|   Requiem auf eine Oper  
       Ich
        wollte vom Begehren schreiben, das von sich nicht sprechen kann, aber
        ein Objekt benötigt, das ES spricht. Das Begehren braucht den Umweg, die
        Reizquelle, um entweder vor ihr zu fliehen oder sich ihr zu stellen. Es
        geht nicht einfach auf sein Ziel los wie die direkten Reize, die einen
        treffen und dann, nachdem sie gegrüßt haben (falls sie noch Zeit dazu
        hatten) wieder weitergehen. Auch Freud unterscheidet ja zwischen Trieb
        und Reiz, die gleichzusetzen er ausdrücklich warnt. (Austrocknung der
        Schleimhäute des Schlundes, Anätzung der Magenschleimhaut – stets allerdings
        vorausgesetzt, daß man Hunger oder Durst hat und nicht einfach eine Gastritis.
        Dann geht das aber direkt rein, und man will sich die Befriedigung dieser
        Bedürfnisse möglichst rasch verschaffen! Weil man sonst sterben würde).
        Freud weist darauf hin, daß man von einer Herrschaft des Lustprinzips
        über den Ablauf seelischer Prozesse nicht reden könne, sonst müßten ja
        die meisten unserer seelischen Prozesse von Lust begleitet sein.  Es läuft
        aber das Haustier Unlust und Verlangen und Sehnsucht meist neben uns her
        und schnappt nach unsren Beinen, damit wir schneller gehen, womöglich
        rennen, hinter etwas her, nicht vor uns davon, um uns das zu verschaffen,
        was wir haben wollen, um uns zu stillen, aber nicht: still zu sein. Die
        Oper ist das Gegenteil von Stille, auch wenn sie natürlich auch damit
        arbeitet. Wir haben Sehnsucht nach Lust, aber wir bekommen sie nicht so
        oft, nie so oft, wie wir sie brauchen könnten, denn die Verhältnisse,
        die widersetzen sich und wollen kaum jemals so wie wir wollen. Und die
        Differenz ist Sprechen oder Schweigen.  Ich
        habe mich im Libretto „Der Fall des Hans W.“ für das Sprechen über das
        Schweigen entschieden. Und die Musik sollte nicht mit sich reden lassen,
        sie sollte sprechen (wenigstens sprechen lassen hätte man sie sollen!).
        Olga Neuwirths Musik hätte am allerwenigsten mit sich reden lassen. Der
        Musik ist es egal, wen sie verführt, und darin ist die Musik selbst ein
        Don Juan. Denn wenn das Sinnliche spricht, dann spricht es Musik, und
        wenn Musik vom Sinnlichen spricht, dann spricht sie von sich selbst. Musik
        spricht immer von sich selbst, während die Stille schon lange nicht mehr
        schweigt. Die Zeiten sind vorbei, da Kunst sich durch Schweigen geäußert
        hat. Heute schreien auch Bilder und Skulpturen, die immer ihre Ersparnisse
        zusammenkratzen müssen, um gesehen werden zu können, und bereit sein müssen,
        sich jeden Augenblick zu vergeuden. Don Juan, der ewig Redende, hier als
        der ewig Verschweigende (als Musik selbst, selbst Musik), bis zum Stillen
        nicht des Kindes (das Kind wird vorher noch gebraucht, das heißt in diesem
        Fall des Hans W.: mißbraucht), sondern bis zum Stillsein, was wieder ein
        fortdauerndes Sprechen, Schreien, Singen, Brüllen nach sich zieht. Die
        verbotene Lust des Kinderschänders (und die Kinder werden „sonder Zahl“
        benützt, also dem Nutzen einer Autoritätsperson zugeführt. Es sind nicht
        ganz so viele wie die berühmten 1003 Stück Frau „allein in Spanien“, derer
        sich Don Giovanni, ausgestattet nur mit der Autorität und der Anziehungskraft
        der Begierde, angenommen hat, soviele Kinder hat man in ganz Kärnten nicht
        an einem Ort zusammenziehen und zur späteren Entnahme  kasernieren können,
        das ging allerdings mit Kindern aus einem Erziehungsheim, die, welche
        Umstände auch immer sie in dieses Heim zur Erziehung gebracht hatten,
        darunter wahrscheinlich auch solche, die mit dem Lustprinzip zu tun hatten,
        dort ein hübsches kleines Menschenreservoir – nicht: Reservat, dort ist
        man ja geschützt! – gebildet hatten, aber es sind doch etliche zusammengekommen,
        wenn auch nicht freiwillig. Keiner hat sie gefragt. Und dann sind sie
        in ein Spital verbracht worden, wo das Kranke hingehört, und dann sind
        sie zum Schwanz des Herrn Professor - ausgestattet allein mit der Autorität
        und der Anziehungskraft seines Amtes und seiner Macht - gerufen worden,
        lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer wird ein Himmelreich sein!,
        damit dessen Lustprinzip und seine Erfüllung nur ja nicht gehemmt werden.
        Und das alles will ja ständigen Wiederholungszwang, die Begierde trägt
        in sich, daß sie immer wiederholt werden muß, da sich ja, nach jeder Befriedigung,
        sofort die Unlust einstellt, die nach der nächsten Befriedigung verlangt).
        Vom Lustprinzip der Kinder war nicht die Rede, sie waren nichts und niemand,
        die Kräfte des Staates haben sich diesem Prinzip bei diesen Knaben widersetzt,
        was zu der in den Krankenakten vermerkten gewissen  Schwierigkeiten der
        Knaben mit der Außenwelt geführt hat, und die wiederum bringen das Kind
        ins Heim oder ins Spital, vom Heim zurück ins Spital und vom Spital ins
        Heim zurück, wie in einem dialektischen Ping Pong, das keinen Ausweg kennt,
        und einen Ausweg kennt doch sogar das Begehren, und wäre er ein winziges
        Schlupfloch. Denn es kennt seine Befriedigung, die es eben immer wieder
        haben will, und damit ist der Ausweg zum Weg gemacht worden. Die verbotene
        Lust des Kinderschänders also wird bei mir, in meinem Libretto, zur Parodie
        des sinnlichen Begehrens, die ihrerseits parodiert wird, indem das kindliche
        Opfer des Professors, als es erwachsen wird und die Macht spürt, die es
        über die Begierde des Schänders gewonnen hat, diese Macht gegen den Professor,
        seinen Vater-Peiniger (beides in einem!) wendet. Der Konsument dieses
        ehemaligen Kindes und späteren jungen Mannes wird vom Vater/Besitzer/Über-Ich
        zum Opfer seines ES, sobald dieses ES zur Person wird, also vom polymorph-perversen
        Kind zum Subjekt. Dann wendet sich die Konstruktion um und schlägt zurück,
        bis das ausgeschlossene Dritte (die Frau des Professors, die der Triebbefriedigung
        ihres Mannes, aber auch deren Wiederspiegelung im Materiellen, im Geld,
        im Besitz, entgegensteht, also dem universellen, konkreten Tausch Geld
        gegen Körper – im Gegensatz zum abstrakten Tausch Geld gegen Ware) zum
        Opfer der beiden wird, zum Opfer ihres Mannes und seines Sohnesopfers,
        das wiederum zum Täter wird, um sich zum Besitzer seines bisherigen Besitzers
        zu machen, und dazu muß die Mutter, die zum Feind wurde, getötet werden
        (das Opfer Abrahams: Ihr kehrt beide vom Berge zurück,  sagt Jehova, der
        die Opferung des eigenen Sohnes von Abraham scheinbar verlangt, schon
        wissend, daß ein Gott sowas nicht von einem Vater verlangen könne, und
        der Vater weiß auch, daß er seinen Sohn nicht wird hergeben müssen und
        tatsächlich: der Sohn kommt unversehrt vom Berg wieder zurück.  Das Opfer
        wurde nicht angenommen, weil es nicht gefordert werden konnte. Aber in
        unserem Fall war da ein Drittes, eine Frau, die zum eigentlichen Opfer
        werden kann! Ein bissel was geht immer. Solang noch eine Frau da ist,
        die Opfer werden kann, sind die männlichen Täter wie die männlichen Opfer
        losgesprochen, noch bevor sie ihre Tat überhaupt begehen können). Das
        alles natürlich fein säuberlich im Raum des Imaginären, im Reich der Musik
        und des Wortes abgehandelt und abgelegt. Und zu den Akten gelegt. Die
        Verführung wie die Musik beharren auf ihrer Sprachlosigkeit, das haben
        die beiden eben gemeinsam. Und den Tod haben sie auch gemeinsam, diesen
        Rächer des Lebendigen, der alles jeder Begierde letztlich entzieht. Und
        alles allem entzieht, jeder Kettenbegierde, die, gleich einem Kettenbrief
        oder einem Pyramidenspiel, sich am Leben erhält, indem sie begehrt und
        begehrt und begehrt, damit alles mehr werden soll, und am Ende kriegt
        einer immer alles, und das ist der Tod,  bis also der Tod das Spiel, als
        letzter Verführer (in romanischen Sprachen eine Frau) beendet.  Die
        Begierde besitzt, was ihr Gegenstand werden will, doch ohne es begehrt
        zu haben, und besitzt es also: nicht, sagt Kierkegaard. Doch im Fall des
        Hans W. ist diese Begierde keine schwebende, die herabsinkt (und auch
        noch still! Oh, sink hernieder, Nacht der Liebe! Entschuldigung. Andre
        Oper) auf den Knaben, nach dem in Sehnsucht er sich verzehrt, nein, der
        Begehrende nimmt sich seinen Gegenstand, aufgrund seiner Autorität als
        Medizinprofessor, ohne größere Widerstände zu erwarten. Er nützt seine
        Macht, und er wird die Macht noch zu spüren bekommen, sobald sein Objekt
        sich einmal zum Subjekt gewandelt haben wird. Das dauert noch. Die Begierde
        des Hans W. klebt aber an dem begehrten Objekt, an dem sie sich befriedigt,
        ohne Widerstände, ohne Sublimationszwang. Und kein Erwachen trennt sie
        von ihrem Gegenstand, sondern das Erwachsenwerden des begehrten Objekts,
        das, im gleichen Maß, in dem es sich zum Subjekt wandelt, aus der Gegenstandshaftigkeit
        des Begehrtwerdens herausfällt und zum geldverschlingenden Dämon wird,
        in perfider Umkehrung zum Peiniger des ehemaligen Peinigers, dieses Erwachsenwerden
        bringt dem Vater/Besitzer/Besetzer des fremden jungen Körpers Befriedigung
        nur noch gegen Materielles (Autos, Autos, Autos! Das wollen junge Männer
        halt am liebsten, ich habe einmal einen Text geschrieben „Begierde und
        Fahrerlaubnis“, das hat sich in späterer Ironie erfüllt, in einem Kriminalfall,
        in dem die Begierde eines Kinderschänders zum ewigen Autokauf mutierte;
        die Käufe wurden getätigt, bloß damit der greise Liebhaber sein geliebtes
        Objekt behalten konnte. Damit der Geliebte bei der Pleuelstange blieb.
        Kaum ist ein Auto hin, kommt schon ein neues, ein Autokauf-Kettenbriefsystem,
        bei dem der Professor nur verlieren kann). Das ist eine Begierde, die
        niemals eine Ahnung ihrer selbst zuläßt, die immer ausschöpft bis zum
        letzten, und das Ausschöpfen des Tabus, des Verbotenen (das Schänden von
        Kindern, dieser größten erotischen Konkurrenz der Frau) anstrebt, wobei
        sie alles Schwebende, jede Bewegung, alles, was den Gegenstand dieser
        Begierde im Ungewissen läßt, wie zwanghaft immer wieder aufsucht, um immer
        wieder ins Leere zu fallen, ins Nichts, denn das ist der einzige Ort,
        wo sich nichts kennt und man sich selbst nicht mehr kennt und den anderen
        erst recht nicht, da es nur im Nichts den anderen nicht mehr gibt und
        der andre also wieder: Alles wird. Allerdings nur sich selbst. Sein Alles.
        Sein Eines, sein Anderes und sein Alles. Endlich. Selbst wenn Don Giovanni
        Tausende Frauen in verschiedenen Ländern vögelt – besitzt, wie man früher
        sagte – bleibt da doch dieses Schwebende in ihm, das ihn ständig nach
        neuen Frauen Ausschau halten läßt, wohl wissend, daß er auch sie (jede!
        Indem er jeder nachjagt!) bekommen wird, in dieser ständigen Differenz/Indifferenz,
        daß er eine womöglich doch nicht bekommen könnte.  Die erfolgreiche Annäherung
        ist das Ziel. Es ist eine Annäherung wie in Zenons Paradoxon mit Achill
        und der Schildkröte, die von Achill im Wettlauf bekanntlich nie eingeholt
        werden kann, wenn sie auch nur einen kleinen Vorsprung hat.  Denn um nur
        den Ausgangspunkt der Schildkröte zu erreichen, müßte Achill bereits zahllose,
        unendlich viele Räume durchlaufen haben, in infinitum. Würde Achill das
        Tierchen einholen, dann hieße das, daß es möglich sein könnte, die Unendlichkeit
        zu beenden (und was will alle Lust? Ewigkeit!), es wäre ein unlogisches
        Phänomen. Keine Wahrheit, keine Realität, kein wahres Sein, sondern nur
        eine Täuschung, wie Nietzsche sagt. Das ist, als würde die Zeit in immer
        kleinere Teilstriche eingeteilt (es kann ja auch gesagt werden, daß Zenon
        in seinem Gleichnis zusätzlich vergaß, auch die Bewegungszeit in unendlich
        kleine Abschnitte zu teilen. Würde man das nämlich berücksichtigen, ergäbe
        sich für jeden immer kleiner werdenden Abschnitt eine immer kleinere Zeit,
        in der er zu durchlaufen wäre). Und nun endlich, aber unendlich  unerreichbar,
        zur Lust: Sie besteht schließlich darin, daß sie der Befriedigung immer
        nur näher und näherkommt, und zwar nicht, damit die Vorlust endlos ausgekostet
        werden kann, sondern indem, nein, DAMIT Befriedigung bereits stattgefunden
        haben wird und die Befriedigung in der nächsten (und übernächsten) Lustbefriedigung
        bestehen kann. O je, jetzt ist Achill über die Schildkröte gestolpert!
        Das ergibt nämlich (unterm Strich?) ein unaufhörliches Vorwärtshetzen
        in der Gewißheit, bereits bekommen zu haben (danke, ich hab schon!), so
        doppelt paradox das klingt, denn bis zu dem Punkt, da das Ziel des Niederbrechens
        der jeweiligen Frau, wie man ein Tier niederbricht, erreicht ist, in dieser
        Hemmung, etwas bereits bekommen zu haben, was man doch  endlos bekommen
        möchte - und die Hemmung kommt daher immer zu spät – in diesem gleichzeitig
        vorwärts wie rückwärts Schauen, um zu bekommen, zu haben und gehabt zu
        haben,  manifestiert sich für mich die Figur des Don Juan.  Ja, das ist
        es, glaub ich: das Zuspätkommen dessen, der bereits gehabt hat. Don Juan
        läuft sozusagen rückwärts ab, wird vom Sog der Begierde nach vorne gezogen,
        aber vom  Sog des Wunsches nach Erfüllung der Begierde, die immer schon
        (je schon! Von Anfang an) stattgefunden hat, wieder zurückgerissen. Und
        seine Leine hat er selbst in der Hand, aber locker!, nein: wenn auch locker.
        Das Realitätsprinzip ist das Selbsterhaltungsprinzip des Ich, das aber
        (Don Juan, der den Komtur und Vater ermordet hat, das ewige Gespenst,
        nein, das muß ich anders sagen: Gespenst schon, reines Bewußtsein und
        daher jeder Macht von vorneherein entzogen, bevor er überhaupt stirbt,
        wie Kierkegaard in Bezug auf diese Figur anmerkt, im Fall des Professors
        Hans W. folgerichtig die ermordete Gattin des Kinderschänders, die Gespenst
        wird und Gespenst schon war, bevor sie ermordet wurde, Don Juan fährt
        buchstäblich zur Hölle, allerdings ohne Auto) den eigenen Wiederholungszwang
        nicht akzeptieren kann, denn der ist ja narzißtische Kränkung, bedeutet
        ja Abhängigkeit, und wäre es eine von sich selbst, und da auch das sozusagen
        rückwärts läuft, während es doch immer bloß vorangeht, zum nächsten Objekt,
        gibt Don Juan sich selbst auf, übergibt sich diesem Nichts, das sicher
        das tollste Erlebnis überhaupt sein wird, denn dort wird er endlich allein
        sein mit seinem Begehren, dessen einziges Objekt wahrscheinlich er selber
        ist (zumindest möchte er sich das gern einreden, da ihm sein eigenes Geschlecht,
        außer eben sein eigenes, ja verboten ist), als Objekt und Subjekt in einem,
        riskiert jeden Moment, begleitet von seinem Diener-Sekretär, der gewissenhaft
        Buch führt über die Frauen (im Spital, wo der Professor seinen Dienst
        an den Kindern versah, wurde gewiß auch Buch geführt, von irgendwelchen
        Sekretärinnen, Schwestern oder Arzt-Unterläufeln, aber dieses Buch sagt
        nichts, es war keiner dabei, nur die Opfer waren immer dabei, keine einzige
        Krankenschwester bei keiner einzigen Untersuchung, denn wozu haben wir
        denn eine Intimität, und wozu brauchen wir sie, wenn wir sie doch haben?,
        es ist eine Schrift, eine Niederschrift, eine Bilanz,  die nichts sagt,
        während Leporello ja stolz seine Bilanzen an Frauen für seinen Herrn vorweisen
        kann. Die homoerotische Verstrickung von Don Juan und Leporello schließt
        die Frauen von vorneherein aus, deren Komsumption vielleicht auch aus
        diesem Grund eine rückläufige ist, sozusagen verkehrt herum abläuft, in
        totaler Anonymität, aus der nur wenige hervortreten, Vertreterinnen eine
        bloßen Zahlenreihe in der Musik, die auch Vertreterin von Zahlenreihen
        ist, Reihen Reihen Reihen, erst die Vereinigung von Don Juan mit Leporello
        - und der muß ja Diener sein, damit die einzig mögliche Vereinigung verunmöglicht
        wird, und nicht nur durch das Tabu Homosexualität), riskiert Don Juan
        also ständig nichts weniger als seine Auslöschung, aber dieses Weniger
        ist hier ja Mehr!, setzt auf die Karte, von einem eifersüchtigen Ehemann
        oder Liebhaber oder Verlobten oder Vater erdolcht zu werden. Das ist aber,
        was er will! Das wäre der ultimative Sex mit jemand, den er liebt, indem
        er ihn nicht liebt. Genau im Riskieren des Todes riskiert er im Grunde
        nichts, denn seine Befriedigung hat er ja jeweils schon gefunden, und
        auch wenn seine Zeit eben verkehrt herum abläuft, in den Tod hinein, in
        dieses Nichts, hätte er davor doch immer schon alles gehabt, was man überhaupt
        haben kann. Und selbst das Nichts wird er noch ficken, aber mit dem wird
        er dann wirklich Eins werden. Er wird alles in Besitz genommen und wieder
        weggeworfen haben, bis nichts mehr zu besitzen ist (wenigstens kein Müll
        mehr!) und endlich eine Art gähnenden Mangel entsteht. Den, nur den hat
        er noch nicht ausprobiert: den Mangel.  Bis auf Leporello, den er jederzeit
        haben könnte, aber nicht haben darf, an dem sozusagen Überfluß besteht,
        obwohl er ihn (trotz aller Fluchtversuche dieses Dienersekretärs) jederzeit
        zur Hand hätte und mit ihm sogar einmal die Rolle tauscht (und im Grunde
        muß Don Juan auch Leporello sein bzw. umgekehrt). Sein Lustprinzip, das
        Lustprinzip des Don Juan, wird niemals vom Realitätsprinzip eingeholt
        werden können, denn er hat immer schon konsumiert, wenn er Lust verspürt.
        Und das Verspüren von Lust funktioniert bei ihm ja nur, weil er seine
        Befriedigung, wie gesagt,  je schon hatte, bevor er sie noch erreichen
        konnte.  Die
        Begierde konnte keinen Gegenstand bekommen, weil sie im Besitz ihres Gegenstandes
        war, ohne begehrt zu haben (das Begehren kommt ja immer vorher, bei Don
        Juan kommt es aber nachher, weil es vorher befriedigt worden ist, er stürzt
        sozusagen in das Vakuum hinein, den Sog, den er selbst durch seine Taten
        erzeugt hat). Und daher ist er nie imstande zu begehren. Der Brand wird
        schon gelöscht, bevor er noch ausbrechen kann. Bei Kierkegaard hat die
        Begierde ihren absoluten Gegenstand im Einzelnen, sie begehrt das Einzelne
        absolut..., wobei er die Begierde als Prinzip meint, „geistig bestimmt
        als das, was der Geist ausschließt.“ Er nennt das sinnliche Genialität.
        Und Don Juan ist für Kierkegaard eine Idee, die nur einen Ausdruck finden
        kann: in der Musik. Don Juan hat sich eben viel vorgenommen – siehe Leporellos
        Liste! – und er hat es erreicht, indem er es sich vorgenommen hat, und
        was ihn, wie gesagt, antreibt, ist, daß er es schon hatte. So sehe ich
        das. Und das hat durchaus etwas Komisches (fällt natürlich auch dem Philosophen
        auf). Und diese Komik hätte in dieser Oper eines Täters, der Knaben sonder
        Zahl, namenlos, viele (wenn auch natürlich nicht Tausende!), arme Knaben
        aus dem Erziehungsheim, konsumiert, bis dann einer, ein Rächer der eigenen
        Kindheit, ihn konsumiert, dieses Komische also hätte in der Oper einen
        der besten Plätze bekommen, im Komischen hätte auch ich ihn, den Hans
        W., gesehen und als Figur angelegt. Die Parodie, das Komische, besteht
        ja in der vollkommen Desavouierung dessen, was man Liebe nennt, die ja
        Individualität sucht, den Einzelnen, den einzig Richtigen, das begehrte
        Subjekt, das in Leporello ausgeschlossen, tabu ist (darum rasen wir, wie
        beim Rennen – schon wieder Autos! – hinter Frauen her! Betonen in Inseraten
        sogenannte „Tabulosigkeit“. Und das Auto selbst ist ein homoerotisches
        Konstrukt, wenn nicht überhaupt Masturbation, die geliebteste der Bewegungen
        mit dem Unbelebten, dem Fetisch schlechthin, durch den Leben ersetzt oder
        zumindest vorgetäuscht wird. Sex mit jemandem, nein, mit ETWAS, den, das
        man liebt). Und diese Liebe und diese Lust, die wollen Ewigkeit (da sind
        sie wieder: Achill und die Schildkröte!) und denken nicht an Dauer oder
        Begrenzung oder gar ein Ende. Don Juan als Verführer aber, der Konsument
        von Körpern (im Fall des Hans W. Knabenkörper), liebt alle Knaben, und
        er liebt sie alle in dem Moment, da er ihrer habhaft werden kann, im Professorenzimmerchen
        der Klinik, mit der zerknüllten Feinrippunterhose an den Knöcheln hängend,
        da wird begehrt und gestillt und schon der nächste begehrt, der noch in
        seinem Bettchen schläft oder angstvoll in der Dunkelheit wartet; die Befriedigung
        erfolgt in einem Moment, der gleichzeitig schon der nächste Moment ist
        und der vorige und der vorvorige, weil die Lust eben immer rückwärts läuft
        und Lust immer erst ist, wenn sie gewesen ist. „Sie ist nämlich nur im
        Moment, der Moment aber ist, begrifflich gedacht, die Summe von Momenten,
        und so haben wir den Verführer“ (Kierkegaard). In
        Olga Neuwirths und meiner Oper, die es wahrscheinlich nie geben wird:
        Mozarts/da Pontes Don Giovanni begehrt, wovon er sprechen kann, und das
        Sprechen ist die Musik, die Das Sprechen an sich ist, weil sie keine Verständigung
        braucht. Aber all das Verführen um des Verführens willen, die ewige Treulosigkeit
        um ihrer selbst willen, die Befriedigung, die immer schon war und daher
        immer wieder kommen muß, und gälte es das Leben, diese Unruhe im Fortlauf
        der Zeit (das nennt man, allgemeiner Übereinkunft nach: Musik, und umgekehrt:
        heute funktioniert keine Liebe mehr ohne Musik, wenn nicht überhaupt Musik,
        egal welche, die Hauptrolle dabei spielt), schlägt, wie man so schön sagt:
        zu Buche, muß aufgeschrieben werden, und wäre es in der Abstraktion der
        Musik (es wird ja alles notiert! Ohne die Buchführung gäbe es die Tat
        nicht – wieder so eine Reziprozität, denn die Buchführung, die nach dem
        Akt erfolgt, die Eintragung in die Akte also, ist je schon vor dem Akt.
        Vor Tisch las sichs anders, aber nach dem Essen kann man ja auch lesen).
        Die Lust korreliert mit dem Aufschreiben, und daher muß es aufgeschrieben
        werden. Da mischt sich das Schildkröten-Paradoxon mit der Besitzgier des
        Herrn: ohne absoluten Raum – keine Bewegung. Ohne absolute Bewegung –
        kein Raum. Gibt es ein absolutes Sein, so gibt es keine Vielheit (sagt
        Nietzsche), und gibt es eine absolute Vielheit, so gibt es keine Einheit,
        fährt er fort. Und daraus schließt er, es sollte einem doch klar werden,
        wie wenig mit solchen Begriffen „das Herz der Dinge“ berührt werden könne
        (oder auch nur die Realität erfaßt). Da ist aber die sogenannte wahre
        Welt, leider, und sie ist ein Gegenstück wahrer und allgemeingültiger
        Begriffe.  Ein Herr, der sich, als Mächtiger, der Knaben konsumieren kann,
        weil sie eben da sind, aus keinem andren Grund, als daß sie da sind und
        in seiner Reichweite und seinem Willen ausgesetzt (nicht einmal Mozarts
        Don Juan hat es so bequem, der muß reisen, sich bewegen, in so und sovielen
        Ländern hat er so und soviele Frauen gehabt, ist alles notiert!) nimmt
        sich, was er braucht, und weil er nimmt, weil er in die Buben hineingreifen
        kann wie in eine volle Einkaufstüte, muß er immer siegen, der Herr Professor
        W., der seinerseits natürlich nichts aufgeschrieben hat und hoffen muß,
        daß auch kein andrer sowas Geschmackloses wie Buchführen getan hatte,
        weil er seine Objekte immer zur Verfügung und seiner Macht unterworfen
        hat, bevor er sie noch unterwerfen mußte. Sie waren seine Untertanen.
        Damit fällt Verführung weg. Aber damit kehrt sich die Verführung irgendwann
        einmal gegen ihn und macht dann ihn zum Objekt. Prof. W. hat etwas zu
        fürchten. Don Juan hat nichts zu fürchten. Wie gesagt: Don Giovanni begehrt,
        wovon er sprechen kann (und muß!), Professor W. begehrt, wovon er NICHT
        sprechen kann, er begehrt das letzte Tabu: das Kind (ich glaube ja: bei
        Mozart/da Ponte ist das letzte Tabu der Sekretär, Leporello). Bis das
        Kind sich aufrichtet, groß wird, und ihn NICHT begehrt, damit aber das
        endloses Begehren seines Herrn (und seine totale Enteignung. Da er sich
        alle Knaben angeeignet hat, wird er jetzt um sein reales wie symbolisches
        Kapital gebracht) so richtig ordentlich am Brennen, am Kochen hält. Darin
        hätte die Parodie, die schreckliche Parodie, vielleicht sogar ein neuer
        Ernst in dieser opera gioccosa, bestehen können, hätte man sie bestehen,
        ich meine: entstehen lassen. Oder hätten wir bestanden, die Komponistin
        Olga Neuwirth und ich.    
 Sören
        Kierkegaard: „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“Sigmund
        Freud: „ Jenseits des Lustprinzips“
 Fotos: (1) 
        Winnie Klotz/Metropolitan Opera (Bryn Terfel (stehend) als Don Giovanni,
        Ferruccio Furlanetto als Leporello), (2) www.rapp.org 26.3.2006 Requiem auf eine Oper © 2006 Elfriede Jelinek
 
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