Wir
müssen weg

Das
Grab soll die Pfanne für die Toten sein, die man hineinhaut wie Eier?
Das Grab ist ja nur etwas, das etwas, das ursprünglich als Sein gedacht
war und Sein auch gewesen ist, egal wie lang, enthält. Man läßt
den Toten hinab, aber man darf zu ihm nicht herablassend sein. Irgendwann
kommt er unten, nach viel Gekurbel Außenstehender, an. Manchmal
Kunstrasen um das Ausgehobene, dessen Gedächtnis man sich aufheben
will. Das Gedächtnis bleibt da, während die echte, die wahre
Nachgeburt, nicht die, die man schon anläßlich der Geburt verloren
hatte, über einen gehäufelt wird: Erde. Man wirft den Toten
Schmutz nach, das mache ich besonders gern. Sie können sich ja nicht
mehr wehren. Dreck auf die Toten schmeißen, das ist mein Hobby,
und ich lasse sie auch kräftig zurückreden. Würden sie
noch leben, könnte ich ihnen das nicht gestatten. Auch wenn sie vorher
gelebt haben (ich lasse am liebsten Tote auftreten, weil sie eben zurückreden,
aber im Zurückreden etwas widerspiegeln; so wie die Sonne, wenn sie
untergeht, sich selbst, wie Gebratenes in dieser mysteriösen Pfanne,
frisch und rot auf die Hügel vor meinem Haus wirft: soviele Tote,
aber sprechen darf nur ich, in der Anmaßung, ich wäre sie alle.
Sie gehören mir, diese Toten, ja! Ein so großer Triumph, wirklich,
ich triumphiere über sie, indem ich sie sprechen lasse, doch in Wirklichkeit
bin immer ich es, die spricht, das ist mein Sieg nicht nur über den
Tod, sondern auch über die Sprache), leben sie jetzt jedenfalls nicht
mehr. Mein Sprechen, das ich ihnen gebe, indem ich es ihnen in den verfaulenden
Mund mit den viel haltbareren Zähnen lege (gibt man ihnen eigentlich
ihr Gebiß, falls sie eins haben, mit ins Grab? Bei meiner Mutter
habe ich kein Gebiß nachher gefunden, ein Gebiß ist das Merkwürdigste
überhaupt, es rahmt das Sprechen ein, nehme ich den Toten also auch
ihr Gebiß, damit sie nur noch nuscheln können, damit dafür
ich mich in makelloser Rede über sie aus der Erde erheben kann, in
der ich selber ja auch stecke? Keine Ahnung. Ahnungen hab ich sowieso
nie) und dann herausschieße, dieses Sprechen der Toten, was wollte
ich sagen, egal, sie sagen es für mich, ich verstecke mich hinter
ihnen und luge bös aus dieser Tarnung, vor der sich zum Glück
die meisten ekeln, hervor, damit ich keinen Angriff der Lebenden abbekomme,
doch die Angriffe kommen trotzdem, was wollte ich sagen, also dieses Sprechen
der Toten, hinter denen ich mich verberge, das schleudert vulkanartig,
schlammlawinenartig (nein, nicht artig, Schlammlawinen werden nicht geschleudert,
sie wälzen sich vorwärts und nehmen alles mit, was dann auch
wieder: Schlamm ist) das Wesen von Menschen hervor, die der Erde, der
Konservendose Erde überantwortet, überreicht wurden, und es
schleudert auch die bösen Säfte heraus, das Botulinum zum Beispiel,
das in der Dose unter Luftabschluß zu keimen begonnen hat. Bin ich
etwa dieses Toxin, das da, unter unzähligen andren, in diesem Stimmengewirr,
aus dem ich mir borgen kann, was ich will, aus dem ich mir die eine Stimme
und dann die andren, vielen Stimmen ausleihe, damit sie sprechen, als
wären sie ich, als wäre ich sie, bin ich also das Gift, das
da mit herausgeschleudert wird, oh, da fliegt schon ein Gebiß neben
mir her, das muß ein besonders vitaler Toter gewesen sein, der redet
so laut und so wütend, der tobt über sein Schicksal so sehr,
daß sein Gebiß mit herausgeflogen gekommen ist, bin ich das
Toxin des Todes, nicht die, die ihn hervorgerufen hat, aber diejenige,
die sich gebildet hat, selber ungebildet, bin ich die, die Tod durch Sprechen
hergestellt hat, oder habe ich ihn dadurch, daß Tote sprechengelernt
haben, gebannt? Nein, das kann ich mir nicht anmaßen, mich dem
Tod in den Weg gestellt zu haben, indem ich als Tote, für Tote, über
Toten, über Tote gesprochen habe. Ich dichte dem toten Sein eine
Geschichte an, die aber immer meine ist, den Toten ists egal, das sind
ja selbst solche Dreckschleudern wie sonst nur ich eine bin. Sie schleudern
also, und weil sie nichts mehr haben, das letzte Hemd hat keine Taschen,
schleudern sie sich selbst. Dankeschön. Jetzt habe ich es gefangen.
Ich lasse die Toten auch lügen, je nachdem, wie ich aufgelegt bin.
Sie liegen da unten, nein, nicht aufgelegt. Aufgelegt schlechte Blätter.
Verlierer. Wenn man es wüßte, wie sie sind, könnte man
sehen, daß sie schlecht aufgelegt sind, denn ihre Stimme hat wieder
nichts gezählt bei der Wahl, die nicht stattgefunden hat, umständehalber,
nein, die Umstände beschreibe ich nicht, es sind halbe Umstände,
wenn überhaupt, die andre Hälfte stammt von mir, nein, andre
Umstände sind es nicht, das würde auch nichts nützen, wir
sprechen ja vom Tod, nicht von dessen Gegenteil. Egal auch das. Alles
stammt von mir. Sie haben nur ihre Leichenüberzüge (meine Mutter
hat ihr blaues Seidenkleid an, in dem sie immer zu meinen Premieren gegangen
ist, wie das jetzt wohl aussieht? Hat es länger gehalten als sie?
Keine Ahnung!), ihre einzigen Bezüge, die sie bekommen haben und
behalten durften, wie Pappbecher. Vieles dort unten ist aus Papier, hat
man mir erklärt, weil das schneller verrottet und weil das Papier
am wenigsten wie Papier aussieht. Es sieht wie Stoff aus, ist es allerdings
nicht, das ist ja sein Zweck. Aber auch wenn sie schon verrottet sind,
die Guten, wieso sollen die eigentlich gut sein?, müssen sie sprechen,
sie müssen mich sprechen, und ich spreche sie, nicht: für sie.
Ich spreche sie. An und für sich müssen sie sich nicht vorstellen,
aber ich stelle sie mir vor, und dann stelle ich sie anderen vor. Sie
haben dabei nichts zu sagen, die Toten. Ich habe etwas zu melden, nämlich,
daß sie tot sind, was sie aber schon wissen. Ich bin also genauso
überflüssig wie sie, die auch schon fast flüssig sind,
nehme ich an. Sie werden Erde, sie werden Werde, also was Anderes, egal
was sie vorher anderes gewesen sind. Sie sind jetzt nicht mehr vorhanden,
und alles, was ich ihnen, indem ich sie sprechen lasse, hinzufüge,
ist ihnen gleichzeitig weggenommen. Auch das ist egal. Sogar wenn sie
noch lebten, wäre es doch so, seien wir ehrlich: sie wären nicht
vorhanden, auch im Leben nicht. Sie ereignen sich mitten unter uns, aber
sie sind meist nicht zu Hause. Sie kommen aus der Ferne näher, sie
leben noch immer, meine Damen und Herren, sehen Sie das denn nicht? Nein,
Sie sehen es nicht, Sie sehen ja nie etwas. Also mache ich, daß
sie tot sind, vielleicht sehen Sie sie jetzt besser? Bevor sie tot sind,
müssen sie sich in vielen Ereignissen, die zu ihren kleinen Leben
gehören, ereignen, am Berg, in der Flut, im Wohnzimmer auf dem Sofa,
wurscht. Aber die Lebenden können sich ihre Geschichte nicht selbst
machen, sie können sie sich aber auch nicht anfertigen lassen wie
ein Hemd (sie paßt ihnen genauso wenig wie ein Leichenhemd, haben
sie erst mal eine Geschichte, die paßte ihnen dann meist nicht,
das ist eben genau wie mit diesem letzten Hemd); er kann sie nicht ändern,
er kann gar nichts, der Lebende, er kann von sich ergriffen werden, er
weint über ein Schicksal, meist sogar sein eigenes, aber auch er
kann genauso in die Pfanne gehauen werden, auch als Lebender, danach käme
er frischgebacken in die Truhe, auch das können Sie wählen,
das mache ich Ihnen auch, auf Bestellung, in Extraanfertigung, ganz wie
Sie wollen, aber er muß aufpassen, daß nicht ein andres Unwesen
ihn trifft, das auch noch lebendig ist, das Unwesen eines Nächsten,
der jedem Menschen der Fernste überhaupt ist. Daher ist die Wucht
immer so groß, mit der die Lebenden von jedem Scheiß getroffen
werden können. Weil das Kommende immer vom Nächsten kommt. Den
Toten ists egal, denen kommt es nicht mehr, denen kommt, was ich ihnen
sage. Ist der Tod vielleicht ein Zurückgehen, sodaß einen immer
wieder etwas treffen kann, obwohl alles ordnungsgemäß, von
Ämtern und Behörden bestätigt, zu Ende ist? Ist er das
Gehen in eine Sackgasse, an deren Ende ich schon warte, grinsend wie der
Tod selber, daß ich wieder eine echte Inspiration bekommen habe
von einem, der sich nicht mehr wehren kann? Ist er überhaupt kein
Gehen, sondern ein Bleiben, damit ich in Ruhe alles von diesem ehemaligen
Leben, das ich selber erst mühsam herstellen muß, abschöpfen
kann, bevor es noch richtig gestockt ist?, (deshalb weiß ich auch,
daß der Tod viel weniger Arbeit hat als das Leben, deshalb macht
er wahrscheinlich so oft Dummheiten. Er hat einfach zuviel Zeit). Wer
weiß denn schon was über welchen Menschen? Niemand kann etwas
wissen über keinen, ich meine: über jemanden, also ist das Gegangensein
des Toten ein Bleiben? Ein Hin- und Herrennen in der Sackgasse, denn den
Ausweg habe ich natürlich vorher verstopft; und weil der Tote ja
nicht mehr sehen kann, habe ich auch noch das allgemein gebräuchliche
Schild: Sackgasse angebracht, in die Erde gehämmert. Der Tote kennt
sich gar nicht mehr aus. Gut so. Ich sage ihm alles, ich sage es ihm ein,
und dann sage ich es heraus, ich meine hinaus, frei hinaus, ich bin ja
noch so frei. Da ich den Toten das, was gewesen ist, und sogar das, was
nicht gewesen ist, in den verfallenden Leib hineindichten kann, wobei
die nicht gedichtet sind, sondern ausrinnen, ausrinnen nach wie vor und
wie immer, bis nichts mehr da ist, außer Staub und Erde, da mein
Dichten nie ein Dichten, sondern eher ein Fließen ist, spreche ich
und spreche ich wieder und widerspreche mir und höre nicht auf, mir
zu widersprechen. In ihrem Namen. Nicht ihre lieben Namen. In ihrem Namen.
Ich gehe an den Anfang der Namen zurück, und dann vergesse ich auch
die. Es ist der schönste Moment, wenn ich ihre Namen vergessen habe,
an den Anfang zurück mußte, weil ich die falsche Zahl gewürfelt
habe oder warum auch immer, alles auf Anfang, der nicht das ist, was bisher
war (was bisher geschah, kurz nacherzählt), sondern der Anfang überhaupt.
Der Anfang schlechthin, also schon schlecht, von Anfang an. Dieses Ende
ist meins, ziehen Sie nicht so an Ihrem anderen Ende! Ich bin stärker!
Mir gehören sie, die Toten. Mir gehört alles. Ich kassiere sie
ein wie Spielsteine. Sollen doch froh sein, die blöden Toten! Sollen
nicht widersprechen, und auch ihre Angehörigen sollen keinen Widerspuch
einlegen, und wenn, dann nicht bei mir (wie sie es zu mehreren nach "In
den Alpen", wo ja fast nur Tote auftreten, getan haben, als wäre
ich schuld an irgendeinem mir unbekannten Tod gewesen und nicht die Bergbahn
mit ihrem illegal montierten Heizlüfter und dem Lärchenholzkästchen,
ja, das kann auch Tod bedeuten, testen Sie es unruhig in einem Heimversuch!),
die Toten sollen sich endlich hinlegen, sie sollen sich mir nicht verweigern,
die ich ohnedies schon ganz durchtränkt und durchdrungen bin von
ihnen, und wer macht die Sauerei jetzt weg?, die sollen sich nicht gegen
mich wehren, die Toten. Und sie wehren sich auch nicht, weil sie es nämlich
nicht können, ha! Sie müssen sich mir anheim geben, aber ein
Heim haben sie in mir nicht, denn ich schütze sie nicht, im Gegenteil,
es ist so schön, sie ununterbrochen wieder rauszuschmeißen.
Ich habe sie ins Gesicht gekriegt wie eine Cremetorte, und jetzt schmeiß
ich ihnen das alles wieder zurück. Gegen Lebende mich zu wehren würde
ich mich nie trauen. Aber die Toten, die krieg ich, die krieg ich! Deren
Sein verschenke ich an jeden, der es haben will, auch wenn es ihnen gehört.
Mich kümmert das nicht, mich bekümmert das nicht. Sie können
nichts gegen mich unternehmen, gar nichts, und mit den Angehörigen
werde ich auch noch fertig, nur mit dem Sprechen werde ich nie fertig,
nicht mal mit meinem eigenen, das aber zum Glück unhörbar ist.
Es ist in mir drinnen wie die Toten in der Erde. Meine Gegenstände
erschlagen, überwältigen mich, aber ich spreche. Sogar tot würde
ich noch sprechen und meine blöden Witze reißen wie ein Raubtier,
das Beute reißt. Ja, Sie, schauen Sie nur von Ihren Zeitungsaugenblicken
und –ausblicken hoch, dort werden Sie die Wahrheit auch nicht finden!
Die wissen nur die Toten. Also müssen Sie sich schon an mich wenden,
wenn Sie etwas über das Schicksal Ihrer Lieben erfahren wollen, die
Ihnen nicht lieb sind und nicht lieb zu Ihnen waren. Aus. Anfang. Alles
auf Anfang. Das Ende finden Sie schon noch, keine Sorge. Ich entscheide
darüber, und ich entscheide, daß das ein Ende haben muß,
damit ich endlich befreit, frisch von der Leber weg, wie man sagt, sprechen
kann. Herr, der Sie glauben, nur Zuschauer zu sein, hören Sie doch
mich, daß ein Ende mit mir haben muß, ja, auch mit mir, ganz
recht, und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. Und ich sprechen
darf. Und ich davon sprechen darf, denn sehen Sie, meine Tage sind eine
Arbeit und mein Leben ist wie nichts vor Ihnen.
Geschrieben
für «Sonderstück», den Jubiläumsband zum 30-jährigen
Bestehen der Mülheimer Theatertage, erscheint Mitte Mai im Friedrich
Verlag, Berlin.
22.3.2005
Wir müssen weg © 2005 Elfriede Jelinek

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