Um die goldene Gams

In
stolzer Selbstbetrachtung stapfen die Betrüger durch den Schnee, sich
selbst betrügen sie nicht, und ihr Leben trügt auch nicht: Sie sind da.
Sie sind angekommen. Im Schnee, der hoch aufstäubt. Ich könnte Namen nennen,
ich sehe die Fotos und lese darunter, wer das ist, viele erkenne ich,
Leute, die für uns aufgerichtet wurden wie Symbole, Fetische, Kreuze,
nur ohne das dazugehörige Leiden. Leiden müssen halt andere. Kitzbühel,
Hahnenkamm-Wochenende, Ende Jänner, es ist also schon alles vorbei, doch
woanders fängt es jetzt erst richtig an. In der libyschen Wüste lassen
sie es jetzt krachen: der Diktator und seine Brut, seine feschen Söhne,
von denen einer schon irrtümlich ein paar Schweizer Hotelangestellte als
Sklaven zu halten versucht und verprügelt hat, macht ja nichts, dafür
nehmen wir ein paar Geiseln, dafür nehmen wir gleich die ganze Schweiz
und teilen sie auf, prügeln ist ortsüblich, üblich, gar nicht so übel
in diesem Land, in dem es nur einen Tyrannen gibt plus Tyrannen-Abkömmlingen,
einer eifriger im Tyrannensein als der andre, dort lassen die Herrscher
jetzt also schlägern, und die Menschen fallen, der Wüstenstaub fliegt
hoch, die Menschen fallen in den Staub, zu dem sie aber ohnedies werden
sollen, denn dort läßt die Tyrannen-Sippe ihr Volk zusammenkartätschen,
zusammenmörsern, zusammenschießen, zusammenbomben, vielleicht damit sie
wissen, daß sie zusammengehören.

Aber noch sind wir nicht soweit, noch sind wir alle Freundinnen und Freunde,
wir machen Feier-Marathon, Glamour-Auftritte, Party in Kitzbühel.
Das war davor. Bevor, ja, genau, er ist es!, erwischt: Saif al-Islam Gaddafi,
das pausbäckige, hübsche Aushängeschild der menschlichen
Seite des Diktators (ich gehe um ihn herum, virtuell, aber ich sehe keine
solche Seite, er hat sie auf diesen Sohn ausgelagert, so sagt man, und
in Kitzbühel konnten die Partybesucher sich diese Seite also anschauen,
so wie ich mir diese Seite mit den Fotos anschaue), durchs Bild gehuscht
und dort gebannt wurde, aber nur kurz, von zu Hause hat ihn niemand verbannt,
denn bald darauf mußte er ja wieder in Tripolis sein und seinem
Volk den Herrn zeigen, das begonnen hat, sich mit Demokratie anzufreunden
und nicht mit den Partyfreuden in Kitzbühel, von denen das Volk sicher
mehr gehabt hätte, und Schnee! Pulverschnee! Schiwettrennen!, sowas
kennen die ja nicht, das hätte ihnen bestimmt gefallen, den Libyern.
  
Alles
geht um die Welt, vieles nur abgebildet, Abbilder von Menschen auf Papier,
auf Bildschirmen, und die Welt dreht sich dafür um uns, ihren guten
Kern, bei der Kitz Race Night zum Beispiel, alles dreht sich, alles bewegt
sich, warum die Welt also nicht?, die ist auch dabei!, die rüttelt
ja auch, an Häusern, an Kernkraftwerken, an Menschen, die schleudert
Fluten, warum also sollte sie sich nicht auch drehen, und zwar nicht nur
um sich, sondern ausnahmsweise mal um Saif und seine lieben Freunde? Darunter
den ehemaligen Finanzminister samt Gattin, Kindern und Hunden, ja, die
dort, in dem hübschen Bauernhaus in Kitzbühel, wo die Balkone
unter der Last der Geranien und der Verantwortung (Entschuldigung, nein,
verantworten muß der sich ja nicht!) stöhnen und ächzen.
Die Welt ächzt nicht, die dreht sich halt um solche Leute und andre
bringt sie unter die Erde, die Welt ist so launenhaft, das gibts nicht,
in Kitzbühel schmeißt sie mit Schnee, in Libyen mit Sand, in
Japan mit atomaren Spaltprodukten und Wasser. Auch wir haben einen guten
Kern, nur spaltet den keiner, sonst hätten wir sogar zwei. Nein,
uns wirft sie nicht raus, die Erde, sie dreht sich, sie dreht sich, die
Schifahrer klammern sich an ihre Erd-Oberfläche, um nicht abgeworfen
zu werden (passiert leider doch ab und zu mal), in Kitzbühel drehen
sich die Menschen, wie Blutflecke in die Landschaft gesprenkelt, dort
fliegt einer hin und muß abtransportiert werden, im Hubschrauber,
hier fällt einer folgenlos, dort zerreißt sich einer die Bänder,
die Menschen hier müssen nichts üben, weil sie es schon können,
sie müssen höchstens Schifahren üben, sie müssen üben,
einen Sport auszuüben, und die übrigen, die Übriggebliebenen,
die nicht in die Tenne hineinkommen, müssen üben zuzuschauen,
wie andre abtanzen, vor wieder anderen, die sich dann die Fotos anschauen
(ich!) und blind an die Schönheit derer glauben (ich nicht!), die
sie hier abgebildet sehen. Das nette Pausbackengesicht des Diktator-Sohns,
ja, ich sehe es, ich sehe es genau, er trägt irgendwas Graues, er
trägt nicht das Grauen, das er über die Menschen bringt, das
trägt er in sich, aber er spürt es nicht, er ist so wunderbar
vertieft in sich und die Musik, mit seinem Schmollmund und seinen ergaunerten,
erkauften Diplomen international renommierter Universitäten, macht
ja nichts, ist ja alles zu haben, und beim Stanglwirt kümmert das
keinen, weil da erkauft man sich sowieso alles (nur manche kriegen etwas
geschenkt, aber das sind die, die schon alles haben, die wüßten
gar nicht, was sie sich noch kaufen könnten); so, man kauft sich
die Weißwürst bei der Weißwurstparty, man kauft sich
ein Essen, Gekaufte kaufen ein, Kauflustige kaufen andre, lustig sind
sie alle, verkauft sind wieder andre, dort in der Wüste, verkauft
von ihrem Herrscher, der sein Volk ausrotten will, falls es ihm nicht
unbedingte Treue leisten mag und sich auflehnt. Und dann kauft er sich
ein neues, er hat sich ja bis jetzt alles kaufen können, was er haben
wollte, uns und unsere Erdölgesellschaft auch, und in unsere Gesellschaft
hat er sich ebenfalls hineingekauft. In Kitzbühel lehnt sich keiner
auf, das sind die Lehnen selbst, die Stützen der Gesellschaft, an
uns könnt ihr euch ruhig anlehnen, sagen sie, wir weichen nicht,
und fallen werdet ihr, nicht wir. Auftritt einer schönen Frau im
schwarzen durchgezippten Mini, neben ihr der ehemalige Minister, den sie
geheiratet hat. Sie lachen, sie lachen, sie lachen. So feiern die Kitz-Promis,
steht hier. Mittendrin Saif, der Sohn des Herrschers, wenig später
wird er seinem Volk sagen, daß er alle ausrotten und vernichten
wird, die gegen seinen Vater und ihn und seine Geschwister sind, alle
ausrotten, als Terroristen vernichten. Der Mann wird sich nicht selbst
beherrschen können, aber dafür alle anderen. Bald fliegen wir.
Bald fliegen wir mit Wichtigen hin oder sind gar schon geflogen. Andre
wieder, die geflogen sind, sind heute schon tot. Nein, wir fliegen nicht
in den Schnee, wenn es uns hinschmeißt, wir fliegen über die
Wüste, wir fliegen über den Sand, wir wissen, daß uns
das erlaubt sein wird, wer sollte uns das auch verbieten? Sie beraten,
bitte, sollen sie beraten, aber verbieten wird uns das keiner, daß
wir unser Volk zusammenhauen, von oben, von unten und aus der Mitte heraus.
Es wird genug übrigbleiben, das wir beherrschen können. Ein
paar Konten werden gesperrt, ein paar Villen (zumindest eine, in London)
werden besetzt werden, wir haben genug, von uns hat niemand genug, wir
haben genug, wir können uns das leisten, unser Volk umzubringen.
Wer sollte uns das verwehren? Wer sollte uns verwehren, fast Wehrlose
umzubringen? Die Weltgemeinschaft berät, die eine Hälfte ist
dafür, die andre dagegen. Eben. Aber vorher noch nach Kitz zum großen
Rennen, zur Weißwurstparty, zum Grillen, zum Chillen, wo die Schifahrer
uns sind zu Willen, die modernen Gladiatoren, die Söldner des Spaßes
und des Sports, aber zu ihren eigenen Zwecken, nämlich um zu siegen,
na, das will er auch, der Saif al-Islam Gaddafi, der will siegen, aber
über sein Volk, eine Schipiste würde dem nie genügen. Die
Piste ist nur eine kurze Abwechslung, die braucht man schon. Die besucht
er gern, im schönen Österreich, im Land Tirol, das heilig genannt
wird, aber einem andren Gott gehört als dem, an den Saif glaubt,
macht ja nichts, ist ja alles eins, es gibt nur einen Gott, allerdings
tritt er unter verschiedenen Namen an, vielleicht gegen sich selbst? Gegen
die Konkurrenz? Das scheint ihn zu beschäftigen, dieser Wettkampf
scheint ihn ganz in den Bann zu ziehen, den Gott, welchen auch immer,
da kann er sich um Völker und Völkerrecht nicht kümmern.
Der Gott, wie immer er heißen mag, schmeißt die Leute in Kitz
zusammen, auf einen Haufen, es ist ja alles eins, er wirft sie zum Tanz
um die goldene Gams, das ist die ortsübliche Variante des goldenen
Kalbs, ist dasselbe, schaut aber anders aus. Extravaganz ist ausdrücklich
erlaubt. Der Gott, wie immer man ihn nennt, der hält viel aus, in
den kann man sich wunderbar vertiefen, im Gebet, dann sieht er nichts,
wenn seine Kinder tief in ihm stecken, alle in ihm, in einem, und es sind
viele Kinder, die Schlagersänger, die andren Schlagersänger,
noch mehr Schlagersänger (vielleicht können ja die vom Schläger
Saif ablenken?), Promi-Ehepaare (ich kenne sie nicht, aber alle kennen
sie), die feschen Töchter, Dancing Queens, die gut erhaltenen und
glänzend gelaunten Schwiegermütter, noch mehr nette Spitzbuben,
auch weibliche, die pfiffige Münchner Schauspielerin, bekannt aus
Film und Fernsehen (was ja alle sind, die bekannt sind, woher sollten
sie auch sonst bekannt sein?), ja, und Politiker, gemütlich und privat
in Kitz, Newcomer und alte Hasen, junges Glück und noch mehr Schauspielerinnen,
die ihr erstes, zweites, drittes oder viertes Kind erwarten. Und draußen
stäubt der Schnee, drinnen wird gefressen, von Menschen, die ausschließlich
sich selbst angehören, und dazu ein Angehöriger, nicht von sich
selbst nein, selbst gezeugt hat er sich nicht, aber hätte
er, hätte er sich ganz genauso gemacht , sondern von seinem
Papa, dem Diktator, Saif al-Islam, von Beruf Sohn, beim Kitzbühler
Wochenende, daneben der Schnee, in, über, unter uns die Kälte,
aber Rosis Schnitzelessen oder der Stanglwirt, die werden uns schon einheizen,
da hat die Kälte keine Chance mehr. Und in der Wüste ist es
zumindest tagsüber sehr heiß. Dort fahren wir jetzt hin, denn
die Wüste ist weit weg, egal, wir reisen gern. Gott ist in uns, wir
sind im Gott drinnen, in stolzer Herrschaft über alle anderen, die
nicht eingeladen sind, zum 20-Jahr-Jubiläum der legendären Weißwurst-Party.
Dabei gibt ja noch ein berühmter Sportler, sehe ich gerade, emeritiert
aus einer andren Sportart, sein Hahnenkamm-Debüt, seine Frau ist
nicht dabei, die ist mit dem Kind daheimgeblieben, sehen wir wiederum
bedauernd, die hätten wir auch so gern auf dem Foto draufgehabt,
obwohl wir sie schon oft auf Fotos gesehen haben. Noch mehr Schnee, keine
Wüste, Star-Aufgebot zur Kitz Race Night, noch mehr Stars, Sterne
über der Wüste, die wir hier aber nicht sehen und nicht brauchen,
nicht die Sterne und nicht die Wüste. Wir haben uns dem Schnee geweiht,
wir spielen in aller Gemütsruhe, ohne beißende Sonne, nein,
bei uns beißt die nicht, die leckt uns die Hand, damit wir uns unter
sie in den Liegestuhl legen, und wir spielen mit uns selbst, weil wir
keine anderen kennen wollen, außer jeder, wirklich jeder, kennt
sie. Wir nehmen mit uns selbst vorlieb, weil uns die Feiernden (mit Gatten,
mit Kindern, mit Schwiegereltern, mit Eltern, mit Freuden, ohne Leiden,
dafür mit Saif al-Islam Gaddafi) nicht lieben, die müssen mit
dem Quizmaster jetzt den Ententanz tanzen, in aller Beweglichkeit, die
sie haben, denn sie haben fleißig trainiert, ja. Schön den
Hintern rausstrecken! Vor Gesundheit strotzend (außer sie haben
sich Bänder gerissen oder Köpfe aufgesprengt), stehen sie alle
da, nein, sie stehen nicht, sie tanzen, sie tanzen, Saif darunter: erwischt!
Saif war da, bald wird er wieder zu Hause sein und sein Volk zusammenschießen
lassen, damit es, endgültig zusammengeschlossen, bei seinem Papa
bleibt, was es im Grunde ja auch will, weil der Vater das Volk liebt,
er, Gottes Sohn, bleibt ja auch beim Vater, und wer hätte ihm sonst
seine Universitätsdiplome bezahlt, wer andrer seine Arbeiten geschrieben?
Dem Sohn des grotesken Tyrannen, der unter seinen Uniformen fast zusammenbricht,
aber nur fast, wie die geschnitzten Balkone der Kitzbüheler Bauernvillen.
Wie schnittig und leicht doch so ein Rennanzug dagegen ist! Nur gehen
da nicht so viele Orden drauf. Da tanzen jetzt welche, andre fressen,
wieder andre kreisen schwindelerregend um sich, und die Welt dreht sich
auch um sie, sie läßt in ihrer wilden Drehung öfter was
fallen, reißt öfter was ein, macht vieles kaputt, aber wer
läßt sich davon schon beeindrucken? Die Welt ist, wie sie eben
ist. Alles ist, wie es eben ist. Ein junger Tyrann liefert sich einem
alten aus, was wäre er denn sonst? Sonst wäre er ein Nichts,
einer, der in allen andren das Nichts sieht (und alle anderen so behandelt),
das er selber ist. Niemand weiß es, niemand weiß etwas. Wer
kann es schon wissen, daß Saif einen Monat später sein Volk
kaputtschlagen lassen wird, alle Gegner ausrotten, die er Terroristen
nennt, damit sind sie schon zum Abschuß freigegeben. Wir sind aber
jetzt noch in Kitz, nein, wir sind schon drüber hinaus, wir sind
schon beim Morden, beim Reaktorbrennen, bei der Mörderflut. Wir sind
schon weiter. Wir sind schon weitergekommen. Das Ungeheuer Saif bleibt
dahinter zurück, aber es reicht trotzdem noch zur Vernichtung, da
gehört ja nicht viel dazu. Aber erst mal gehört er nach Kitz,
wo alle sind, außer uns, für uns bleiben die Restwärme
und der Restalkohol vom Vortag. Kitz: Dort sind die, die einfach dazugehören,
was sicher nicht einfach ist. Kitz. Wo es sich bedeutungsvoll abspielt,
doch die Bedeutung weiß noch nichts von sich, sie wird erst einen
Monat später verstehen, was sie ist und von wem und für wen.
Dann wird das Zeitliche gesegnet werden, von vielen, doch erst mal segnet
der Herr Pfarrer die Weißwürst und die schwer Verliebten, kurzum
alle, die es mit sich, aber nicht mit anderen, recht schwer haben.

danke, "news" vom 27.1. 2011!
Bilder aus: News und Die Presse
15.3.2001
Um die goldene Gams © 2011 Elfriede Jelinek

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