Im Lauf der Zeit

Vorwort

Film ist Bewegung, ein Zeitvergehen, das auf genauester Planung beruht. Nur die brutalsten Maßnahmen können die Bilder zwingen, sich in eine bestimmte Aufeinanderfolge zu begeben und dort zu bleiben, in der Bewegung, aber man hat sich vorher genau ausgerechnet, wie das zu geschehen hat. Film suggeriert, daß alles, was ist, berechenbar sei. Aber jedes Leben, auch das eigene, vergeht, während man sich noch diesen oder jenen Film auf der Leinwand anschaut. Das eine Vergehen, das im Film, kann man berechnen, das des eigenen Lebens nicht. Wenn man selbst also ein Vergehen begeht und nicht lebt, kommt man ins Gefängnis, das man dann zur Strafe auch noch selber sein muß. Erika Kohut im Film weiß das, aber sie kann nichts dagegen tun. Und während die Kader im Leben um die Wette schuften, laufen die Kader im Film so einfach dahin, sie machen Sport. Ihr Sport ist das Laufen. Oder: Indem das Leben auf der Leinwand vorher genau berechnet wurde, wird suggeriert, daß auch das Leben: machbar sei. Man kann es ja versuchen. Weit wird man damit nicht kommen.

Vielleicht ist das alles aber nichts als ein Spiel zwischen Subjektivierungen und Objektivierungen, denn die Menschen fühlen sich als Individuen und damit immer, bisher, als Spielbälle des Lebens, das scheint sich jetzt langsam zu ändern, denn neue Technologien stellen ja immer mehr die Machbarkeit von Leben in den Vordergrund. Stellen sie sich also immer mehr ihr Sein als etwas Machbares vor, die Menschen? Oder setzen sie es als ein Objektives, und damit wird es ja immer mehr, auch in der Kunst, vor allem im Film, der Leben schließlich ab-bildet, ein Gegenstand, ein Gegenstand einer Vorstellung, die ihrerseits anderen Vorstellungen von Seinsmöglichkeiten gegenübergestellt wird? Sozusagen das Planbare, das dem Geplanten, das aber wiederum Ziel eines künstlerischen Willens eines Regisseurs ist, gegenübersteht?

Da hat Michael Haneke ein Drehbuch geschrieben, zunächst für einen anderen Regisseur, dann hat er es für sich selbst genommen und einen Film gedreht, nach einem meiner Bücher. Er hat also etwas, das ich geschrieben hatte, zur Grundlage von Berechnungen und Planungen genommen, und diese präzisen Planungen (es ist ja fast unglaublich, was man alles berechnen und beachten muß, wenn man einen Film dreht! Ich würde schon an den ersten fünf Sekunden scheitern, denn ich verlange von einer Handlung, von Ereignissen, daß sie mich an der Hand nehmen und voranziehen, daß ich sozusagen nicht weiß, wo ich landen werde, ja, und das verlange ich, wie gesagt, nicht etwa daß ich es nur zuließe!) zielen auf eine Endlosigkeit, eine Weite ab, in der alles möglich ist und nichts. Man wirft Lebenstrümmer hinein, und sie ordnen sich in einem hübschen Maelstrom, der in eine bestimmte Richtung fließt, oder sie werden aus rasender Drehung heraus wieder ausgespuckt, so wie Menschen, die nicht leben können, vom Leben wieder ausgespuckt werden bzw. sich selber wegschmeißen. Abfälle. Erika Kohuts.

Diese Weite des Lebens, in der man verlorengeht: dagegen die Kunst! Der Film nutzt die Weite der Zeit, die ungefähr eineinhalb Stunden dauert, und die Weite der Bilder, die inzwischen einfach überallhin können, und bestünden sie aus Spielzeugstädten, die von Spielzeugbombern zertrümmert werden. Egal, diese Zeit-Bild-Welt wird angefüllt, sie wird vom Regisseur genützt, und sie zeigt wiederum Schauspieler, die wirkliche Menschen darstellen oder Menschen, die ein Autor sich ausgedacht hat, als benutzbar, denn sie werden ja benutzt, um Kunst, einen Film zu erzeugen, und sie werden benutzt, um eine bestimmte Filmhandlung zu zeigen. So ist Michael Haneke in die kleine, überschaubare (eigentlich recht enge) Welt der Erika Kohut eingedrungen, die ich mir selber ausgedacht habe, und die ich sogar selber zum Teil gewesen bin (beides probiert, Leben wie Kunst: kein Vergleich! Aber Ihnen erlaube ich das Vergleichen schon gar nicht!), wobei noch zu fragen wäre, wie verzweifelt ich als Autorin mir selbst, als gewissermaßen Hauptfigur dieser Geschichte, die Planbarkeit meines eigenen Schicksals damit selber einreden wollte, lassen Sie mich ausreden, denn Ausreden fürs ungelebte Leben gibt es nicht, und auch die Kunst hat mich nicht retten können, Spielball meines eigenen Lebens geworden zu sein, da könnte man endlos weiter überlegen, aber, wie gesagt, wir haben nur eineinhalb bis zwei Stunden dafür, und mehr hätte niemand für mein Schicksal übrig, doch ich schweife ab, und das darf der Film nicht, es ist ja vorher alles genau festgelegt worden, auch die Ausschweifungen, ich meine die Abschweifungen, und so ist also Michael Haneke mit seiner Verfilmung in meine kleine Welt eingedrungen, die ich im nachhinein als eine geplante verkleidet habe, was sie möglicherweise war, möglicherweise aber auch nicht, er ist eingedrungen und hat sie für Kunst benutzt, was ich selber aber vorher auch schon getan hatte, nur halt in einem Buch, besser man sieht es aber vor sich, um es nicht nachzumachen, niemals, und was ich eigentlich sagen wollte, ist: diese Kunst-Ödnis, vor der jeder zu Recht Angst hat, ist, trotz allen intrikaten Planungen, nicht beherrschbar, man kann sie nur nutzen. Aber wenn man sie nutzt, nutzt man sie aus, und man nutzt die Figuren aus, und man nutzt die Vorbilder für die Figuren aus, und man beweist, daß diese Figuren, die in der Kunst hergestellt wurden, dann nicht mehr beherrscht werden können, egal, ob sie sich selbst beherrschen können oder nicht, und je mehr man sie in den Griff zu bekommen sucht (und das kann Haneke sehr gut: sie in den Griff bekommen, sie machen keine Sekunde mit ihm was sie wollen, genauso wie die Menschen keine Sekunde machen was sie eigentlich wollen, aber glauben, sie täten es, wenn sie nur könnten), um so mehr stößt man, und stoßen sie, die Kunstfiguren, meine Kunstfiguren und ich selber also, etwas aus, wie ein Tintenfisch Tinte, aus sich selbst heraus, daß alles nicht planbar ist, daß Das Alles nicht planbar ist (nicht daß eben nichts planbar ist, das ist ein Unterschied!), das Nichts ist aber auch nicht planbar, diese Figuren geben also eine Flüssigkeit oder etwas Ähnliches von sich, und sie nebeln sich selber ein, je besser sie ausgedacht worden sind, umso mehr Flüssigkeit, die sie wieder verdunkelt, und im letzten Aufflackern von etwas, das man gerade noch sieht, werden sie Unwesen und ungewöhnlich, und sie werden zu dem Nichtplanbaren, und daher zu Leben wie Nichtleben zugleich. Sie werden ihre eigenen Ausnahmen und damit: einzigartig, gerade indem sie sind wie alle.

Isabelle Huppert, Annie Giradot und Michael Haneke in Cannes

 

Links

filmstills.at
filmz.de

4.9.2001


Im Lauf der Zeit © 2001 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com