Wildes, grandioses Wasser
Wildes, grandioses Wasser, fällst mit hocherhobenem Köpfchen, auch wenn man Dich bereits gezähmt hat! Hier, wo du grade brausest, bist du noch nicht einmal gechlort für die Wohngebieter, die sich in der Stadt unter die Dusche stellen und dich auch noch trinken wollen, aber lieber trinken sie etwas Besseres. Von den Hängen der Hochalpen, wo wir zur Zeit grade sind, stürzest du dich herab, um von uns fortzukommen und etwas Nützliches zu tun, vielleicht auch etwas Lustiges zu unternehmen, eins nach dem anderen, zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen, kühl und klar, frei Haus. Die niederösterreichisch-steirischen Kalkhochalpen können von mir aus zugrunde gehen ohne dich, sie wüßten ja nichts mit dir anzufangen, oder nein, so ganz stimmt das nicht, es war zwar nicht hier, aber gleich daneben: ein ganzer See mitsamt den Anrainerbäumen verschwand im Kalkgebirge! ein Schluck und weg, als wäre er sich nicht selbst genug gewesen, der See, als wollte er jemandem anderen gehören, dem Berg, ein großer See, ja, der hat Fortschritte gemacht, nur in die rückwärtig gewandte Richtung, hinein, weg von den staunenden Besuchern. Und die gaffend herumstehenden Bäume hat er auch gleich alle mitgenommen, damit er nichts Gewohntes missen wird müssen in seinem unterirdischen Bergverlies. Die Besucher hat er da gelassen. Du liebes Wasser du, wirst von den steilen Forststraßen, den Hängen, den Matten, den Felsen aufgelesen, siehst zuerst entzückend, durchsichtig, glitzerig aus, dann wirst du Schlamm, wirst zu Boden, während wir, gemeinsam mit dir, in die bodenlosen Kalklöcher hineinfallen, aber nur in die kleinen, Dolinen, die Seen fressen könnten, gibts hier noch nicht. Da müssen Sie viel weiter in den Süden. Wasser: Du kommst, ja, auch dies frei Haus, mitsamt dem Boden in die Häuser der Gegend, um einmal nachzuschauen, was du versäumt hast, als du beschlossest, ein Wilder zu bleiben. Da haben sie dir aber einen Strich durch die Rechnung gemacht (und ein Mineral zusätzlich hatten Sie auch noch, oder?), als sie dich faßten und durch die Rohre schickten, mit keiner Botschaft außer der Reinheit selbst, wozu man dich erst mal auffangen und festhalten mußte. Wie glücklich war man da zuerst, deiner inmitten der Almen habhaft geworden zu sein, du willst ja immer nur wegrennen, doch bald bist du zur schlichten Tatsache geworden, die man auch essen kann, falls man sie immer noch nicht fassen kann, also wurdest du natürlich gefaßt, damit man dich, allerdings sehr verdünnt, wie alle Wahrheiten hier, dennoch glauben konnte. Hier, zu Füßen der Schneealpe, und bald höher hinauf, jagt ein Mann im bunten Jogger dahin, als würde er selber fließen, ein Schatten auf Steinen, außerhalb der Welt Augen, den überflügelt so leicht keiner. Das ist wieder typisch: ein Unruhiger, der sein geheimes Versperrtes kaum unter der Haut festhalten kann, deshalb sitzt sein Gewand auch wie eine zweite Haut. Sein energisches Wollen, das gefällt mir. Doch ist er nicht einer von denen, die etwas Gutes wollen. Fein. Seine Unzufriedenheit gefällt mir auch. So setzt ich ihn mir zusammen und beurteile das Ergebnis. Was ihn zufriedenstellen würde, gefällt mir wieder nicht so gut. Ich hoffe bloß, der von ihm vorgesehene Unterjochte, wer immer es ist, wird mitspielen, wenn es soweit ist, na, das kann was werden, der Gehorsame unterdrückt den Unterwürfigen; der Mann würde sich dem Wasser sogar entgegenstellen, könnte er es denn finden, aber das Wasser ist endgültig drunten eingesperrt, selbst ein sehr großer Ort, es zerfließt, während der Mann seine Grenzen doch sucht. Sein Vorgesetzter zeigt sie ihm, und er nimmt sie, scheinbar unterwürfig, an. Gefällt mir auch gut! Er findet sie trotzdem nicht, die Grenzen, so wie er das Wasser nicht finden kann. Es ist unter die Erde gebracht. Die Erde ein Lippenpaar, das es aufgenommen hat, der Mann in seiner zornigen Finsternis würde sich dort nicht hineinlegen mögen, dort ist schon das Wasser, für ihn ist nirgends Platz. Sogar Häuser schluckt der Boden, denken Sie an Lassing und die Folgen! Das Haus, das ins Innere der Erde gerutscht ist, können Sie immer noch teilweise besichtigen, wenn die Anrainer es Ihnen erlauben, man sieht sogar noch die Blumenkästen. Die Anrainer wünschen keine Menschen, die Katastrophen schön finden, doch sie haben jetzt an sich selber einen Ort, wo Besucher jederzeit hinfahren können, nur um zu schauen. Und nicht einmal d iesen Ort fänden sie von allein, sie müßten auf die Landkarte schauen. Nur in einem Haus kann er sich sicher fühlen, glaubt der Mann trotz allem was mit Häusern passieren kann, mit Verschwundenen brauchen wir keinerlei Nachsicht zu haben, denn man sieht sie ja nicht mehr. Gerade plant er einen zusätzlichen Abstellraum im Keller, unter der Treppe, wenn er hier etwas wegnimmt und dort dafür etwas hinbaut, und wäre es ein Hohlraum, ein Nichts, das ja auch Mauern braucht, sonst gäbe es das ganze Haus nicht, das selbst ein Hohlraum ist und nur, ähnlich der Lichtung im Wald, erst eins wird, indem es Grenzen bekommt, bestehend ebenfalls aus Wald. Ob das wohl davon herrührt, daß dieser Mann in seiner respekteinflößenden Einsamkeit seine Grenzen eben: verloren hat und jemand kennenlernen möchte, der sie ihm endlich wieder zeigt? Oder ist er selbst der Grenzenzieher, hat er in sich etwas zu vergessen? Was braucht er, damit er sein Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen, sondern in einen schön möblierten Raum hineinwerfen kann? Wir hingegen in unsrem Rechtlichkeitsgefühl müssen gar nicht weit gehen, um unsere Grenzen zu finden, es genügt, wenn wir drei Stunden lang rennen, bis uns die Zunge heraushängt, dann lesen wir die Landeszeitung, die nicht will, daß die Grenzen von Fremden überschritten werden, außer sie buchen Hotelzimmer oder finden in unsren Bauernhöfen Unterschlupf. Es sind Wärmebildkameras erfunden worden, um die Grenzen zu kontrollieren. Menschen, die Schutz suchen, erkennt man im Sucher sogar noch, wenn sie sich zu Boden schmeißen. Auf den Menschenteppichen rutscht niemand mehr aus, die werden jetzt eingesammelt und in den vergitterten Abfallbehälter geworfen. Wir wissen wieder alles, was wir an Menschlichkeit vergaßen, wenn wir Tiere angesehen haben und sie dann wieder uns. Und wir wissen wieder alles, wenn wir die Fremden durch die Wä ;rmebildkameras angesehen haben und sie uns nicht, sie haben nämlich ihrerseits solche Kameras nicht. Ja. Auch wenn sie am Boden liegen, sehen wir sie noch: Aha, dort ist sie also, unsere Grenze, wir werden sie schon finden, wenn wir sie einmal verlegt haben. Spätestens wenn der Partner fremdgeht, werden wir ihm unsere Grenze gewiß zeigen können. Der Gendarm hat sich ganz allein fürs Laufen schon eine spezialisierte Uhr und einen Pulsfrequenzmesser und ein Messer solo angeschafft, damit könnte er einen Fremden eine Woche lang verköstigen, wenn der auf Uhren steht und weiß, wie man sie zubereitet. Der Gendarm weiß, und es ist ein bescheidenes Wissen: früher war das Wasser noch hier, direkt unter mir. In diesem Geo- Informationssysstem hat er sich ausgekannt. Boden, Wasser, Wald waren unverzichtbar, sie haben, wie er, einen höchst komplexen Aufgabenbereich und dürfen sich nicht irren. Jetzt haben wir die Natur leider verloren und Ordnung gemacht. Das Wasser gehört in den Boden, der Wald gehört auf den Boden, das Wasser gehört nicht auf den Boden drauf, und der Wald gehört nicht ins Wasser hinein, sonst geht das Wasser über, ich meine, sonst kommt es über uns. Solche Entscheidungen in politischer, wirtschaftlicher und förderungstechnischer Hinsicht, mit äußerst weitreichenden Konsequenzen, muß ich dauernd treffen, wenn ich über die Natur etwas auszusagen wünsche. Anders kann man es nicht sagen, denn die Natur gibt es ja nicht mehr. Die Natur ist das Gegenteil von etwas, das uns etwas zu sagen hat, obwohl sie uns oft sehr zusagt. Daher müssen jetzt wir es sagen. Die Natur ist nirgendwo zu sehen. Bitte reichen Sie mir Ihre effiziente Planungs- und Entscheidungsgrundlage, auf dieser Grundlage werde ich dann etwas ganz Neues über die Natur schreiben können, falls Sie das allen Ernstes von mir erwarten. Als Kind ist der Gendarm mit seinem Vater manchmal drunten im Tal neben dem Bach entlang geradelt, während es beruhigend sprudelte, gerade erst angekommen von des Berges Höhe, und, noch mit dem Schwung seiner Herkunft von ziemlich weit Oben, über die Steine hupfte, sein eigen Werk, denn alles Wasser kommt aus sich heraus, daher gehört es sich selbst und keinem anderen und wir haben es dann gestohlen und vernutzt, oder nicht? Und herumspaziert ist der Sohn mit dem Vater auch, der Vater war freundlich, manchmal sogar gütig und beschützend wie eine Hütte in den Alpen, im Gegensatz zum Wetterhäuschen, bei dem man nie weiß, woran man ist, einmal ist das Mädel draußen, dann wieder der Bub, und man kann sich nicht entschieden, was von beiden einem besser gefällt. Man hat die liebe Vorstellung, daß sich einem der betreffende mit dem nackten Gesäß, die Beine links und rechts wie ein Paar Kirschen über den Ohren hängend, aufs Gesicht setzt, und dann denkt man dabei manchmal unwillkürlich: doch lieber der Bub. An dem ist mehr dran. Vielleicht ließ der Vater, auch ein Gendarm, an Farbigkeit seines Wesens etwas zu wünschen übrig, wenn wir schon beim Wasser sind, der war so, als könnte sich nichts in ihm spiegeln, das sich erkennen ließe, als wäre sein Inneres verarmt gewesen unter dem Druck des Aufstiegs und der dauernden Pflichterfüllung, mit der der Kleinhäuslersohn sich bewähren mußte. Obwohl für den Sohn immer alles da war, wenn er es brauchte, das macht man so: einmal das Kind unbeachtet lassen, dann wieder streng sein, was nur gerecht ist, da man das Kind, das man erbaute, längere Zeit links liegengelassen hat, bis es einmal über die Kellerstiege fiel. Das Kind streng bewachen, womöglich öfter mal beschlagen, damit ihm die Beine schwer werden. Das tut ihm mehr als gut, weil es den Unterschied in den Haltungen des Vaters bereits fr&u uml;h, und zwar nach dem Tiergerechtigkeitsindex, erkennen kann. Eine Haltung ist tiergerecht, wenn folgende Punkte geklärt sind: Bewegungsmöglichkeit, Bodenbeschaffenheit, Sozialkontakt, Stallklima (Lüftung! Licht! Gott!) und Betreuungsintensität (Lehrer! Stock! Stein! Schlag!). Es werden dafür Punkte vergeben, und mehr als 25 sollten es schon sein, wenn das Kind die Prüfung machen soll und die Eltern sie bestehen sollen. Im Vorüberwandern nickt der Vater dir zerstreut zu, nun, da wird er dich nicht schlagen, zumindest die nächsten zwei Minuten nicht. Er wird vielleicht die Mutter schlagen, das macht er nämlich noch lieber, aber dich nicht. Diesmal noch nicht. Nächstes Mal vielleicht wieder. Der Vater ist inzwischen tot durch den Krebs. War es nicht gestern noch, da er, als Leseübung, den Buben in der Stadt die Aufschriften der Geschäfte vorlesen ließ? Der Bub schaut, was liegt in der Auslage, dann sagt er den Namen des Geschäfts. Falsch. Es gibt aber nur die Dinge, die man sehen kann. Sogar Wälder, allerdings wiederum nicht solche mit vorrangiger Wohlfahrtswirkung, denn die sollen ja uns schützen, wehren Gefahren ab, indem sie Menschen, Siedlungen und Anlagen, welche die behördlichen Maßnahmen oder Unterlassungen nicht einhielten, zu Brei zermantschen. Ja, sie kommen persönlich herab, die Wälder, wenn sie eine Wut haben, wer hätte das von ihnen gedacht, es tut ihnen nicht leid, jetzt dafür Sie leiden zu sehen, dessen Haus vorhin noch hier stand! War er nicht lieb zum Sohn, der Vater, dem der Sohn fast an den Scheitel hochging, nachdem ihm der Vater absichtlich auf die Zehen getreten war? Der Sohn soll gefälligst die Füße heben beim Gehen. Wenn Sie das lieb finden, könnten Sie genausogut auch die Büsche in meinem Vorgarten als Zierde betrachten. Der Vater hat sich um den Sohn Verdienste erworben, doch er blieb wie in einer schillernden, fernen Fremde, verschwommen in Wasser, der Vater, und so soll es ja auch sein. Das Kind soll auf einem Foto den Vater dankbar anschauen. Dann brauchen wir dafür wieder ein, zwei Jahre das Kind nicht. Für einen Käsekuchen wäre es ein unerhörtes Ereignis, eine Leiter hochsteigen zu können, für einen Mann ist das eine winzige Aufgabe, eine Kleinigkeit, falls er nicht bereits ein Greis ist oder gelähmt. Ich will damit nichts sagen als: jedes Kind will seinen Vater bewundern, egal wofür, doch nicht einmal Wirtschaftsförderung bekommt man, egal wofür. Die Mutter hat sich um den Rest zu kümmern, das ist mehr, als ich vergessen könnte, in diesem Fall war die Mutter eine heimliche Rotweintrinkerin, wie es viele Frauen in dieser Gegend sind. Wo die Wasser nicht bloß flott dahin marschieren, sondern immer gleich stürzen, ich sagte es schon, man erwischt sie nicht so leicht, dafür darf der Wein in Strömen fließen, den Doppler behalten wir gleich in der Küchenbank und setzen uns dann drauf. Wenn wir ihn brauchen und noch aufstehen können, haben wir ihn gleich, wir müssen bloß den Banksitz hochklappen. Die Mutter wird doch noch imstande sein, ihre Hausbank zu plündern. Die ist groß und gehaltvoll genug, besonders wenn man sie doppelt sieht, sich zu öffnen, damit der ganze Wein in seinem flaschengrünen Kleid, eidechsengleich, in ihre Hände gleiten und in einer fließenden Bewegung in einem Mund, immer demselben, verschwinden kann. Was zeichnet die Muttersohnbeziehung aus? Ein Naheverhältnis von Warmherzigkeit, Verständnis und anderen positiven Aspekten würde sie auszeichnen, wenn sich ein solches Verhältnis herstellen ließe. Ich muß nun etwas zurücktreten, denn ich Unwissende kenne nur Muttertochterbeziehungen, und auch die sind nicht grade von der reifenden Sonne liebkost. Als Beilage zu allem, nur leider viel zu selten über uns: der Himmel von einer unbeschreiblichen Bläue, mit scharf abgezirkelten Wolken drauf, dahinziehend und sich in geöffneten, libellenartig schimmernden Fensterflügeln spiegelnd, mütterliches Nicken zeichnete eben noch Schlieren über die Scheiben, halt, da bewegt sich noch einer! Das darf nicht sein! Mama, du hast eingenäßt und dich am Popo schmutzig gemacht, während du bettlägerig warst, spricht der Sohn. Und er fährt, weil es ihm nötig scheint, fort: Hoffentlich wird mich das Leben einmal weitertragen zu einem Menschen, der gütig zu mir ist, wie Blumen, die eine fleckige Hausmauer verbergen, wenn man sie nur herzlich darum bittet und anständig düngt.
Aus Gier. Ein Unterhaltungsroman (Arbeitsfassung). Erschien im Herbst 2000 bei Rowohlt, Reinbek. |