Zu "Carnival of souls"

Die Leinwand ist der Ort, wo etwas erscheint und spurlos wieder verschwindet. Daher habe ich immer besonders Grusel- und Gespensterfilme geliebt. Die Gestalten kommen und sagen etwas, und wir, die da sitzen, fliegen, an unsere Augen gefesselt, über sie hin als wären sie gar nichts, und dann fliegen sie sogar selbst, die Schattenwesen, es ist nicht zu glauben! Obwohl wir es sehen. Film ist überhaupt: Gespenstersehen. Das was man im Film sieht, springt über die Zeit, und wir bücken, ducken uns unwillkürlich, wenn etwas Grausiges auftaucht, damit es uns nicht trifft, sondern über uns hinwegsetzen kann, im Bocksprung, sich von uns, unsren erwartungsvoll gekrümmten Rücken, von unseren entsetzt aufgerissenen Blicken!, die nicht zeugen und nicht töten können, abstoßend; und unser Widerstand vor dem Gesehenen (das wir nicht gemacht haben), ein Widerstand, der natürlich dazugehört, damit es uns gruselt, wird immer wieder aufs neue niedergerungen. Gespensterfilme sind Berührungen, denn wir Zuschauer wollen ja, daß uns etwas geschieht, nicht daß wir nur einfach etwas anschauen. Wir müssen sehen und auch wieder nicht (wie oft hab ich zwischen den Fingern dann doch durchgelugt, das gilt aber nicht!), aber auch wenn wir nicht hinzusehen wagen - was wir sehen sollen ist trotzdem DA! Und öffnen wir, zögernd, weil wir denken, das Schreckliche wäre schon vorbei, dann doch die Augen, so schwebt die Vision des Grauens, wie das bekannte, strahlende Auge Gottes (natürlich heißt in Wien ein Kino so!), plötzlich über uns.

Einer meiner Lieblingsfilme ist "carnival of souls" (Der Tanz der toten Seelen), Buch: John Clifford, Produktion und Regie: Herk Harvey (USA 1962)



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Eine weiße Frau kommt aus dem Fluß, in dem sie, acht Stunden zuvor, in einem Auto, gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen, versunken ist. Keiner kann sich erklären, wieso sie noch lebt, wieso sie ausgespart ist; und ausgespart bleibt sie in der Folge auch auf der Leinwand, als weißer Fleck, mit tennisballgroßen, weit aufgerissenen, noch viel weißeren Augen, die sich in die unseren hineinfräsen. Eine Somnambuhlschaft des Nichts (im Kino gleichgesetzt mit: Nichtsehen), die von einem Stimulus angetrieben wird, einer Mechanik, die sie nicht kennt, und die auch die Zuschauer nicht kennen. Doch die ahnen etwas, sie befinden sich ja in einem anderen Raum als die Heldin, ihre Ampel allerdings steht auf Rot, und so können sie der weißen Frau auf der Leinwand keinen Raum freigeben. Oder scheut die Frau in Wahrheit vor ihren Zuschauern? Sie läuft ständig vor ihnen davon, mit entsetzten Blicken über die Schulter zurück auf ihre Betrachter. Für die Hauptdarstellerin wird nur der Raum auf der Leinwand geräumt, sie, die Hauptfigur, muß aber bald, über immer längere Strecken, jedem anderen Erscheinen sich räumen. Für uns Zuseher jedoch ist immer nur diese fliehende Frau da, und zwar in jeder einzelnen Einstellung.

Der Film kommt fast ohne die üblichen Tricks des Gespensterfilms aus, das Verschwinden und aus dem Nichts Auftauchen der Gespenster ist von rührender Schlichtheit, nur mit ein wenig dunkler Schminke um die Augen und verschmiertem Lippenstift sind sie geschmückt, diese Toten, denen man ihre Todesursachen nicht ansieht, alle scheinen sie unversehrt, sogar recht elegant gekleidet, wie sie sich da in einem alten Schwimmbad zum Tanz drehen, ein bißchen Zeitraffer und ab geht die stille Post. Doch der Automatismus, dem die Hauptdarstellerin folgt (sie ist übrigens, wie ich, Organistin, daher kann man sie gut in einer Kirche zeigen, und die Kirche ist, in der holzschnittartigen Derbheit ihrer figurengeschmückten Glasfenster, real wie ein Hamsterkäfig mit einem Laufrad, und über die Pedaltasten huschen die bloßen Füße der Heldin in ebenso mechanistischer, sinnvoll-sinnloser Abfolge), jener Mechanismus also, der diese beinahe knochenlose weiße Frau vorantreibt (erst als sie in endlosen Davonlauf-Szenen Stöckelschuhe anhat, bekommt ihre Gestalt etwas wie Knochen, Gebeine, etwas Spitziges), er paßt irgendwie nicht in das Kästchen des Fleisches. Und dort muß er doch hinein, der Antrieb, der dieses bereits verfallene Fleisch, ähnlich einer Spieluhr, immer wieder aufs neue ablaufen läßt, bis es endgültig zusammenfällt. Er ist befremdlich, dieser Stimulus, körperlos wie die Flamme eines angeriebenen Zündholzes, die ans Zelluloid gehalten wird und bewirkt, daß die sogenannten normalen Personen, also die Lebenden im Film, wie herausgestanzt, eigentlich herausgebrannt, -geschmolzen wirken, als hätten sie eine dunkle, rußgeschwärzte Begrenzungslinie, die sie seltsamerweise unwirklicher macht als die auftretenden Gespenster, gerade indem sie, diese Kontur, die Lebendigen im Bild festhält, während die Toten aus dem vorgegebenen Raum in größter Lebendigkeit herausfallen wie in einem Rubens'schen Engelssturz. Oder haben wir etwa mit unseren eigenen Augen diese Löcher in den Film gebrannt? Der Zelluloidraum, ein technischer Raum, wird zu einem Abstraktum, in welchem die Toten mehr walten als die Lebendigen, di e ja beide gemeinsam in diesem Raum verwahrt sind, und die in ihrer Begrenztheit/Beschränktheit unserem Sehen, unserem Schauen dieselben engen Grenzen zu Bewußtsein bringen, denen wir Zuschauenden unterworfen sind. Es spielt keine Rolle, ob wir da sind oder nicht: die Wirklichen, die Wahren sind zwar über eine Spule gerollt und ruhen, aber es gibt sie auch ohne uns! Und besonders diejenigen, die es eigentlich nicht gibt, die Geister, und vor allem die junge Heldin des Films, die ihre Helligkeit, diese einzige Haut, die sie noch hat, an sich zu pressen scheint wie einen durchsichtigen Regenmantel (eine "Regenhaut") bei einem Wolkenbruch, auf der Flucht in die Dunkelheit, in der nichts mehr auf der Leinwand erscheint, nicht auf unsrer, nicht auf ihrer, einer Flucht, bei der sie einmal gesehen wird und gleich darauf schon nicht mehr (aber die Leute, Die Verkäuferin, Der Pfarrer, Der Arzt, Die Zimmerwirtin, Die Burschen Im Auto, Die Gaffer Auf Der Brücke, sie gehen nicht, wie so oft in Gespensterfilmen, einfach, mittels Tricks, durch die Heldin hindurch, sie stellen sich, z.B. am Schalter für die Bustickets, brav neben sie, und sie ist es, die zurückweicht, eine, die lebt und auch wieder nicht, da sie schon im Leben nicht gelebt hat, und die große Kunst dieses Films ist es, eine Lebende als Tote und wiederum als Lebendigere als alle Lebenden zu zeigen). Nur der Zuschauer sieht ALLES, und er weiß, daß er wach ist, indem eine Gestalt vor ihm steht, die es nicht weiß, die nicht weiß, ob sie da ist oder nicht, und das ist eine Attacke auf sein Sehen selbst, das ihm, dem Zuschauer, versichert, daß er selbst da sein muß, da er ja sieht, wie jemand NICHT gesehen wird. Die Filmkader sind die Waggons eines durch die Zeit rasenden Zuges, auf den wir hinter der Schranke starren (die Musik ist die Zeit selbst!), und in den die handelnden Personen eingeräumt werden wie in ein Regal. Wir können nicht aufspringen, aber daß wir uns im Kino versammeln, begründet einen Ort, wo sie alle beieinander sein können, die Lebenden wie die Toten, die aber alle aus nichts als Licht bestehen, das wiederum darauf besteht, daß wir uns ihm öffnen. Wir können aber auch die Augen zumachen. Das Eigentümlichste ist möglich, denn die gezeigten Körper sind unser Eigentum, für die Dauer des Films, dann gehören sie anderen. Die Dinge, die Heldinnen und die Helden des Films sind ihre eigenen Orte, die sie sich mitgebracht haben wie Klappstühle. In diesem Film will die Hauptdarstellerin diesen Ort nicht finden, doch der Ort findet sie. Den ganzen Film über will sie ihm entkommen, doch sie ist, mit uns zusammen, eingesperrt; Der Ort hatte sie sich schon geholt, als sie, gleich zu Anfang des Films, im Wasser versank, die übrige Zeit ist sie die einzige, die Der Ort selber ist, indem sie vor ihm, Diesem Nicht-Ort (diesem Nichtzeit-Nichtrat) flieht, an den sie doch eigentlich von Anfang an gehört hat. Und die anderen, die Lebendigen, die, wie der Igel vor dem Hasen, je schon da waren, haben in Wirklichkeit keine Zuflucht, nichts wo sie hinkönnen, obwohl sie, leere Volumina, die nichts als sich umschließen, eingreifen dürfen, ohne daß sie jedoch etwas bewirken könnten. Die Hauptfigur folgt ihrer eigenen Spur. Nur wir Zuschauenden verweisen die Lebenden wie die Toten in einem quasi religiösen Akt an den einzigen Ort, an den sie gehören, und das ist der Ort der Unverborgenheit: auf die Leinwand, wo all die Emanationen sich, haben wir uns einmal in den Sitzen niedergelassen, nirgends mehr verbergen können. Auf daß sie umso wirklicher zu uns gehören und wir sie, in einer Art Eucharistiefeier, empfangen können, bis sie sich alle endgültig, wie Schemen, in uns, auflösen. Die Leinwand ist der Raum, der für sie maßgeblich ist, und, obwohl ihnen vorher Maß genommen worden ist, stoßen sie doch manchmal an den Rändern an. Auch die Toten, denn für die Dauer des Filmstreifens leben sie ja. Als, am Ende des Films, der versunkene Wagen gehoben wird, sitzen die drei jungen Frauen friedlich nebeneinander auf dem Vordersitz, die eine von ihnen, die, vom Zuschauer aus gesehen links, bei der Tür, ist genauso friedlich wie die anderen beiden, als wäre sie nie weggewesen, als hätte sie sich uns nie hingehalten. Aber natürlich kennen wir sie besser als die anderen beiden, wir hatten ja eineinhalb Stunden Zeit sie näher kennenzulernen.

 

(Der Aufsatz erschien in METEOR, 1997)

 


Zu "Carnival of souls" © 1997 Elfriede Jelinek

 

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