die nichts sagt, während Leporello ja stolz seine Bilanzen an Frauen für seinen Herrn vorweisen kann. Die homoerotische Verstrickung von Don Juan und Leporello schließt die Frauen von vorneherein aus, deren Komsumption vielleicht auch aus diesem Grund eine rückläufige ist, sozusagen verkehrt herum abläuft, in totaler Anonymität, aus der nur wenige hervortreten, Vertreterinnen eine bloßen Zahlenreihe in der Musik, die auch Vertreterin von Zahlenreihen ist, Reihen Reihen Reihen, erst die Vereinigung von Don Juan mit Leporello - und der muß ja Diener sein, damit die einzig mögliche Vereinigung verunmöglicht wird, und nicht nur durch das Tabu Homosexualität), riskiert Don Juan also ständig nichts weniger als seine Auslöschung, aber dieses Weniger ist hier ja Mehr!, setzt auf die Karte, von einem eifersüchtigen Ehemann oder Liebhaber oder Verlobten oder Vater erdolcht zu werden. Das ist aber, was er will! Das wäre der ultimative Sex mit jemand, den er liebt, indem er ihn nicht liebt. Genau im Riskieren des Todes riskiert er im Grunde nichts, denn seine Befriedigung hat er ja jeweils schon gefunden, und auch wenn seine Zeit eben verkehrt herum abläuft, in den Tod hinein, in dieses Nichts, hätte er davor doch immer schon alles gehabt, was man überhaupt haben kann. Und selbst das Nichts wird er noch ficken, aber mit dem wird er dann wirklich Eins werden. Er wird alles in Besitz genommen und wieder weggeworfen haben, bis nichts mehr zu besitzen ist (wenigstens kein Müll mehr!) und endlich eine Art gähnenden Mangel entsteht. Den, nur den hat er noch nicht ausprobiert: den Mangel.  Bis auf Leporello, den er jederzeit haben könnte, aber nicht haben darf, an dem sozusagen Überfluß besteht, obwohl er ihn (trotz aller Fluchtversuche dieses Dienersekretärs) jederzeit zur Hand hätte und mit ihm sogar einmal die Rolle tauscht (und im Grunde muß Don Juan auch Leporello sein bzw. umgekehrt). Sein Lustprinzip, das Lustprinzip des Don Juan, wird niemals vom Realitätsprinzip eingeholt werden können, denn er hat immer schon konsumiert, wenn er Lust verspürt. Und das Verspüren von Lust funktioniert bei ihm ja nur, weil er seine Befriedigung, wie gesagt,  je schon hatte, bevor er sie noch erreichen konnte.

Die Begierde konnte keinen Gegenstand bekommen, weil sie im Besitz ihres Gegenstandes war, ohne begehrt zu haben (das Begehren kommt ja immer vorher, bei Don Juan kommt es aber nachher, weil es vorher befriedigt worden ist, er stürzt sozusagen in das Vakuum hinein, den Sog, den er selbst durch seine Taten erzeugt hat). Und daher ist er nie imstande zu begehren. Der Brand wird schon gelöscht, bevor er noch ausbrechen kann. Bei Kierkegaard hat die Begierde ihren absoluten Gegenstand im Einzelnen, sie begehrt das Einzelne absolut..., wobei er die Begierde als Prinzip meint, „geistig bestimmt als das, was der Geist ausschließt.“ Er nennt das sinnliche Genialität. Und Don Juan ist für Kierkegaard eine Idee, die nur einen Ausdruck finden kann: in der Musik. Don Juan hat sich eben viel vorgenommen – siehe Leporellos Liste! – und er hat es erreicht, indem er es sich vorgenommen hat, und was ihn, wie gesagt, antreibt, ist, daß er es schon hatte. So sehe ich das. Und das hat durchaus etwas Komisches (fällt natürlich auch dem Philosophen auf). Und diese Komik hätte in dieser Oper eines Täters, der Knaben sonder Zahl, namenlos, viele (wenn auch natürlich nicht Tausende!), arme Knaben aus dem Erziehungsheim, konsumiert, bis dann einer, ein Rächer der eigenen Kindheit, ihn konsumiert, dieses Komische also hätte in der Oper einen der besten Plätze bekommen, im Komischen hätte auch ich ihn, den Hans W., gesehen und als Figur angelegt. Die Parodie, das Komische, besteht ja in der vollkommen Desavouierung dessen, was man Liebe nennt, die ja Individualität sucht, den Einzelnen, den einzig Richtigen, das begehrte Subjekt, das in Leporello ausgeschlossen, tabu ist (darum rasen wir, wie beim Rennen – schon wieder Autos! – hinter Frauen her! Betonen in Inseraten sogenannte „Tabulosigkeit“. Und das Auto selbst ist ein homoerotisches Konstrukt, wenn nicht überhaupt Masturbation, die geliebteste der Bewegungen mit dem Unbelebten, dem Fetisch schlechthin, durch den Leben ersetzt oder zumindest vorgetäuscht wird. Sex mit jemandem, nein, mit ETWAS, den, das man liebt). Und diese Liebe und diese Lust, die wollen Ewigkeit (da sind sie wieder: Achill und die Schildkröte!) und denken nicht an Dauer oder Begrenzung oder gar ein Ende. Don Juan als Verführer aber, der Konsument von Körpern (im Fall des Hans W. Knabenkörper), liebt alle Knaben, und er liebt sie alle in dem Moment, da er ihrer habhaft werden kann, im Professorenzimmerchen der Klinik, mit der zerknüllten Feinrippunterhose an den Knöcheln hängend, da wird begehrt und gestillt und schon der nächste begehrt, der noch in seinem Bettchen schläft oder angstvoll in der Dunkelheit wartet; die Befriedigung erfolgt in einem Moment, der gleichzeitig schon der nächste Moment ist und der vorige und der vorvorige, weil die Lust eben immer rückwärts läuft und Lust immer erst ist, wenn sie gewesen ist. „Sie ist nämlich nur im Moment, der Moment aber ist, begrifflich gedacht, die Summe von Momenten, und so haben wir den Verführer“ (Kierkegaard).

In Olga Neuwirths und meiner Oper, die es wahrscheinlich nie geben wird: Mozarts/da Pontes Don Giovanni begehrt, wovon er sprechen kann, und das Sprechen ist die Musik, die Das Sprechen an sich ist, weil sie keine Verständigung braucht. Aber all das Verführen um des Verführens willen, die ewige Treulosigkeit um ihrer selbst willen, die Befriedigung, die immer schon war und daher immer wieder kommen muß, und gälte es das Leben, diese Unruhe im Fortlauf der Zeit (das nennt man, allgemeiner Übereinkunft nach: Musik, und umgekehrt: heute funktioniert keine Liebe mehr ohne Musik, wenn nicht überhaupt Musik, egal welche, die Hauptrolle dabei spielt), schlägt, wie man so schön sagt: zu Buche, muß aufgeschrieben werden, und wäre es in der Abstraktion der Musik (es wird ja alles notiert! Ohne die Buchführung gäbe es die Tat nicht – wieder so eine Reziprozität, denn die Buchführung, die nach dem Akt erfolgt, die Eintragung in die Akte also, ist je schon vor dem Akt. Vor Tisch las sichs anders, aber nach dem Essen kann man ja auch lesen). Die Lust korreliert mit dem Aufschreiben, und daher muß es aufgeschrieben werden. Da mischt sich das Schildkröten-Paradoxon mit der Besitzgier des Herrn: ohne absoluten Raum – keine Bewegung. Ohne absolute Bewegung – kein Raum. Gibt es ein absolutes Sein, so gibt es keine Vielheit (sagt Nietzsche), und gibt es eine absolute Vielheit, so gibt es keine Einheit, fährt er fort. Und daraus schließt er, es sollte einem doch klar werden, wie wenig mit solchen Begriffen „das Herz der Dinge“ berührt werden könne (oder auch nur die Realität erfaßt). Da ist aber die sogenannte wahre Welt, leider, und sie ist ein Gegenstück wahrer und allgemeingültiger Begriffe.  Ein Herr, der sich, als Mächtiger, der Knaben konsumieren kann, weil sie eben da sind, aus keinem andren Grund, als daß sie da sind und in seiner Reichweite und seinem Willen ausgesetzt (nicht einmal Mozarts Don Juan hat es so bequem, der muß reisen, sich bewegen, in so und sovielen Ländern hat er so und soviele Frauen gehabt, ist alles notiert!) nimmt sich, was er braucht, und weil er nimmt, weil er in die Buben hineingreifen kann wie in eine volle Einkaufstüte, muß er immer siegen, der Herr Professor W., der seinerseits natürlich nichts aufgeschrieben hat und hoffen muß, daß auch kein andrer sowas Geschmackloses wie Buchführen getan hatte, weil er seine Objekte immer zur Verfügung und seiner Macht unterworfen hat, bevor er sie noch unterwerfen mußte. Sie waren seine Untertanen. Damit fällt Verführung weg. Aber damit kehrt sich die Verführung irgendwann einmal gegen ihn und macht dann ihn zum Objekt. Prof. W. hat etwas zu fürchten. Don Juan hat nichts zu fürchten. Wie gesagt: Don Giovanni begehrt, wovon er sprechen kann (und muß!), Professor W. begehrt, wovon er NICHT sprechen kann, er begehrt das letzte Tabu: das Kind (ich glaube ja: bei Mozart/da Ponte ist das letzte Tabu der Sekretär, Leporello). Bis das Kind sich aufrichtet, groß wird, und ihn NICHT begehrt, damit aber das endloses Begehren seines Herrn (und seine totale Enteignung. Da er sich alle Knaben angeeignet hat, wird er jetzt um sein reales wie symbolisches Kapital gebracht) so richtig ordentlich am Brennen, am Kochen hält. Darin hätte die Parodie, die schreckliche Parodie, vielleicht sogar ein neuer Ernst in dieser opera gioccosa, bestehen können, hätte man sie bestehen, ich meine: entstehen lassen. Oder hätten wir bestanden, die Komponistin Olga Neuwirth und ich. 

Sören Kierkegaard: „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“
Sigmund Freud: „ Jenseits des Lustprinzips“

Fotos: (1) Winnie Klotz/Metropolitan Opera (Bryn Terfel (stehend) als Don Giovanni, Ferruccio Furlanetto als Leporello), (2) www.rapp.org

26.3.2006


Requiem auf eine Oper © 2006 Elfriede Jelinek

 

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